Die ästhetische Kritik der Ethik

in Theodor W. Adornos "Minima Moralia"

von Andreas Mertin


IV - ZUR ROLLE DES ÄSTHETISCHEN IN DEN "MINIMA MORALIA"

Musik, Literatur und bildende Kunst kommen in den "Minima Moralia" unter verschiedenen Aspekten vor. Viele Motive der Kritik der Moral bzw. moralischen Verhaltens entnimmt Adorno verschiedenen Werken aus der Geschichte der Künste, etwa wenn er den "Takt" am Beispiel von Goethes Novellen der Wanderjahre oder an Beethovens Kompositionen erläutert, den Geiz und die Berechnung anhand von Molières "Le nouvel avare" beschreibt oder auch das Verhältnis von Phantasie und Armut an Theodor Storms "Pole Popenspäler" einsichtig macht. Diese Form heuristischer Kunstbetrachtung im Sinne der Exploration ethisch-moralischer Motive soll im folgenden nicht im Vordergrund stehen, im Zentrum steht vielmehr die explizite Thematisierung des Ästhetischen sowie einzelner Motive, die dieses auszeichnen. Ich möchte die Auseinandersetzung mit dem Ästhetischen in den "Minima Moralia" so angehen, dass ich zunächst frage, was den Einsatz bei der Ästhetik für Adorno zwingend macht und welche Kunst Adorno überhaupt im Blick hat. Im nächsten Schritt will ich mich konkreten Konstellationen zuwenden, in denen das Ästhetische bei Adorno auftaucht.

1 - Das Ethos des Ästhetischen

"Dialektisches Denken ist der Versuch, den Zwangscharakter der Logik mit deren eigenen Mitteln zu durchbrechen. Aber indem es dieser Mittel sich bedienen muss, steht es in jedem Augenblick in der Gefahr, dem Zwangscharakter selber zu verfallen" (MM 98). Mit diesen Worten ist ein Problem bezeichnet, das Adorno letztlich zum Übergang in die Ästhetik nötigt. Gesucht wird die dem selbstgewissen philosophischen Begriff entgangene Wirklichkeit, das im identifizierenden Denken nicht Aufgehende, das Nicht-Identische. Der diskursive Zugriff bedarf eines Komplements, das selber nicht-diskursiv ist. Zugleich wird ein Medium benötigt, das erlaubt, den Lebens- und Erkenntniszusammenhang als Ganzen negativ zu qualifizieren. Und schließlich ist ein Bereich gesucht, der sich durch die Zuwendung zum Einzelnen, zum Besonderen auszeichnet so wird die Kunsterfahrung zur Legitimationsbasis von Philosophie.

In zahlreichen Formulierungsvarianten kommt dieser Gedanke in den "Minima Moralia" zur Sprache: "Ausdruck negiert die Realität, indem er ihr vorhält, was ihr nicht gleicht, aber er verleugnet sie nicht ... Das Pathos von Kunst haftet daran, dass sie, gerade durch Zurücktreten in die Imagination, der Übermacht der Realität das Ihre gibt, und doch nicht zur Anpassung resigniert, nicht die Gewalt des Auswendigen, in der Deformation des Inwendigen fortsetzt" (MM 136 vgl. auch MM 48 und 98). Kunstwahrnehmung ist subjektiv, aber nicht nur subjektiv. "Wer jemals aus der Kraft seines präzisen Reagierens im Ernst der Disziplin eines Kunstwerks, dessen immanentem Formgesetz, dem Zwang seiner Gestaltung sich unterwirft, dem zergeht der Vorbehalt des bloß Subjektiven seiner Erfahrung wie ein armseliger Schein, und jeder Schritt, dem er vermöge seiner extrem subjektiven Innervation in die Sache hinein macht, hat unvergleichlich viel größere objektive Gewalt als die umfassenden und wohlbestätigten Begriffsbildungen etwa des 'Stils', deren wissenschaftlicher Anspruch auf Kosten solcher Erfahrung geht" (MM 43).

2 - Welche Kunst meint Adorno?

Wenn als einsichtig gelten kann, dass in den "Minima Moralia" Kunst kritisch in Anspruch genommen wird, dann ist zu fragen, welche Kunst dazu herangezogen wird. Ein Blick auf die in den "Minima Moralia" namentlich erwähnten Künstler zeigt, dass bildende Künstler und, was weit überraschender ist, Musiker bzw. Komponisten so gut wie keine Rolle spielen, der eindeutige Schwerpunkt liegt bei den Schriftstellern. Dies zeigt, dass es Adorno in den "Minima Moralia" weniger um einen expliziten Begriff der Kunst, als vielmehr um eine bestimmte Konstellation der Kunstwerke zur Ethik bzw. Moral geht. So heißt es im Aphorismus 143: "Vielleicht ist der strenge und reine Begriff von Kunst überhaupt nur der Musik zu entnehmen, während große Dichtung und große Malerei - gerade die große - notwendig ein Stoffliches, den ästhetischen Bannkreis Überschreitendes, nicht in die Autonomie der Form Aufgelöstes mit sich führt". Es sieht so aus, als ob gerade jenes außerästhetische Substrat, der Stoff bzw. das Sediment gesellschaftlicher Vermittlung in den Werken, an vielen Stellen den Einsatzpunkt der Adornoschen Überlegungen zur Moral bzw. Ethik markiert.

Soweit Adorno sich namentlich auf bildende Künstler[1] bezieht, werden sie eher beiläufig erwähnt. Daumier, Doré sind Maler auf der Grenze zur Illustration mit starkem satirisch-sozialkritischem Einschlag, sie arbeiten vor allem als Karikaturisten und werden von Adorno in dieser Eigenschaft gewürdigt. Grünewald und van Gogh werden ausschließlich unter dem Aspekt ihrer Rezeption thematisiert, der eine im Blick auf seine "deutsche" Renaissance zu Beginn dieses Jahrhunderts, der andere als kulturindustriell zugerichteter Prototyp von Kulturgütern. Lediglich Zille wird explizit Gegenstand der Kritik in einem, allerdings auf einen Satz beschränkten Aphorismus. Schaut man sich die überschäumende Fülle von Avantgarde-Kunst in den ersten 40 Jahren dieses Jahrhunderts an, die unterschiedlichen Entwicklungen vom Fauvismus über Kubismus, Konstruktivismus, Abstraktion bis zum Ready-Made, muss diese Enthaltsamkeit befremden. Aber auch jene kunstimmanenten Entwicklungen, die sich etwa in der Malerei Picassos nach 1917 abzeichnen und die Adornos Verhältnis zur Moderne direkt berühren[2], spielen in den "Minima Moralia" keine Rolle.

Auch bezüglich der Komponisten[3] steht es nicht besser. Zwar werden dreizehn namentlich benannt, aber nicht unbedingt in ihrer Eigenschaft als Musiker. So dienen einige nur als Zeitangabe, von anderen werden nur Texte oder Äußerungen zitiert, wieder andere im Blick auf ihre Rezeption betrachtet. Jedoch werden Beethoven, Satie, Strauß, Strawinsky und Wagner in ihrem Schaffen vor allem unter gesellschaftskritischen Aspekten explizit thematisiert. So wird z.B. im Aphorismus über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ("Monade", MM 97) die gesellschaftliche Präfigurierung des Individuums dargelegt. Dabei dient Beethovens Musik als Beispiel für eine gegenüber dem privaten Gefühlsausdruck asketische und gerade dadurch individuell gelungene Musik, während die Musik von R. Strauß ganz auf das Individuum setze und damit zum "bloßen Rezeptionsorgan des Marktes" verkomme. Insgesamt lässt sich jedoch nicht sagen, dass in den "Minima Moralia" die Musik so im Vordergrund stünde, wie das für andere Schriften Adornos gelten kann[4], vielmehr spielt die explizite Thematisierung bestimmter Künstler eine eher untergeordnete Rolle.

In der Hauptsache widmet Adorno sein Augenmerk in den "Minima Moralia", wenn man von der Philosophie[5] und vor allem von einigen philosophisch-literarischen Grenzgängern wie Kierkegaard und Nietzsche absieht, den Schriftstellern und ihren Werken[6]. Im Vordergrund stehen dabei neben den "Klassikern" Goethe und Schiller vor allem Marcel Proust, Henrik Ibsen, Franz Kafka und Karl Kraus. Neben Franz Kafka[7] dient dabei Marcel Proust wie später einmal Samuel Beckett[8] als Kronzeuge eines Verfahrens, das durch die Insistenz aufs Besondere das Ganze kritisch befragt.[9] Zeitgenössische Literatur im Sinne neuester Werke berücksichtigt Adorno allenfalls in kritischen Marginalien. Von den am häufigsten zitierten Schriftstellern lebt zur Zeit der Abfassung der "Minima Moralia" keiner mehr. So liegt der zeitliche Schwerpunkt der erwähnten Künstler in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dennoch lässt sich nicht sagen, dass Adorno seine Orientierung im wesentlichen aus der klassischen Moderne gewonnen habe.[10] Es sind jedoch die allgemeiner gehaltenen Formulierungen der "Minima Moralia", die gerade im Zuge der Entfaltung der Kunst nach der klassischen Moderne bedeutsam geworden sind. Dies gilt es im folgenden aufzuzeigen.

