Die ästhetische Kritik der Ethik

in Theodor W. Adornos "Minima Moralia"

von Andreas Mertin


III - ETHIK UNTER DEN BEDINGUNGEN DER MINIMA MORALIA

1 - Entstehung

Die "Minima Moralia" sind sukzessive entstanden: den ersten Teil aus dem Jahr 1944 überreichte Adorno Max Horkheimer zu dessen 50. Geburtstag am 14. Februar 1945, den zweiten Teil erhielt Horkheimer Weihnachten 1945 der dritte Teil wurde in den Jahren 1946 und 1947 geschrieben. Damit fällt ihre Entstehung in eine kritische Phase der Selbstverständigung des Instituts für Sozialforschung. 1944 war die "Dialektik der Aufklärung" soweit fertig gestellt worden, dass sie Friedrich Pollock zum 50. Geburtstag überreicht werden konnte, wobei die Autoren jedoch im Vorwort noch festhielten, sie hofften "das Ganze in nicht allzu ferner Zeit zu vollenden".[1] Dazu sollte es nicht kommen, zu unklar war den Beteiligten in ihren internen Diskussionen, "wie Aufklärung zu retten, wie ein Begriff der richtigen Vernunft zu entwickeln sei".[2] Max Horkheimer hatte mit seiner 1944 gehaltenen und 1947 publizierten Vorlesungsreihe über "Society and Reason"[3] (s)eine Lesart der "Dialektik der Aufklärung" vorgelegt. Über die weitere Theoriearbeit herrschte jedoch Unsicherheit. Herbert Marcuse wie auch Adorno drängten auf eine Neuherausgabe der 'Zeitschrift für Sozialforschung', Horkheimer zögerte, weil er das Institut politisch nicht exponieren wollte. Hinzu kam, dass in Amerika die Denunziation der sog. unamerikanischen Aktivitäten begonnen hatte, von der auch Personen im Umfeld des Instituts betroffen waren. Da die beabsichtigte Fortsetzung der "Dialektik der Aufklärung" nicht zustande kam, setzte Adorno mit den "Minima Moralia" die philosophische Arbeit eigenständig fort. Die "Minima Moralia" sollten als "aphoristische Fortsetzung"[4] der "Dialektik der Aufklärung" verstanden werden, als Versuch "Momente der gemeinsamen Philosophie von subjektiver Erfahrung her darzustellen" (MM Zueignung).

2 - Aufbau - Form

Die "Minima Moralia" teilen sich in drei Teile. Adorno hat in der Zueignung der "Minima Moralia" zu deren Konstruktionsprinzip[5] geschrieben:

"In den drei Teilen wird jeweils ausgegangen vom engsten privaten Bereich, dem des Intellektuellen in der Emigration. Daran schließen sich Erwägungen weiteren gesellschaftlichen und anthropologischen Umfangs sie betreffen Psychologie, Ästhetik, Wissenschaft in ihrem Verhältnis zum Subjekt. Die abschließenden Aphorismen jeden Teils führen auch thematisch auf die Philosophie, ohne je als abgeschlossen und definitiv sich zu behaupten: alle wollen Einsatzstellen markieren oder Modelle abgeben für kommende Anstrengung des Begriffs" (MM Zueignung).

Der Aufbau der einzelnen Aphorismen hat Vorbilder in Friedrich Nietzsches Aphorismensammlungen[6] bzw. Walter Benjamins "Einbahnstraße"[7]. Einem jeweils vorangestellten und kursiv gedruckten Titel folgen fragmentarisch-aphoristische Erörterungen. Im Gegensatz zu Nietzsches Aphorismen, deren Titel sich jeweils zusammenfassend-beschreibend auf das Erörterte beziehen, bilden die Aphorismentitel bei Adorno - wie schon bei Benjamin - noch einmal einen eigenen Beitrag zur Thematik des jeweiligen Aphorismus'. Dabei werden die Titel ganz unterschiedlichen Bereichen entnommen, etwa Werken der Philosophie und der Literatur, einzelnen Märchen, der Bibel, den "Geflügelten Worten" oder auch der Alltagssprache.[8] Zum Teil werden die Fundstücke auch verfremdet oder ins Gegenteil gewendet, ja sie geraten zu regelrechten Ratespielen. Die Schwierigkeit bei der Interpretation der einzelnen Aphorismen besteht darin, dass sie jeweils ein komplexes Bündel von Anspielungen und Zitaten verbunden mit philosophischen Reflexionen darstellen, bei denen zur Erschließung des Gesamtverständnisses die Titel und die anzitierten Texte ebenso in die Interpretation einbezogen werden müssen wie die expliziten Reflexionen, wenn die Aussage nicht verfehlt werden soll.

Der Aphorismus gilt als eigenständige Gattungsform, in dem sich komplexe Strukturen vereinen: "Dazu gehören ... die Gegensätze von sprachlicher Kürze und gedanklich-ideenhafter Weite, von strenger pointierter Form und flüchtiger Notiz, von betont subjektiver Grundhaltung und Anspruch auf Allgemeingültigkeit, von einschränkender und verallgemeinernder Struktur, von ursprünglich wissenschaftlichem Lehrsatz und systemfreiem Einzelsatz, von Bindung an das Gesellschaftliche und einsamer Selbstaussprache ... Der Aphorismus, hierin dem Essay verwandt, kann vom Reflex einer psychischen Anmutung bis zu den 'letzten Dingen' wie 'Gott' und 'Tod' alles zu seinem Thema machen".[9] Diese Beschreibung trifft durchaus Adornos Absichten. Mit der Wahl der Gattungsform "Aphorismus" ist zugleich eine Verbindung zur Moralistik hergestellt, die im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich sich dieser Ausdrucksform bediente und die deutsche Aphoristik stark beeinflusste. Verwandt dürfte Adorno jedoch insbesondere Friedrich Schlegels Überlegung sein, in seinen Fragmenten-Aphorismen Philosophie und Ästhetik programmatisch zu verbinden: "Ein Fragment muss gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel".[10]

3 - Die "Minima Moralia" - ein ethischer Entwurf?

Jürgen Habermas hat vermutet, die "Minima Moralia" verständen sich "ohne Ironie" als Lehre des richtigen Lebens.[11] Albrecht Wellmer dagegen urteilt, in den "Minima Moralia" sei Adornos Lehre vom richtigen Leben "wie in Spiegelschrift" enthalten.[12] Andere gehen davon aus, dass Adorno Bewusst auf eine Ethik verzichtet habe[13] oder sie verweisen darauf, dass Adorno neben der "Negativen Dialektik" und der "Ästhetischen Theorie" noch ein großes moralphilosophisches Werk zu schreiben beabsichtigte, m.a.W. (s)eine Ethik nicht mehr ausgeführt habe.[14] Jede dieser Einschätzungen hat ihr subjektives Recht. Nur vor dem Hintergrund der Adornoschen Hoffnung, die vollendete Negativität könne "zur Spiegelschrift ihres Gegenteils" (MM 153) zusammenschießen, also der unterstellten "Genese der Wahrheit aus dem falschen Schein"[15] lassen sich Spuren einer "Lehre vom richtigen Leben" gewinnen, die freilich nur noch als traurige, ja melancholische[16] Wissenschaft bezeichnet werden kann. Von einer entfalteten Ethik im Sinne einer "Magna Moralia"[17] kann keine Rede sein, eine allgemeine "Lehre vom richtigen Leben" ist angesichts der universalen, auch noch den Intellektuellen einschließenden Verblendung nicht zu gewinnen, "die Wahrheit übers Leben" muss "von dessen entfremdeter Gestalt abgelesen werden"[18], aktuell reduziert sich "die Lehre vom richtigen Leben" darauf, das Schlimmste zu erkennen: "Where everything is bad it must be good to know the worst".[19]

4 - Motivkreise

Die subjektive Form der "Minima Moralia" macht es schwer, einzelne Motive herauszugreifen und zu systematisieren.[20] Die jeweils an privaten Beobachtungen ansetzenden Reflexionen, ihr "idiosynkratischer"[21] Zugang macht jede isolierende Betrachtung willkürlich und gewaltsam. Ich beginne dennoch mit Adornos Reflexionen der Rolle des Intellektuellen in der verblendeten Gesellschaft, weil er hier eine Begründung für die Art seiner ästhetisch-ethischen Reflexionen gibt. Anschließen sollen sich Auseinandersetzungen mit Aphorismen, die sich mit der Lebensphilosophie, der Moral, Liebe und Hass, dem Leiden und dem Tod sowie mit der Idee der besseren Gesellschaft, der Versöhnung und der Erlösung beschäftigen. Den zusammenfassenden Abschluss bildet die Erörterung jener Aphorismen, die das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem thematisieren.