3 - Überlegungen zum Naturschönen

Reflexionen zum Naturschönen, die einen konstitutiven Bestandteil der "Ästhetischen Theorie" ausmachen, fehlen in den "Minima Moralia". Nur am Rande blitzt die Bedeutung des Naturschönen auf, etwa wenn Adorno auf die Hagenbeckschen Anlagen zu sprechen kommt (MM 74) oder auf die mißlungene Adaption eines Sonnenaufgangs in der Musik von Richard Strauß hinweist (MM 72). Die Konstellation, in die das Naturschöne bei Adorno eintritt, ist jedoch in den "Minima Moralia" vorausgesetzt.

Ich komme noch einmal auf den bereits oben thematisierten Aphorismus 5 zurück. In Verbindung mit entsprechenden Formulierungen in der "Ästhetischen Theorie" kann jetzt Adornos Argument im Blick auf das Naturschöne rekonstruiert werden. Auszugehen ist davon, dass der Satz über das Blühen des Baumes eine Reaktion auf einen entsprechenden Vers aus Bertolt Brechts Gedicht "An die Nachgeborenen"[11] darstellt:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Adorno überbietet Brechts Position. Nicht nur das Gespräch über Bäume, nicht allein das Schweigen über die Untaten, sondern bereits die sich im Wort artikulierende spontane Reaktion auf das Naturschöne wird zum Moment gesellschaftlicher Unwahrheit: Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt noch das unschuldige Wie schön wird zur Ausrede für die Schmach des Daseins, das anders ist, und es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält. Die Schönheit der Natur geht einem überraschend, in "Bewusstloser Wahrnehmung" auf, aber sie darf nicht affirmativ, als "erreichter Stand der Versöhnung" festgehalten werden. "Das Wort 'wie schön' in einer Landschaft verletzt deren stumme Sprache und mindert ihre Schönheit erscheinende Natur will Schweigen, während es jenen, der ihrer Erfahrung fähig ist, zum Wort drängt ... Jenes 'O wie schön' ... ist der gespannten Konzentration im Angesicht von Kunstwerken gemäß, nicht der Natur" (ÄT 108).[12] Naturerfahrung hat ihre Grenze in der Sprache, will sie zum Ausdruck kommen, geht sie in Kunsterfahrung über: "Ist die Sprache der Natur stumm, so trachtet Kunst, das Stumme zum Sprechen zu bringen" (ÄT 121).

4 - Momente des Kunstschönen

Wie für die ethischen Motivkreise, so gilt auch für die Behandlung einzelner Momente des Kunstschönen, dass sie vielfach ineinander verwoben sind und nur gewaltsam getrennt werden können. Von diesen Momenten des Kunstschönen in den "Minima Moralia" erörtere ich im folgenden das magische Erbe der Kunst, das als Schnittstelle zum Naturschönen bezeichnet werden kann, sodann den damit zusammenhängenden mimetischen Gehalt der Kunstwerke und die mimetische Reaktion der Betrachter, die ästhetische Erfahrung im Angesicht der Kunst, ihre Stellung im Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem, die gesellschaftlichen Momente der Kunst, die Funktionalisierungen und Funktionszuschreibungen, die ihr gegenüber vorgenommen werden (Escape und Message), schließlich das Neue als Idee der Moderne. Andere Momente werden dagegen nur am Rande berührt, wie etwa die Auseinandersetzung mit dem Realismus und dem Naturalismus oder die diversen Thematisierungen des Films.

5 - Magie - Zauber - Nachahmung - Mimesis

In der "Dialektik der Aufklärung" hatten Horkheimer und Adorno sowohl die Abkunft der Kunst aus der Magie ("Der Schamane bannt das Gefährliche durch dessen Bild" [DA 22]) wie ihre fortdauernde Verbindung mit dieser und der Zauberei dargelegt, eine Verbindung, die sich als strukturelle Ähnlichkeit von Sakralität und Autonomie - ihre Differenz zur Profanität - fassen lässt. Magie ist der Versuch, die als übermächtig erfahrene Natur zu beherrschen ihr gilt das Bild mit der Sache noch verwandt, sie versucht daher, über das mimetische Bild, Einfluss auf die Sache zu gewinnen, Herrschaft auszuüben.

"Das Kunstwerk hat es noch mit der Zauberei gemeinsam, einen eigenen, in sich abgeschlossenen Bereich zu setzen, der dem Zusammenhang des profanen Daseins entrückt ist. In ihm herrschen besondere Gesetze. Wie der Zauberer als erstes bei der Zeremonie den Ort, in dem die heiligen Kräfte spielen sollen, gegen alle Umwelt eingrenzte, so zeichnet mit jedem Kunstwerk dessen Umkreis geschlossen vom Wirklichen sich ab. Gerade der Verzicht auf Einwirkung, durch welchen Kunst von der magischen Sympathie sich scheidet, hält das magische Erbe um so tiefer fest ... Es liegt im Sinn des Kunstwerks, dem ästhetischen Schein, das zu sein, wozu in jenem Zauber des Primitiven das neue, schreckliche Geschehnis wurde: Erscheinung des Ganzen im Besonderen. Im Kunstwerk wird immer noch einmal die Verdoppelung vollzogen, durch die das Ding als Geistiges, als Äußerung des Mana erschien. Das macht seine Aura aus" (DA 25).

Diese Gedanken greift Adorno im dritten Teil der "Minima Moralia" auf und zwar insbesondere in den Aphorismen MM 143 (In nuce), 144 (Zauberflöte) und 145 (Kunstfigur).

MM 143 (In nuce[13]) ist eine Sammlung von Sentenzen, die um Fragen der Ästhetik und der Kunst kreisen.[14] Direkt auf die Magie zu sprechen kommt Adorno mit dem knappen Satz "Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein". Hier geht es in komprimierter Form um das magische Erbe der Kunst, den ästhetischen Schein und die Frage der Wahrheit der Kunst. Kunst ist durch ihren Bild-Charakter mit der Magie verbunden, auch Kunst stellt eine Verdoppelung der Realität dar. Aber Kunst ist von ihrer magischen Abkunft dadurch getrennt, dass sie darauf verzichtet, Herrschaft auszuüben, sie ist mimetisch, ohne instrumentell zu sein. Das macht sie in einem veränderten Sinne wahr. Kunst kann bei Adorno "Wahrheit" zugeschrieben werden, gerade weil sie nicht als Wahrheit auftritt, sondern als Schein präsent ist: "Die Kunst ist im allgemeinen Verblendungszusammenhang die einzige Bastion, die sich dem Geschäft der Täuschung nicht fügt. An ihr zerbricht der Schein, weil sie selber Schein ist. Der Bewusste Schein der ästhetischen Phänomene kann allein dem falschen Bewusstsein der verdinglichten Abstraktion Widerstand bieten, denn der ästhetische Schein ist in seinem Wesen nicht wegzuleugnen. Er zeigt was er ist, und lässt sich daher nicht wie der Schein des Fetischismus als falsche Substantialität hinnehmen."[15]

Im Aphorismus 144 behandelt Adorno das "Moment von Aufklärung in der Genesis des Schönen". Adorno unternimmt dabei eine geschichtliche Herleitung des "uninteressierten Wohlgefallens", das nach Kant die Kunstwerke erregen. Keinesfalls sei das uninteressierte Wohlgefallen in der Wahl der betrachteten Objekte frei, vielmehr reagiere es unterschwellig auf seine Vorgeschichte, es könne nur "kraft einer historischen Antithetik verstanden werden, die in jedem ästhetischen Objekt nachzittert". Ursprünglich sei das nun mit uninteressiertem Wohlgefallen Betrachtete von äußerstem Interesse gewesen, wie etwa Edelsteine und Gold zeigen, die wegen ihrer Schönheit magisch verehrt wurden. Die Instrumentalisierung dieses ästhetisch/magischen Scheins war ein erster Schritt zur Naturbeherrschung. Aufklärung zerstört nun zwar den magischen Anspruch der Dinge, aber das magische Erbe bleibt, "auch nachdem sein herrschaftlicher Anspruch durchschaut war". Interesseloses Wohlgefallen ist (nur) ein "Triumph aufgeklärter Selbstdisziplin", die Kontemplation des Kunstwerk Erbe und Überwindung "fetischistischer Anbetung". Mit dem Verzicht auf den instrumentellen Zugriff, der die Magie noch charakterisiert, werden die Kunstwerke zur promesse du bonheur: "Indem die aufleuchtenden Dinge ihres magischen Anspruchs sich begeben, gleichsam auf die Gewalt verzichten, die das Subjekt ihnen zutraute und mit ihrer Hilfe selbst auszuüben gedachte, wandeln sie sich zu Bildern des Gewaltlosen, zum Versprechen eines Glücks, das von der Herrschaft über Natur genas".[16] Gerade jenes Moment, das Magie und Kunst trennt - der ästhetische Schein -, macht die Kunst zum Modell eines nicht an der Herrschaft orientierten Verhaltens gegenüber der Natur. "Die Seligkeit von Betrachtung besteht im entzauberten Zauber. Was aufleuchtet, ist die Versöhnung des Mythos".[17]

Einem gemeinsamen Moment von Kitsch, Kunst und Magie wendet sich der Aphorismus 145 zu: der Nachahmung[18]. Adorno vermutet, die Empörung über den Kitsch entstehe aus der Wut darüber, dass der Kitsch "schamlos im Glück der Nachahmung schwelgt, die mittlerweile vom Tabu ereilt ward, während die Kraft der Kunstwerke stets noch von Nachahmung gespeist wird". Magie ist Mimesis aus Schrecken und zugleich der Versuch, das Schreckliche als Bild zu beherrschen. Kitsch dagegen ist triumphale Mimesis, der Stolz auf die (Machbarkeit der) Nachahmung er spricht damit zugleich eine Wahrheit und eine Erinnerung an das magische Erbe der Kunst aus, denn avancierte Kunst möchte - idiosynkratisch gegen bloße Nachahmung - als nicht gemacht und damit auch nicht nach-gemacht erscheinen. Kants Beschreibung der "Zweckmäßigkeit ohne Zweck", die das Ästhetische charakterisiere, ist der "unauflösliche Widerspruch" und "das Lebenselement" der Kunst: insoweit sie zwecklos ist, "dementiert sie die Totalität des Zweckmäßigen in der Welt der Herrschaft" (MM 144), insoweit sie gemacht ist, kann sie "der Frage des Wozu nicht entgehen, deren Negation gerade ihr Zweck ist." In der Kunst kommt der Konflikt von Mimesis und Rationalität unmittelbar zum Austrag. Damit nimmt Adorno Bezug auf Kants Ausführungen zum Verhältnis von Kunstschönem und Naturschönem in der Kritik der Urteilskraft: "Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint" und "An einem Produkte der schönen Kunst muss man sich Bewusst werden, dass es Kunst sei und nicht Natur aber doch muss die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei"[19].

Wie ist dieses Verhältnis von Kunst, Natur und Mimesis zu begreifen? Kunstwerke sind keine Mimesis der Natur, sie sind überhaupt keine Nachahmung eines ihnen Vorgängigen. Sind sie dennoch mimetisch, so sind sie es zu sich selbst. Diese "Selbst-Gleichheit der Kunst" provoziert mimetisches Verhalten sowohl des Künstlers wie des Rezipienten: "Wenn Kunstwerke ... sich selbst gleich sind, dann lässt sich diese Sichselbstgleichheit nur mimetisch fassen ... Große Kunstwerke ähneln der Natur sie sind identifikationslos, intentionslos und daher selbstgenügsam"[20]. Ästhetische Erfahrung wird so, da mimetisches Verhalten gegenüber der Natur historisch überholt und von Rationalität abgelöst wurde, zur "Zuflucht des mimetischen Verhaltens" (ÄT 86).

6 - Ästhetische Erfahrung im Angesicht der Kunst

Ästhetische Erfahrung ist bei Adorno ambivalent gefasst, im späteren Werk stärker noch als in den "Minima Moralia".[21] Adorno kommt es vor allem darauf an, den "Vorrang des Objekts" in der ästhetischen Erfahrung einsichtig zu machen[22]. Deutlich wird dies u.a. im Aphorismus MM 43. Behandelt wird hier der gängige Vorwurf, eine Aussage sei "zu subjektiv". Darauf antwortet Adorno nicht mit einer Verteidigung der Subjektivität, sondern mit der These, dass sich die Begriffe des Subjektiven und Objektiven verkehrt hätten. Als Beispiel für das Eintreten in die Sache, das Durchbrechen der objektiven Fassade, nennt Adorno das ästhetische Urteil:

"Wer jemals aus der Kraft seines präzisen Reagierens im Ernst der Disziplin eines Kunstwerks, dessen immanentem Formgesetz, dem Zwang seiner Gestaltung sich unterwirft, dem zergeht der Vorbehalt des bloß Subjektiven seiner Erfahrung wie ein armseliger Schein, und jeder Schritt, den er vermöge seiner extrem subjektiven Innervation in die Sache hineinmacht, hat unvergleichlich viel größere objektive Gewalt als die umfassenden und wohlbestätigten Begriffsbildungen etwa des 'Stils', deren wissenschaftlicher Anspruch auf Kosten solcher Erfahrung geht."

In diesem Satz sind einige Grundannahmen über das Verhältnis von Rezipient und Kunstwerk konzentriert. Zunächst enthält er den - keineswegs selbstverständlichen - Gedanken der Vorgängigkeit des Kunstwerks[23] und der mimetischen Reaktion des Betrachters ("wer jemals aus der Kraft seines präzisen Reagierens ... der Disziplin eines Kunstwerks sich unterwirft") d.h. der Rezipient agiert weniger, als dass er sich der Vorgabe des Werks anpasst. Freilich besteht die Notwendigkeit einer wie auch immer zu fassenden ästhetischen Disposition des Rezipienten ("vermöge seiner extrem subjektiven Innervation"[24]) d.h. man muss über ein entsprechendes "Gefädel" (MM 95) ästhetischer Nerven verfügen, die in der Lage sind, auf das Werk "präzise" zu reagieren. Erst dann kann davon ausgegangen werden, dass der so disponierten ästhetischen Urteilskraft Objektivität zukomme ("viel größere objektive Gewalt als die ... wohlbestätigten Begriffsbildungen"). Käme es dagegen nur auf die Subjektivität des Rezipienten an, verzichtete man also auf den der Kunst immanenten Anspruch auf Objektivität, so "wäre Kunst nichts als ein mehr oder minder organisiertes System von Reizen" (ÄT 394). Damit wird freilich die Mehrzahl der "normalen" Rezipienten aus der Kunstwahrnehmung ausgeschlossen. Ästhetische Urteilskraft in diesem Sinne kommt nur wenigen zu. Darüber hinaus weicht Adornos Beschreibung der "Leistung" des Kunstwerks als einem Objekt, dem man sich mimetisch unterwerfen muss und das mit dem ästhetischen Sensorium des Betrachters korrespondiert, von der populären Erwartungshaltung bezüglich dessen ab, was ein Kunstwerk zu leisten habe.

Eine derartige gängige Erwartung skizziert Adorno im Aphorismus 139. Dieser handelt von der verbreiteten Äußerung gegenüber Kunstwerken, 'dieses Werk gebe einem nichts'. Adorno vermutet dahinter den Versuch, der Wahrheit des Kunstwerks zu entgehen. Indem man sich klein mache und alle Verantwortung dem Kunstwerk selbst zuschiebe, "partizipiert man am mächtigen Unisono der vox inhumana populi, an der richtenden Gewalt des petrifizierten Zeitgeistes." Statt sich über die Radikalität des anstößigen Werkes zu erregen, nivelliert man die Provokation "zur bemitleidenswerten Narretei". Adorno vermutet, dass die Rezipienten dennoch sehr wohl begreifen, was sie da sehen, denn: "Die großen Kunstwerke und philosophischen Konstruktionen sind nicht um ihrer allzu großen Distanz vom Kern der menschlichen Erfahrung, sondern um des Gegenteils willen unverstanden geblieben, und das Unverständnis selber ließe leicht genug auf allzu großes Verständnis sich zurückführen: Scham über die Teilhabe am universalen Unrecht, die übermächtig würde, sobald man zu verstehen sich gestattete" (MM 96). Eine Voraussetzung der 'Beziehung' zu einem Kunstwerk, so fährt Adorno im Aphorismus 139 fort, sei aber die Bereitschaft, dem Kunstwerk selbst etwas zu geben: Phantasie. Aber nicht nur ein ästhetisches Sensorium ist die Voraussetzung für das Verstehen des Kunstwerks, sondern auch das, was Pierre Bourdieu das "kulturelle Kapital" nennt, d.h. die Bereitschaft, sich auf den (geschichtlich überlieferten) Diskurs Kunst, die Tradition, der er entspringt, einzulassen:

"Der von den Ästhetikern verbreitete Glaube, das Kunstwerk wäre, als Gegenstand unmittelbarer Anschauung, rein aus sich heraus zu verstehen, ist nicht stichhaltig. Er hat seine Grenze keineswegs bloß an den kulturellen Voraussetzungen eines Gebildes, seiner 'Sprache', der nur der Eingeweihte folgen kann. Sondern selbst wo keine Schwierigkeiten solcher Art im Wege sind, verlangt das Kunstwerk mehr, als dass man ihm sich überlässt. Wer die Fledermaus schön finden will, der muss wissen, dass es die Fledermaus ist: ihm muss die Mutter (sic!) erklärt haben, dass es nicht um das geflügelte Tier, sondern um ein Maskenkostüm sich handelt er muss sich daran erinnern, dass ihm gesagt ward morgen darfst du in die Fledermaus. In der Tradition stehen hieß: das Kunstwerk als ein bestätigtes, geltendes erfahren in ihm teilhaben an den Reaktionen all derer, die es zuvor sahen. Fällt das einmal fort, so liegt das Werk in seiner Blöße und Fehlbarkeit zutage. Die Handlung wird aus einem Ritual zur Idiotie, die Musik aus einem Kanon sinnvoller Wendungen schal und abgestanden. Es ist wirklich nicht mehr so schön. Daraus zieht die Massenkultur ihr Recht zur Adaptation. Die Schwäche aller traditionellen Kultur außerhalb ihrer Tradition liefert den Vorwand, sie zu verbessern und damit barbarisch zu verschandeln" (MM 143).