Reflexionsort

Um die fragile Stellung des Intellektuellen, seine Verletztheit, seine Aporien und Privilegien kreisen zahlreiche Aphorismen der "Minima Moralia".[22] Immer wieder treten in den "Minima Moralia" autobiographisch gefärbte Reflexionen des Intellektuellen Adorno auf, immer wieder kommt Adorno auf seine Erfahrungen als Emigrant in Amerika, auf das dabei erfahrene Verhältnis zu anderen Intellektuellen und zum "mainstream" der Gesellschaft zurück. Diese Erfahrungen macht Adorno zum Ausgangs- und Angelpunkt seiner Reflexionen: "Für den Intellektuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag. Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen" (MM 5). Die Begründung, die Adorno für den Rückzug auf die subjektive Reflexion des Intellektuellen gibt, statt sich den großen, abstrakten philosophischen Themen systematisch und direkt zuzuwenden, ist der Verweis auf den Umstand, dass diese zunehmend verdächtig wurden, selbst Teil der falschen Tendenz der Gesellschaft zu sein. Dass der Intellektuelle für ein Bild des richtigen Lebens einstehen muss (MM 6), liegt also darin begründet, dass, wie es in der Zueignung der "Minima Moralia" heißt, angesichts der die Differenzen einkassierenden Allgemeinheit der Gesellschaft, etwas "von der befreienden gesellschaftlichen Kraft in die Sphäre des Individuellen sich zusammengezogen haben (mag)". Der Rekurs auf die fragile, ohnmächtige Stellung des Intellektuellen beinhaltet zugleich die Absage an eine verändernde Praxis, genauer, er ist Ausdruck der Einsicht, dass verändernde Praxis aktuell verstellt ist. Zugleich weist Adorno darauf hin, dass der Intellektuelle mit der Absage an die Praxis ihr nicht entronnen ist, weil die Distanz zur gesellschaftlichen Praxis selbst ein Luxus ist, den diese produziert (MM 6). Kümmert sich der Intellektuelle nicht um die materielle Praxis, "zielt er ins Leere", informiert oder engagiert er sich, "so tut er sich Gewalt an": "Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch" (MM 86). Auf kein Prinzip, auch kein Widerständiges darf der Intellektuelle sich verpflichten lassen, um nicht dem "Prozess der Standardisierung" (MM 132) zu verfallen seine Erkenntnishaltung ist die Idiosynkrasie, das nicht ins System Integrierte, die Abweichung, die zum Erkenntnismedium wird: "Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas" (MM 29).

Es lässt sich fragen, ob die aporetische Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis Bestand hat, ob Adorno recht hat mit der Überlegung, der Intellektuelle müsse sich der Praxis enthalten, damit er nicht zum Protagonisten des herrschenden Unrechts werde. Konkret ist zu fragen, ob nicht "Teilhabe am Unrecht ... auch die Voraussetzung seiner Unterbrechung"[23] sein könnte, ob es nicht heißen müsste, "Handlungsfelder für alternative Praxis überhaupt zu gewinnen"[24], ein Gedanke, dem insbesondere Herbert Marcuse gefolgt ist.[25] Deutlich ist aber, dass Adornos Vorstellung vom Reflexionsort des Intellektuellen ihr positives Modell in der Wahrnehmung von Kunstwerken hat: Die ästhetische Erfahrung "aber ist, eben um des apriorischen Vorrangs von Subjektivität in ihr, Gegenbewegung zum Subjekt. Sie verlangt etwas wie Selbstverneinung des Betrachtenden, seine Fähigkeit auf das anzusprechen oder dessen gewahr zu werden, was die ästhetischen Objekte von sich aus sagen und verschweigen. Ästhetische Erfahrung legt zwischen den Betrachtenden und das Objekt zunächst Distanz. Im Gedanken von der interesselosen Betrachtung schwingt das mit ... Damit durchbricht ästhetische Erfahrung ... den Bann sturer Selbsterhaltung, Modell eines Bewusstseinsstandes, in dem das Ich nicht länger sein Glück hätte an seinen Interessen, schließlich seiner Reproduktion" (ÄT 514f.). - "Als rein gemachte, hergestellte, sind Kunstwerke, auch literarische, Anweisungen auf die Praxis, deren sie sich enthalten: die Herstellung des richtigen Lebens" (NL 429).