Auf welche Art und Weise die Kulturindustrie die Kultur zerstört, zeigen andere Aphorismen. Ein Mechanismus ist die Konventionalisierung. Indem den Menschen ein fertiger, rezitierbarer Begriffsapparat geliefert wird, der reflexionslos auf die Phänomene anwendbar ist, erspart man ihm die Auseinandersetzung mit der Sache. So wird schließlich, wie Adorno am Beispiel der Psychoanalyse zeigt, die Erfahrungsfähigkeit der Menschen zerstört. Kulturindustrie, die organisierte Pseudo-Erfahrung des Menschen, verstellt "die letzte Möglichkeit ihrer (scil. der Erfahrung) selbst ... Die fertig gelieferte Aufklärung verwandelt nicht nur die spontane Reflexion, sondern auch die analytischen Einsichten, deren Kraft gleich ist der Energie und dem Leiden, womit sie errungen werden, in Massenprodukte und die schmerzlichen Geheimnisse der individuellen Geschichte ... in geläufige Konventionen" (MM 40).

Selbst die Flucht in den Luxus, die gewollte Differenz zum Rest der Gesellschaft, wird durch die Entwicklung der Technik verstellt. Das Besondere, das der Luxus sein will, wird zum allgemein Erreichbaren, seine Differenzqualitäten werden aufgelöst. Daher konvergieren aktuell, "die Linien des avancierten Geschmacks ... in der Askese" (MM 77). Das gewaltsam Zwecklose ist anti-ästhetisch, weil ihm der Makel der Gewalt und damit auch der Intention anhaftet. "Was an Schönem unterm Grauen noch gedeiht, ist Hohn und hässlich bei sich selber. Dennoch steht seine ephemere Gestalt für die Vermeidbarkeit des Grauens ein. Etwas von dieser Paradoxie liegt auf dem Grunde aller Kunst heute kommt sie daran zutage, dass Kunst überhaupt noch existiert. Die festgehaltene Idee des Schönen verlangt, Glück zu verwerfen zugleich und zu behaupten" (MM 77). So summiert der Aphorismus 30: "Fortschritt und Barbarei sind heute als Massenkultur so verfilzt, dass einzig barbarische Askese gegen diese und den Fortschritt der Mittel das Unbarbarische wieder herzustellen vermöchte. Kein Kunstwerk, kein Gedanke hat eine Chance zu überleben, dem nicht die Absage an den falschen Reichtum und die erstklassige Produktion, an Farbenfilm und Fernsehen, an Millionärmagazine und Toscanini innewohnt." Hier ist bereits die freiwillige Verarmung der Kunst, ihr selbstauferlegtes Verstummen thematisch, das später als Ideal des Schwarzen in der "Ästhetischen Theorie" eine Rolle spielen wird.[25]

Ästhetische Erfahrung, soviel wird deutlich, besteht nicht im Genuss[26] des Kunstwerks, sie ist vielmehr eher als Moment von Arbeit zu beschreiben. Während der Bürger Arbeit und Vergnügen trennt und die Kultur in den Feierabend verlegt und damit zugleich Kunst als Kompensation[27] nutzt und zur Kompensation degradiert, ist für den Intellektuellen Arbeit und Lust verknüpft: "Einzig listige Verschränkung von Glück und Arbeit lässt unterm Druck der Gesellschaft eigentliche Erfahrung noch offen" (MM 84). Fasst man die Ausführungen Adornos zur ästhetischen Erfahrung zusammen, so ist vor allem der Vorrang des Objekts festzuhalten. Der Betrachter reagiert auf das Kunstwerk in einer Art und Weise, die mimetisch zu nennen ist. Dieses Zusammenspiel von (ästhetisch qualifiziertem) Betrachter und Kunstwerk ist so intensiv und produktiv, dass ihm Objektivität zukommt. An den Betrachter werden hohe Anforderungen gestellt: ästhetische Erfahrung setzt die Einbindung in die kulturelle Tradition voraus, sie bedingt ein ästhetisches Sensorium und die Abkehr von der Vorstellung, Kunstwerke könnten quasi passiv verbraucht werden. Gegen diese Form ästhetischer Erfahrungsarbeit wirkt die Kulturindustrie durch Konventionalisierung, Nivellierung und Verzweckung der Kunst im Interesse der Arbeit.

7 - Escape und Message

Im folgenden geht es um ein Problem, das Adorno in den "Minima Moralia" immer wieder beschäftigt, nämlich die Dialektik von escape und message in allen Lebensbereichen, von Ästhetizismus und Engagement im Bereich der Kunst oder von Distanz und Betriebsamkeit als möglichen Formen der Lebenshaltung des Intellektuellen. Bedeutsam sind Adornos Ausführungen für die Betrachtungen zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik deshalb, weil beide, escape und message, philosophiehistorisch je für einen anderen Bereich in Anspruch genommen worden sind: message für die Ethik, die Moral oder das soziale Engagement, escape für den Elfenbeinturm der Wissenschaft, die Ästhetik oder den Ästhetizismus. Wenn an dieser Stelle deutlich wird, wie Adorno beides konstelliert, darf man Aufklärungen auch für die grundsätzliche Konstellation von Ethik und Ästhetik in der Theorie Adornos erwarten.

Explizit thematisch werden escape und message unter dem programmatischen Titel "Grau und Grau" im Aphorismus 130, der von den durch die Filmindustrie produzierten Werken seinen Ausgang nimmt.

Ansatzpunkt von Adornos Kritik sind sog. "escape-Filme", also Filme, die mittels synthetischer Traumwelten "zur Flucht aus dem Alltag" verhelfen sollen. Sie genügen, so lautet Adornos Einwand, keinesfalls ihrem Begriff, sie sind viel zu wenig escape, vielmehr sind sie dem Betrieb stets gerade soweit verbunden bzw. gerade so weit distanziert, um ihn zu affirmieren. Diese Art des escape ist voller message. Im Gegenzug wird in den Filmen mit message diese zu einem Ausstattungsstück aus dem Fundus, der Film mit Botschaft ist ein "escape-Film" mit angereichertem Ideal: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Daher ist der Film mit Botschaft ebenso affirmativ wie die synthetische Traumwelt: "Der praktische Geist des message, die handfeste Demonstration dessen, wie es besser zu machen sei, paktiert mit dem System in der Fiktion, dass ein gesamtgesellschaftliches Subjekt ... alles in Ordnung bringen kann, wenn man nur jeweils sich zusammensetzt und über die Wurzel des Übels ins Reine kommt." Auf diese Weise wird message zum escape.

Implizit enthalten Adornos Ausführungen Kriterien für eine vernünftige Verhältnisbestimmung von escape und message. So wäre escape ein Spiel, das "in der herrschenden Praxis nicht mitspielt", weshalb es sich die Kritik des "alteingesessenen Ethos" zuzieht. Escape wäre Distanzierung zur Kritik und nicht zur Affirmation "empiristischer Lebensführung", escape wäre, "der bildgewordene Widerwille gegen das Ganze bis in die formalen Konstituentien hinein" und würde gerade dadurch implizit zur Botschaft. Auf die Kunst angewendet hieße dies, dass gerade die hartnäckige Askese gegen jede Form von inhaltlicher Botschaft, von der Intention, auf die soziale Wirklichkeit einzuwirken, Konsequenzen für diese hätte. Ethisch relevant und sozial wirksam wird Kunst, gerade indem sie sich von allen automatisierenden Verstehens- und Handlungsvollzügen des Alltags abwendet und autonom wird.

Damit gerät Kunst in die Nähe des Ästhetizismus. Ästhetizismus als habituelles escape ist, wie Adorno im Aphorismus 58 ausführt, der historischen Genese nach Reaktion auf soziale Konflikte, vor allem aber auch auf die sich ausbildende bürgerliche Moral, der man nicht genügte und die man daher verwarf. Der ästhetizistische "Aufruhr des Schönen gegen das bürgerlich Gute" war aber auch "ein Aufruhr gegen die Güte" als bürgerliche Deformation des Guten zur privaten Gesinnung: "Der Verstoß gegen Geschmack und Rücksicht, von dem keine gütige Handlung sich freihält, vollzieht die Nivellierung, der die ohnmächtige Utopie des Schönen sich widersetzt". Das ästhetizistische Bekenntnis zum Bösen wird "zur Maske des Guten". Das ästhetizistische Schöne "steht gegen die Moral ... es verstockt sich gegen jegliches Allgemeines und setzt die Differenzbestimmung des bloßen Daseins absolut, den Zufall, der das Eine geraten ließ und das Andere nicht. Im Schönen behauptet das undurchsichtig Besondere sich als Norm, als einzig Allgemeines, weil die normale Allgemeinheit allzu durchsichtig geworden ist" (MM 58).

Adorno variiert das Thema noch mehrfach in den "Minima Moralia". Im Aphorismus 93 geht es um das Thema Realismus im Film. Wahrer Realismus angesichts des technisch Möglichen "würde jeglichen Sinnzusammenhang an der Oberfläche auflösen und in den äußersten Gegensatz zum vertrauten Realismus geraten. Der Film würde in den assoziativen Strom der Bilder übergehen und seine Form einzig als deren, immanente Konstruktion empfangen". D.h. ein derartiger Realismus wäre intentionslos, er würde sich mimetisch zur Realität verhalten. Tatsächlich scheitert der Film jedoch am Realismus und der Grund seines Scheiterns ist der Wunsch nach Deutlichkeit, das Bestreben, das Intendierte an den Konsumenten zu bringen, ihm klar zu machen, dass es im Abgefilmten um Realität geht: "Deutliche Gestaltung ... gibt dem Konsum nach ... Wahre Intentionen wären möglich erst beim Verzicht auf die Intention".

Ähnlich argumentiert Adorno im Aphorismus 146. Hier geht es um das Interesse, das alle Wahrnehmungen verunstaltet: "das, worin nicht mehr das Licht der eigenen Bestimmung als 'Lust an der Sache' leuchtet, verblasst dem Auge. Die Organe fassen kein Sinnliches isoliert auf, sondern merken der Farbe, dem Ton, der Bewegung an, ob sie für sich da ist oder für ein anderes ... Erst die von Aneignung gereinigten Dinge wären bunt und nützlich zugleich". Kinder dagegen begreifen den "Widerspruch zwischen dem Phänomen und der Fungibilität" und suchen ihm im Spiel zu entrinnen. Spiele sind "Bewusstlose Übungen zum richtigen Leben".

8 - Das Neue

Unmittelbar mit Fragen von escape und message verbunden ist das "Neue", das Adorno im Aphorismus 150 "Extrablatt" als Kennzeichen der Moderne beschreibt. An zwei exemplarischen Texten behandelt Adorno dessen Auftreten im 19. Jahrhundert.

1841 veröffentlicht Edgar Allan Poe die Erzählung "A Decent into the Maelström"[28]. Sie beschreibt eine grauenhafte Fahrt eines Fischerbootes über den Malstrom. Es gerät in einen Sturm und zerschellt schließlich auf dem Grund des riesigen Strudels. An Bord des Schiffes befinden sich noch zwei Brüder die restliche Mannschaft ist von den aufgewühlten Wassermassen über Bord gerissen worden. Das Schiff bewegt sich spiralenförmig auf den Grund des Strudels zu, seiner sicheren Vernichtung entgegen. Der ältere Bruder kämpft um sein Leben er sichert sich, unter Anwendung von Gewalt gegen seinen jüngeren Bruder, den scheinbar sichersten Platz auf dem Schiff. Jener jedoch beobachtet die Verhältnisse, die Strukturen des Strudels und erkennt, dass schwerere Gegenstände schneller auf der Spirale des Strudels sinken. Er beschließt, sich dem Strudel auszuliefern, indem er, gebunden an ein Faß, in das Wasser springt, hoffend den Verhältnissen zu entkommen, indem er sich ihnen angleicht. Während der ältere Bruder mitsamt dem Schiff zerschellt, beruhigt sich der Strudel, bevor das Fass den Grund erreicht.[29]

Adorno kommt es bei dieser Erzählung auf die unmögliche Beschreibung des erwarteten Grauens an. Die betreffende Stelle lautet: Die gewöhnliche Beschreibung dieses Strudels hatte mich in gar keiner Weise auf das vorbereitet, was ich hier sah. Die des Jonas Ramus, welche vielleicht die eingehendste ist, vermag nicht die leiseste Vorstellung zu vermitteln - vom Großartigen nicht, noch vom so Grausigen der Szene - noch von dem wild verwirrenden Gefühl des Niegeschauten, das den Betrachter packt."[30]

1857 veröffentlicht Charles Baudelaire, der die Werke Edgar Allan Poes ins Französische übersetzt hat und von ihm beeinflusst ist, die "Les Fleurs du mal"[31], deren Entstehungszeit sich von 1841 bis 1857 erstreckt. Die Ausgabe enthält fünf Teile: I. Spleen und Ideal II. Blumen des Bösen III. Revolte IV. Der Wein V. Der Tod, und enthält hundert Stücke. Auf eine Kritik im "Figaro" hin wurde Baudelaire der Prozess gemacht und er wurde "wegen Beleidigung der öffentlichen Moral und guten Sitten" verurteilt. 1861 erscheint eine zweite, um 35 neue Gedichte ergänzte und um 6 inkriminierte Gedichte gekürzte Auflage. Zu den früheren fünf Teilen kam ein sechster hinzu, der als II. eingeschoben wurde: Pariser Bilder. Den Abschluss der "Les Fleurs du mal" von 1861 bilden erstmalig jene Verse, auf die Adorno Bezug nimmt. Entstanden sind sie Anfang 1859 während eines Erholungsaufenthaltes in Honfleur in dieser Zeit entwickelt Baudelaire seine Kunsttheorie in enger Anlehnung an Begriffe Edgar Allen Poes. Die Schlussverse der "Les Fleurs du Mal" lauten in der Übertragung Walter Benjamins[32]:

Verse-nous ton poison pour qu'il nous réconforte! Du schenke uns dein Gift das wohl uns stärke
Nous voulans, tant ce feu nous brûle le cerveau, Wir wollen so sehr brennt im Hirn dies Feuer
Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu'importe? Zum Schlund hinab ob Höll ob Himmels Werke
Au fond de l'Inconnu pour trouver de nouveau! Zum Unbekannten tauchend Neuem neuer.[33]

"Beide Male", so schreibt Adorno, "ist es eine unbekannte Drohung, der das Subjekt sich anvertraut, und die in schwindelndem Umschlag Lust verheißt. Das Neue, eine Leerstelle des Bewusstseins ... scheint die Formel, unter der dem Grauen und der Verzweiflung Reizwert abgewonnen wird. Sie macht das Böse zur Blume" (MM 150).[34]

Die Hinwendung zum Neuen in der Mitte des letzten Jahrhunderts sieht Adorno im Zusammenhang mit dem Verlust der Erfahrung, vor allem aber auch mit dem Verlust der "Schicht des Intentionslosen", des "nicht schon Vorgedachten". Da das industrielle Zeitalter alles mit Ähnlichkeit schlägt, wird "im Kultus des Neuen ... dagegen rebelliert, dass es nichts Neues mehr gebe". Der Ästhetizismus, das wurde schon in der "Wahrheit über Hedda Gabler" deutlich, ist eine vermittelte Reaktion auf die Langeweile. Aber sowohl in Poes "Malstrom" wie im letzten Gedicht der "Les Fleurs du Mal" Le Voyage bekommt die Hinwendung zum Neuen selbst wieder etwas Statisches, schlägt sie um von der Qualität in die reine Quantität. "Überhaupt noch etwas wahrnehmen zu können, unbekümmert um die Qualität, ersetzt Glück, weil die allmächtige Quantifizierung die Möglichkeit von Wahrnehmung selber weggenommen hat ... Das Neue, um seiner selbst willen gesucht ... wird im jähen Erscheinen zur zwangshaften Rückkehr des Alten" (MM 150).

Adorno skizziert die Entwicklungsgeschichte des zum Komplex des Neuen gehörenden Wortes "Sensation" von der Beschreibung unmittelbarer Wahrnehmung über "das große Unbekannte" bis zum "massenhaft Erregenden", "destruktiv Berauschenden" und schließlich zum "Schock als Konsumgut".[35] Nach Adorno wird aus dem Neuen (der Sensation, dem Schock, dem Grauen) ein auch historisch ambivalentes Geschehen, das sowohl im Widerstand gegen die Vergleichgültigung wie in dieser selbst enden kann: "Alles kann, als Neues, seiner selbst entäußert, Genuss werden". In Baudelaires "Une Martyre"[36] präfiguriere sich bereits die Faszination des Grauens unter dem Faschismus. Das Neue "überwältigt das Publikum, das unterm Schock sich windet und vergisst, wem das Ungeheure angetan ward, einem selbst oder anderen. Der Inhalt des Schocks wird gegenüber seinem Reizwert real gleichgültig, wie er es in der Beschwörung der Dichter ideell war". Daher kann Adorno den Faschismus also Vollendung der Moderne begreifen: "Im Entsetzen der regressiven Diktaturen hat die Moderne, das dialektische Bild des Fortschritts, zur Explosion sich vollendet". Freilich ist die Entwicklung von der Entdeckung des Neuen bis zum totalitär Bösen nicht zwangsläufig. Solange das Neue vom Subjekt getragen ist und in ihm sich die Differenz zur Gesellschaft ausbildet, besitzt es ein produktives Moment, da das Subjekt über das Neue "kraft des Bildes" mächtig ist. Sobald aber "jene Spannung des Individuums zur Gesellschaft (durch totalitäre Zurichtung) sich ausgleicht", wenn es in seiner kollektiven Gestalt als Sensation zur willenlosen Faszination führt, wird es zum "bloß Bösen". Aktuell ist das Neue zum "immer anderen Immergleichen" geworden, es ist zum Reiz, zur Stimulans regrediert. Unbeschadet inhaltlicher Qualitäten kommt es nur noch auf das sensualistische Moment an.[37]

Das Neue hat neben seiner historisch-indexalischen Funktion auch eine ästhetische Seite, welche eng mit der "Idee der Moderne" verknüpft ist. Dies wird insbesondere an Baudelaires programmatischer Schrift "Le peintre de la vie moderne"[38] über den Zeichner Constantin Guys deutlich. Der zeitgenössische Künstler ist, wie Baudelaire am Beispiel von Guys zeigt, ähnlich dem Kind von einer Gier nach dem Neuen bewegt, ihm "erscheint alles neu, (er) ist beständig im Zustande des Rausches" (161). Es ist die Figur des Dandy mit seinem Wunsch nach Distinktion (189), seiner tiefen Sehnsucht nach Originalität (190), die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Übergangszeit zwischen Aristokratie und Demokratie (191) eine "negative Anthropologie der Massengesellschaft" (MM 107) entwirft, ein letzter Aufstand, bevor "der steigende Schlamm der Demokratie, der sich über alles legt und alles gleichmacht" (192) seinen Siegeszug vollendet und die Kategorie des Neuen einkassiert. Das Neue ist bei Baudelaire noch unmittelbar mit der Idee der Moderne verbunden.