Leben, Güte, Schönheit

Der erste Teil der "Minima Moralia" trägt als Motto einen Satz des Schriftstellers Ferdinand Kürnberger: "Das Leben lebt nicht". Damit ist eine Frontstellung bezeichnet, die heute nur annäherungsweise nachvollzogen werden kann. Die Philosophie des Lebens war in der Zeit zwischen 1880 und 1930 das beherrschende Thema[26]:

"Im Zeichen des Lebens geht es gegen das Tote und Erstarrte, gegen eine intellektualistische, lebensfeindlich gewordene Zivilisation, gegen in Konventionen gefesselte, lebensfremde Bildung, für ein neues Lebensgefühl, um 'echte Erlebnisse', überhaupt um das 'Echte': um Dynamik, Kreativität, Unmittelbarkeit, Jugend. 'Leben' ist die Losung von Jugendbewegung, Jugendstil, Neuromantik, Reformpädagogik und biologisch-dynamischer Lebensreform. Die Differenz zwischen dem Toten und dem Lebendigen wird zum Kriterium der Kulturkritik, und alles Überkommene wird 'vor den Richterstuhl des Lebens' zitiert und befragt, ob es echtes Leben repräsentiert, 'dem Leben dient', oder lebenshemmend, lebensfeindlich ist."[27]

Die Lebensphilosophie ist nicht zuletzt Ausdruck einer Kritik an der fraglich gewordenen Vernunft. Die intellektuelle Welt erscheint als "Ersatzwelt eines am Menschen erkrankten Lebens", die Vernunft als Versuch der Selbsterrettung "einer in sich fragwürdig gewordenen, nach kurzer Wachbewusstheit spurlos wieder versinkenden Gattung durch Wissenschaft größenwahnsinnig gewordener Raubaffen" (Theodor Lessing). Zu den normativen Kriterien gehört die Orientierung am Gesunden:

"'Leben' erscheint als Maßstab des Gesunden, Wahren und Guten, während das Abzulehnende meist unter dem Oberbegriff des 'Kranken' zusammengefasst wird. Man kann die Lebensphilosophie geradezu dadurch definieren, dass in ihr 'Gesundheit-Krankheit' der alles dominierende normative Gegensatz ist."[28]

Vor dem Hintergrund der nachklingenden Dominanz der Philosophie des Lebens sind jene Aphorismen zu verstehen, die ebenso eine Kritik der Lebensphilosophie, der Apotheose des Lebendigen bzw. des Kultus des Lebens, darstellen, wie sie untergründig sachlich mit ihr korrespondieren.[29] Auffällig ist jedenfalls die in den "Minima Moralia" sich durchziehende Verwendung der Begriffe "gesund" und "krank", auch wenn Adorno sie der lebensphilosophischen Argumentation zu entwinden und ins Gegenteil zu wenden sucht.

Im Aphorismus 36, dessen Titel "Die Gesundheit zum Tode" die Umkehrung des Kierkegaardschen "Die Krankheit zum Tode" ist, geht es um die "Krankheit der Gesunden", des Normalen. Gerade das, was als Norm von Gesundheit und Krankheit, von richtigem und falschem Leben auftritt, ist seinerseits verstümmelt, Abbild der beschädigten Gesellschaft, "Mimikry mit dem Anorganischen", der versteinerten Verhältnisse. Das, was unter diesen Bedingungen "Leben" genannt wird - Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, gelungene Einpassung ins Unvermeidliche, praktischer Sinn -, entspringt einer Hölle, die keine Forschung erschließen kann. "Gerade auch das sich der Verzweiflung nicht Bewusste, unmittelbar gelebte Leben ist, objektiv gesehen, für den Denker ein Zustand der Verzweiflung."[30] Kriterium der Beurteilung der Krankheit der Gesunden ist das "Missverhältnis ihrer rationalen Lebensführung zur möglichen vernünftigen Bestimmung ihres Lebens." Die Gesundheit der Menschen ist die Krankheit der Gesellschaft, sie hat "die Krankheit aller Einzelnen ... übernommen". Das Korrekturmoment der herrschenden Krankheit ist nicht die Gesundheit der Kranken, die "meist nur das Schema des gleichen Unheils auf andere Weise vorstellt" (MM 36), sondern das von der herrschenden Unvernunft als krank bzw. verrückt denunzierte. Dieser Verrücktheit gilt es, "zum Bewusstsein ihrer eigenen Vernunft zu verhelfen" (MM 45)[31].