Baudelaire hat in "Le peintre de la vie moderne", 1859 geschrieben und 1863 veröffentlicht, die Moderne als Versuch bestimmt, "das Bleibende aus dem Vergänglichen zu entwirren ... Die Moderne ist das Vergängliche, Flüchtige, Mögliche, eine Hälfte der Kunst, deren andere das Ewige und Unwandelbare ist" (168). Die Hinwendung zum Modernen ergibt sich aus der Notwendigkeit, der Schönheit des Klassischen "die Schönheit des Besondern, des Zufälligen und das Sittenbild beiseite zu stellen" (151). Schönheit, so schreibt Baudelaire, setzt sich trotz ihres einheitlichen Eindrucks schon immer[39] aus einer Zweiheit zusammen, einem ewigen (éternel) und einem transitorischen Moment (modernité): "Das Schöne besteht aus einem ewigen, unveränderlichen Element, dessen Anteil äußerst schwierig zu bestimmen ist, und aus einem relativen, zufälligen Element, das man wechselweise oder zusammen als Epoche, Mode, Geist, Leidenschaft bezeichnen mag" (154) . Vernachlässigt man dieses Moment der Moderne, "so verfällt man notwendig der Leere einer abstrakten und unbestimmbaren Schönheit" (168). Während sich aus der Geschichte der Moden retrospektiv eine historisch bestimmbare Ordnung des Schönen ergebe (153f.), ist der Künstler der "vergänglichen, flüchtigen Schönheit des heutigen Lebens" auf der Spur, eben dem, was Baudelaire als die modernité bestimmt hat. "So hat Baudelaire selbst den Umschlag des Historismus in das musée imaginaire des Ästhetizismus programmatisch erläutert: das historische Verstehen erreiche nur die tote Vergangenheit, das ästhetische Bewusstsein allein vermag sie wieder zu entdecken!"[40]

Trotz seines historischen Schicksals bleibt in der Idee des Neuen ein widerständiges Moment erhalten: "Von der bedrohlichen Kategorie des Neuen strahlt stets wieder die Lockung von Freiheit aus, stärker als ihr Hemmendes, Nivellierendes, zuzeiten Steriles" (ÄT 404).[41] Dieses produktive Moment des Neuen hat auch Folgen für die Kunst: "Nur im Neuen vermählt sich Mimesis der Rationalität ohne Rückfall ratio selbst wird im Schauer des Neuen mimetisch: mit unerreichter Gewalt bei Edgar Allan Poe, wahrhaft einem der Leuchttürme Baudelaires und der Moderne. Das Neue ist ein blinder Fleck" (ÄT 38), eine "Leerstelle des Bewusstseins" (MM 150). Das Neue "intendiert Nichtidentität, wird jedoch durch Intention zum Identischen moderne Kunst übt das Münchhausenstück einer Identifikation des Nichtidentischen ein" (ÄT 41).

9 - Zusammenfassung: Das Ethos des Ästhetischen

Der Schwerpunkt des Umgangs mit Kunstwerken in den "Minima Moralia" scheint zunächst auf der Ebene der "Übersetzung künstlerischer Strukturen in philosophisch-soziologische Erkenntnisse"[42] zu liegen. Es handelt sich offensichtlich um eine heuristische Kunstbetrachtung im Sinne der Exploration ethisch-moralischer Motive. Es wird im anschließenden Kapitel zu diskutieren sein, ob und inwieweit Adorno damit die Autonomie der Kunst wahrt und nicht in heteronom gesteuerte Kunstbetrachtung zurückfällt,[43] ja ob nicht "Adornos Werk in wesentlichen seiner Züge durch eine ... Moralisierung des ästhetischen Vergnügens geprägt ist".[44] Ein Indiz dieser (bloß) heuristischen Kunstannäherung ist die auffallende Bevorzugung literarischer Werke.

Soweit Adorno in den "Minima Moralia" das Naturschöne in seine Überlegungen einbezieht, geschieht dies im Kontrast zum Kunstschönen[45]. Als Schlüsselstelle erweist sich Adornos Satz über das Blühen der Bäume im Aphorismus 5.[46] Das Naturschöne steht ein für das "Ganz Andere", es ist Chiffre für das intentionslose Nicht-Gemachte, in dem sich der Vorrang des Objekts artikuliert. Während jedoch die Schönheit der Natur stumm bleibt, jedes identifizierende "Wie schön" sich als inadäquat erweist und dem Naturschönen eine "Bewusstlose Wahrnehmung" korrespondiert, versucht die Kunst "das Stumme zum Sprechen zu bringen" (ÄT 121).

Kunstwerke ähneln darin dem Naturschönen, dass auch sie als Nicht-Gemachtes erscheinen wollen, als identifikationslos, intentionslos und selbstgenügsam. Insofern der Schein des Nicht-Gemachten gemacht, d.h. hergestellt wird, ist die Kunst der Ort, an dem der Konflikt von Mimesis und Rationalität produktiv zum Austrag kommt. Gegenüber der allgemeinen Form ist die Kunst der Ort, an dem das herrschaftsfreie Miteinander von Teil und Ganzen spielerisch verwirklicht ist. Gerade dieses produktive Moment der Kunst gerät in Konflikt zum Rest der Gesellschaft, insofern diese auf automatisierten Urteilen, auf Zweckmäßigkeit aufgebaut ist. Kunstwerke sind Versprechen und Kritik zugleich: Versprechen, weil im ästhetischen Schein eine gesellschaftliche Verfasstheit denkbar wird, die sich nicht mehr auf die Herrschaft über die Natur gründet Kritik, weil im ästhetischen Schein der herrschenden gesellschaftlichen Totalität eine Alternative vorgehalten wird. Insofern treten die Kunstwerke an die Stelle des bürgerlichen Subjekts, das den Augenblick seiner Emanzipation verpaßt hat. Die Kunst unterliegt dabei zwei "Versuchungen": der eskapistischen Flucht in die Unverbindlichkeit in der Gestalt des Ästhetizismus oder der Kapitulation ins Engagement, der Aufgabe des Ästhetischen zugunsten der Herstellung von Eindeutigkeit.

Anmerkungen

  1. Fünf bildende Künstler werden in den "Minima Moralia" genannt: Honoré Daumier (MM 63), Gustave Doré (MM 152), Matthias Grünewald (MM 32), Vincent van Gogh (MM 132) und Heinrich Zille (MM 122).
  2. P. Bürger, Das Altern der Moderne in: Adorno-Konferenz 1983, a.a.O., S. 177-197, hier S. 178.
  3. Adorno nennt namentlich folgende dreizehn Musiker: Johann Sebastian Bach (MM 99), Ludwig van Beethoven (MM 16 97), Johannes Brahms (MM 26, 128), Joseph Haydn (MM 145), Franz Liszt (MM 125), Wolfgang Amadeus Mozart (136), Erik Satie (MM 98), Arnold Schönberg (MM 98), Friedrich Schubert (MM 72, 75), Heinz Schütz (MM 32), Richard Strauß (MM 72, 97), Igor Strawinsky (MM 30), Richard Wagner (MM 67, 99, 129, 137, 150).
  4. Vgl. C. Dahlhaus, Vom Altern einer Philosophie in: Adorno-Konferenz 1983, a.a.O., S. 133-137.
  5. Hier stehen Hegel (MM Zueignung, 29, 33, 42, 44, 45, 46, 53, 72, 82, 97, 99, 111, 119, 127, 131, 143, 151, 152) und Nietzsche (MM 18, 22, 45, 46, 49, 59, 60, 61, 79, 82, 84, 87, 99, 120, 133, 137, 145) an der Spitze der Nennungen.
  6. Bei den Schriftstellern reicht die Spanne alphabetisch von Aristophanes bis Zola, zeitlich von Homer bis zur pseudonymen Ellery Queen. Erwähnt werden Aristophanes (MM 134), Honore de Balzac (MM 107, 145), Charles Baudelaire (Motto des 3. Teils, MM 113, 150)), Rudolf Borchardt (MM 122), Lewis Carroll (MM 98), Giacomo Girolami Casanova (MM 54, 107), James Fenimore Cooper (MM 96), Hedwig Courths-Mahler (MM 140), Theodor Däubler (MM 122), Charles Dickens (MM 145), Hans Fallada (MM 35), Gustave Flaubert (MM 63), Anatole France (MM 48, 62), Stefan George (142), Johann Wolfgang von Goethe (MM 16, 45, 50, 54, 112, 142, 152), Jacob Grimm (MM 6), Friedrich Hebbel (MM 98, 146), Heinrich Heine (MM 137), Paul Heyse (MM 26), Friedrich Hölderlin (MM 125, 127, 142), Heinrich Hoffmann (MM 20, 56, 98), Homer (MM 119), Aldous Huxley (MM 7, 97, 151), Henrik Ibsen (MM 56, 57, 58, 99, 113), Juvenal (MM 134), Franz Kafka (MM 45, 72, 95, 132, 143, 148), Oskar Kokoschka (MM 95), Karl Kraus (MM 33, 45, 51, 63, 134), Ferdinand Kürnberger (Motto des 1. Teils), Detlev von Liliencron (MM 122), Anne Morrow Lindbergh (MM 140), Thomas Mann (MM 116), Guy de Maupassant (MM 100), Jean Baptiste Moliere (MM 14, 15), Jean Paul (MM 6, 106), Charles Péguy (MM 148), Edgar Allan Poe (MM 150), Marcel Proust (MM 1, 6, 29, 45, 106, 107, 121, 132), Ellery Queen (MM 116), Rainer Maria Rilke (MM 95, 148), Marquis de Sade (MM 27, 54, 108), Friedrich Schiller (MM 38, 53, 54, 94), Arthur Schnitzler (MM 55), Carl Sternheim (MM 100), Adalbert Stifter (MM 145), Theodor Storm (MM 108), August Stramm (MM 95), August Strindberg (MM 140), Taubert (MM 128), Leo Tolstoi (MM 113), Georg Trakl (MM 122, 142), Paul Verlaine (MM 122), Voltaire (MM 62, 134), Edgar Wallace (MM 148), Evelyn Waugh (MM 122), Frank Wedekind (MM 55, 140), Franz Werfel (MM 37), Oskar Wilde (MM 108), Emil Zola (MM 93).
  7. Vgl. S. Specht, Erinnerung als Veränderung, a.a.O., S. 109 unter Verweis auf MM 43: Die "Konzentration des ganzen Bewusstsein provoziert Kafkas Werk in besonderem Maße, da es durch seine Genauigkeit und Bestimmtheit eine Deutung herausfordert, zugleich aber eine bestimmte Bedeutung verweigert. In dieser Verweigerung wird es, so Adorno, zum Rätsel ... Es enthält die Möglichkeit der Bedeutungslosigkeit und damit die Bedeutung bloß als Möglichkeit. Seine Unauflöslichkeit in eine bestimmte Aussage lässt die Gestalt zur Rätselfigur werden. In Adornos Augen ist dies prototypisch für alle Kunst."
  8. M. Lüdke, Der Kronzeuge. Einige Bemerkungen zum Verhältnis Th. W. Adornos zu S. Beckett. Text+Kritik Sonderband Adorno, 1983, S. 136-149.
  9. Vgl. etwa die Einleitung in die "Kleinen Proust-Kommentare" (NL 203-215) dazu D. Doehler, Charisma des Nicht-Identischen, Ohnmacht des Aparten. Adorno und Benjamin als Literaturkritiker: Am Beispiel Proust. Text+Kritik, a.a.O., S. 150-158 S. Specht, Erinnerung als Veränderung, a.a.O., S. 86-99.
  10. So übereinstimmend M. Jay und H. Scheible. Vgl. M. Jay, Adorno in Amerika in: Friedeburg/Habermas, Adorno-Konferenz 1983, a.a.O., S. 354ff., hier S. 374: "In einer Hinsicht unterscheiden sich Adorno und die Poststrukturalisten mit Sicherheit, nämlich in ihrer Einstellung gegenüber der ästhetischen Moderne. Während Adorno offenbar wenig Glauben in die Kunst, die auf die klassische Moderne von Schönberg und Beckett folgte, setzte, verteidigen viele Poststrukturalisten wie zum Beispiel Lyotard die Postmoderne eben dieser Kunst wegen". H. Scheible, Geschichte im Stillstand, a.a.O., S. 113: "Die Entwicklung nach 1945 fehlt fast gänzlich, sie erscheint nur indirekt, als Gegenpol zu der Kunst, die in Beckett terminiert." Gegen diese Vermutung spricht, dass Adorno in "Vorschlag zur Ungüte" Emil Schumacher, Ernst Wilhelm Nay, Fritz Winter und Bernard Schulze, also aktuelle informelle Malerei der Nachkriegszeit als positive Beispiele avancierter Kunst herausstellt (OL 55). Vgl. auch J. Held, Adorno und die kunsthistorische Diskussion der Avantgarde vor 1968 In: Frankfurter Schule und Kunstgeschichte. Hg. von A. Berndt u.a., Berlin 1992, S. 41-58.
  11. B. Brecht, An die Nachgeborenen, Ges. Werke 9, Gedichte 2, a.a.O., S. 722ff. Vgl. Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 66.
  12. So ist der Einwand, Adorno wolle an "Wahrheit ohne Kommunikation" (J. Ebach, Kassandra und Jona, a.a.O., S. 66f.) festhalten, ungenau. Zwar lehnt Adorno die Kommunikation von Natur und Menschen ab, aber er verwirft Kommunikation nicht schlechthin: "Lebendig sind (Kunstwerke) als sprechende, auf eine Weise, wie sie den natürlichen Objekten, und den Subjekten, die sie machten, versagt ist. Sie sprechen vermöge der Kommunikation alles Einzelnen in ihnen" (ÄT 14f).
  13. Vgl. J. G. Hamann, Aesthetica in nuce (1762), in: ders., Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. J. Nadler, II. Bd., Wien 1950, S. 195-217.
  14. Mehrere dieser Sätze berühren den Gedanken des magischen Erbes der Kunst, etwa wenn Adorno auf Kunst als die stumme Sprache der Dinge eingeht, wenn er die Rezeption von etablierter Kunst als Teilnahme am Ritual versteht, wenn er das fetischistische Verhalten der Künstler zu ihren Werken mit deren Genese aus Fetischen erläutert, oder wenn er als das Tröstliche der großen Werke die Tatsache beschreibt, "dass es ihnen gelang, dem Dasein sich abzutrotzen".
  15. R. Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, a.a.O., S. 16.
  16. Adorno kommt damit einer historischen Erklärung des "uninteressierten Wohlgefallens" nahe, die sich heute in der Position Pierre Bourdieus spiegelt. Danach erweist sich das "uninteressierte Wohlgefallen" zu einem guten Teil als "Sinn für die Distinktion", als Verleugnung des unmittelbaren Interesses: "Mehr noch als anderswo ist in Sachen des Geschmacks omnis determinatio negatio" vgl. P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 2/1983, S. 105. Vgl. auch S. 68ff., 81ff., 104ff. sowie mit empirischen Belegen S. 405ff.
  17. Immer wieder greift Adorno ohne explizite Benennung in diesem Aphorismus auf die Schlusszeile von Mörikes Gedicht "Auf eine Lampe" ("Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst") zurück und spielt damit auch auf Hegels "Ästhetik" an. Vgl. E. Mörike, Sämtliche Gedichte, München 1975, S. 85.
  18. In diesem Kontext wird sie schon unter veränderter Akzentsetzung in den Aphorismen 95 und 96 thematisiert. Dort freilich deutet Adorno den Kitsch nicht als triumphale Mimesis, sondern verschämte Verdrängung der Erkenntnis, die die Einsicht der großen Kunstwerke vermittelt.
  19. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., § 45.
  20. Gebauer/Wulf, Mimesis. Kultur - Kunst - Gesellschaft, Hamburg 1992, S. 399.
  21. Es soll nicht unterschlagen werden, dass der Terminus "ästhetische Erfahrung" bei Adorno nicht auftaucht, aber er ist der Sache nach präsent vgl. Chr. Menke, Umrisse einer Ästhetik der Negativität in: Franz Koppe, Perspektiven der Kunstphilosophie, Frankfurt 1991, S. 191-216, hier S. 198: "Zwar reden weder Adorno noch Derrida direkt von ästhetischer Erfahrung ... von ästhetischer Erfahrung reden sowohl Adorno wie Derrida jedoch indirekt - in ihrem Begriff des künstlerischen Prozesses und seiner Zeit". Vgl. auch R. Bubner, Kann Theorie ästhetisch werden, a.a.O., S. 90: "Ein besonderes Rätsel bildet im Rahmen der ästhetischen Theorie Adornos die Rolle der ästhetischen Erfahrung". Bubner spricht von einer "Unterbewertung ästhetischer Erfahrung" bei Adorno (ebenda, S. 92).
  22. U. Schwarz, Rettende Kritik und antizipierte Utopie: Zum geschichtlichen Gehalt ästhetischer Erfahrung in den Theorien von J. Mukarovsky, W. Benjamin und Th. W. Adorno. München 1981. S. 178ff., insbes. S. 219ff.
  23. In der Kritik der Urteilskraft wird bei der Exposition des ästhetischen Urteils jede Aussage darüber, was und wie das denn beschaffen sei, das ästhetische Urteile auslöse, in einer eigentümlichen Schwebe gelassen. In der Theorie des tschechischen Strukturalismus wird ein Text erst durch den jeweiligen Leser zum Werk komplettiert, d.h. das Kunstwerk als solches ist nicht vorgängig, sondern wird erst durch den Rezipienten erschaffen.
  24. Innervation beschreibt die Versorgung eines Körperteils mit Nerven, die Leitung nervöser Reize hin zu den Organen innervieren etwas mit Nervenreizen zu versorgen, figurativ: anregen.
  25. Vgl. Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 65ff.
  26. Der Rehabilitation des ästhetischen Genusses gegen Adornos Negativitätsästhetik widmet sich H.-R. Jauß. Vgl. ders., Negativität und Identifikation. Versuch zur Theorie der ästhetischen Erfahrung in: H. Weinrich (Hg.), Positionen der Negativität (Poetik und Hermeneutik VI), München 1975, S. 263-339 ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, a.a.O., insbes. S. 44-71 und 71-90 ders., Negativität und ästhetische Erfahrung. Adornos ästhetische Theorie in der Retrospektive, in: Lindner/Lüdke, Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos, Frankfurt 1980, S. 138-168. Dass Adorno den Genuss nicht grundsätzlich verwerfen wollte, wird u.a. in dem weiter unten besprochenen Vortrag "Engagement" wie auch in der "Ästhetischen Theorie" deutlich: "Wäre aber die letzte Spur von Genuss exstirpiert, so bereitete die Frage, wozu überhaupt Kunstwerke da sind, Verlegenheit" [ÄT 27].
  27. A. Gehlen, "Über einige Kategorien des entlasteten, zumal des ästhetischen Verhaltens" In: Theorien der Kunst. Hg. von D. Henrich u. W. Iser. Frankfurt 1982, S. 237-251. O. Marquard, Krise der Erwartung - Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes. Konstanz 1982.
  28. E. A. Poe, A Decent into the Maelström, in Graham's Lady's and Gentleman's Magazine, Mai 1841. dtsch.: Ein Sturz in den Malstrom, in: ders., Das gesamte Werk in zehn Bänden, Band 4, Olten 1966, S. 522-548.
  29. Diese Geschichte stellt sich für Adorno "als Allegorie sowohl der Geschichte als auch des Subjekts heraus. Eine herab- statt hinaufführende Spirale widerlegt jede progressistische Geschichtsauffassung: die 'Revolution' wird diesmal auf ohnmächtiges Kreisen innerhalb eines Trichters reduziert ... Zudem wird die rasende Katastrophe vom trügerisch strahlenden Mondlicht nur halb beleuchtet und gerät zu ästhetischen Schauspiel. Indem der Mondschein die Gefahr 'symbolisch' verklärt, verdeckt er den Mythos als Zauber ... (Die) Immanenz eines Subjekts, das ... de, eigenen Bannkreis nicht entkommen kann, wird zum lebenslänglichen Thema Adornos. Sein wiederkehrendes Motto 'Wirf weg, damit du gewinnst', dessen dialektisch-theologische Ökonomie er übrigens niemals in Frage stellt, ist auch die des überlebenden kämpfender Bruder heillos untergeht" (I. Wohlfahrt, Dialektischer Spleen. Zur Ortsbestimmung der Adornoschen Ästhetik in: Materialien zur ästhetischen Theorie Adornos, a.a.O., S. 310-347, hier S. 316f.).
  30. E. A. Poe, Ein Sturz in den Malstrom, a.a.O., S. 527.
  31. Ch. Baudelaire, Les Fleurs Du Mal in: ders., OEuvres complètes. Texte établi, présené et annoté par Claude Pichois, Bd. I, Paris 1975.
  32. W. Benjamin, Gesammeltes Schriften IV, 1, a.a.O., S. 79.
  33. Die gleichen Verse lauten in der Übertragung von T. Robinson: "Reich uns dein Gift, dass Tröstung wir erfahren! / Noch brennt das Feuer - lass zum tiefsten Schlund, / Lass uns zu Himmel oder Hölle fahren! / Nur Neues zeig' uns, Tod, im fremden Grund!" Ch. Baudelaire, Ausgewählte Werke: Die Blumen des Bösen, hg. von Fr. Blei, München o.J., S. 276. Und in der Übertragung von M. Fahrenbach-Wachendorff: "Die Gifte flöß uns ein, die wir zur Stärkung brauchen! / Wir wollen, so die Flammen unser Hirn entzünden, / Ob Himmel oder Hölle, tief in den Abgrund tauchen, / Tief in das Unbekannte, Neues dort zu finden!" Ch. Baudelaire, Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen, Stuttgart 1980, S. 281.
  34. Bei Poe wird dieser Umschlag so beschrieben: Es mag wohl sonderbar erscheinen, doch jetzt, wo wir uns mitten im Rachen des Schlundes befanden, fühlte ich mich gefasster als zuvor, wo wir nur auf ihn zutrieben. Nachdem ich mich einmal damit abgefunden, dass keine Hoffnung mehr sei, ward ich eines Großteils jenes Schreckens ledig, der mich zu Anfang ganz entmutigt hatte. Ich nehme an, es war Verzweiflung, was mir die Nerven spannte ... ich begann mit Gedanken zu machen, welch herrliche Sache es doch sei, einen solchen Tod zu finden, und wie kindisch von mir, angesichts einer so wundersamen Offenbarung von Gottes Macht an ein so jämmerliches Ding wie mein eigenes bisschen Leben zu denken. Ein Sturz in den Malstrom, a.a.O., S. 539.
  35. Vgl. auch W. Benjamin, Das Passagen Werk, hg. von R. Tiedemann, Frankfurt 1982, Band 2, Konvolut S [Malerei, Jugenstil, Neuheit]. "Zur Sensation: dieses Arrangement - die Neuheit und die sie chockartig befallende Entwertung - hat seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einen eigentümlichen drastischen Ausdruck gefunden" [S 10,3].
  36. Ch. Baudelaire, Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen, Stuttgart 1980, S. 230-235.
  37. Über die Bedeutung des Neuen für die Gegenwart nach der Moderne schreibt B. Groys in seinem Essay "Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie", München/Wien 1992. Er versteht das Neue in der Form der Innovation als kulturökonomischen Tausch zwischen dem profanen Raum und dem kulturellen Gedächtnis, weshalb auch die Post-Moderne nicht auf das Neue verzichten kann. Zur Rückkehr des Sensualismus in der Kunst der Gegenwart vgl. B. Wyss, Eine Ästhetik der Geisterbahn. Mitleid und Schrecken im Erlebnispark der Kunst - nach der documenta 9, F.A.Z. 26.11.1992, S. 36f.
  38. Ch. Baudelaire, Ein Schilderer des modernen Lebens Constantin Guys in: ders., Ausgewählte Werke, Kritische und nachgelassene Schriften, hg. von Fr. Blei, München o.J. S. 151-210.
  39. "Es hat eine Moderne für jeden alten Meister gegeben" [168]
  40. H.-R. Jauß, Der literarische Prozess des Modernismus von Rousseau bis Adorno in: Adorno-Konferenz 1983, a.a.O., S. 95-130, hier S. 118. Vgl. auch ders., Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewusstsein der Modernität in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt 1970, S. 11-66, insbes. S. 54ff.
  41. Vgl. zur Kategorie des Neues in der Ästhetischen Theorie insbes. ÄT 36ff. (Geschichtsphilosophie des Neuen) sowie die Fragmente ÄT 402ff. Auffallend die Nähe der verwendeten Begrifflichkeit.
  42. Chr. Menke, Umrisse einer Ästhetik der Negativität, a.a.O., S. 214f.
  43. Das unterstellt z.B. R. Bubner Adorno. Vgl. R. Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, a.a.O., S. 31 ("Majorisierung der Theorie der Kunst durch philosophische Begrifflichkeit").
  44. Chr. Menke, Die Souveränität der Kunst, a.a.O., S. 25.
  45. Hier zeigt sich eine gewisse Nähe und Verbindung zum Antinaturalismus Baudelaires. Nach Baudelaire ist es "die ästhetische Sensibilität allein, die den modernen Menschen über seine gefallene Natur erhebt und ihn auf einem Stufengang der Imagination zur 'Vervielfältigung seiner Individualität' gelangen lässt. Das steht im eklatanten Widerspruch zu Rousseaus These, der Mensch sei von Natur aus gut, die Baudelaire als Quelle aller späteren Irrtümer ansah, die über die Natur als letztem Ursprung des Guten und Schönen noch im Umlauf seien. Ein 'neuer Adam' könne nur künstlich, also gegen die Natur gebildet werden, weil ... der Sündenfall nicht allein das erste Menschenpaar, sondern mit ihm die ganze Natur korrumpiert habe ... Die ästhetische Umwertung der Natur schließt für Baudelaire aber auch das Moralische ein: wenn das Natürliche an sich selbst schon korrumpiert und böse sei, könne es nur durch das Künstliche überwunden werden, worunter sowohl die Tugend als auch die künstlerische Tätigkeit fielen." H.R. Jauß, Der literarische Prozess des Modernismus von Rousseau bis Adorno, a.a.O., S. 114f.
  46. Vgl. oben Kapitel III.4.5 und IV.3.