Der Aphorismus 48 kommt ebenfalls auf die Philosophie des Lebens zu sprechen.[32] Kern des Aphorismus' ist die Frage, ob alles Daseiende den gleichen Anspruch auf Beachtung hat. Nachdem Adorno anhand der Analytik des Schönen gezeigt hat, dass dem einzelnen Gegenstand Gerechtigkeit nur durch die Ungerechtigkeit gegenüber allen anderen widerfährt[33], überträgt er diesen Gedanken auf das Leben bzw. das Lebendige. Wie für das Schöne gilt, dass, "wer alles schön findet, ... nun in der Gefahr (ist), nichts schön zu finden", so gilt für die Güte, dass unterschiedslose Güte[34] gegen alles in Kälte gegen jedes umschlägt, und für das Leben, dass es als hypostasiertes ins Zerstörende oder Böse übergeht. Dagegen gilt es sowohl im Blick auf das Schöne, das Gute wie das Leben, sich dem Besonderen zuzuwenden, die jeweiligen Qualitäten kritisch zu entfalten. "Indem Bruchstücke erhellt werden, fällt ein Licht auf das Ganze des Lebens".[35] Der Zuwendung zum Besonderen wird entgegengehalten, dass alles Lebendige positiver Betrachtung wert sei, dass noch im Entstelltesten die Heiligkeit des Lebens aufscheine. Adorno meint dagegen, einem emphatischen Begriff des Lebens könne nur treu sein, wer seinen aktuellen Zerfallsformen kritisch gegenüberstehe: "Wer das Zerstörende hasst, muss das Leben mithassen: nur das Tote ist das Gleichnis des nicht entstellten Lebendigen"[36} (MM 48). Der Rekurs auf das Leben selbst verzichte auf das Mögliche, er sei unkritisch affirmativ gegenüber dem Bestehenden. In diesem Sinne gilt: "Leben ist zur Ideologie seiner eigenen Absenz geworden" (MM 121). Dem Leben eigne keine Dignität, es sei nicht schön, wie Schiller dem Marquis von Posa in den Mund legt (MM 38), eher sei es eine spezielle Krankheit, wie Anatole France es Herrn Bergeret sagen lässt. Dagegen ist die am Besonderen wahrgenommene und nicht mit dem Universalen verrechnete Schönheit eine heilsame Krankheit, die dem Leben und seinem Verfall Halt bietet (MM 48).

Moral, Sitte, Kalokagathie

Das Wort "Moral" wird in den "Minima Moralia" mit unterschiedlichen Konnotationen gebraucht, je nach der Konstellation, in der es auftaucht. Als Abbild der herrschenden Normen, die die Normen der Herrschenden sind, wird Moral kritisiert, das Unmoralische der Moral ist die Repression (MM 58/119): "Alle Moral hat sich am Modell der Unmoral gebildet und bis heute auf jeder Stufe diese wiederhergestellt" (MM 119). Der mit der Ausdifferenzierung der Wertsphären einhergehende Verlust einer einheitsstiftenden Kraft führt zur "Absenz einer jeden objektiv verbindlichen Sitte" und zwingt den einzelnen zu Verhaltensweisen, "die nach dem Maß des Humanen barbarisch und selbst nach dem bedenklichen der guten Gesellschaft taktlos sind" (MM 6). Dennoch gibt es einen, nur negativ erschließbaren, positiven Kern der Moral, "dass mit jeder Beschränkung auch jede Gewalt verschwinde" (MM 58). Moral, in diesem Sinne verstanden, wäre charakterisiert durch Autonomie und Verantwortung, es wäre Aufgabe der Philosophie, "im Gegensatz von Gefühl und Verstand deren Einheit aufzusuchen: eben die moralische" (MM 127).

Der Aphorismus 119 beschäftigt sich mit der ökonomischen Prägung des Guten, respektive der Moral: Moral ist ein "Tugendspiegel", ein Spiegel der als Tugend bezeichneten Eigenschaften der Reichen, als solcher unmittelbar von der Existenz der Unterdrücker abgeleitet. Das altgriechische Bildungsziel der Kalokagathie, der Vereinigung von Schönem und Guten, kann seine Herkunft vom Reichtum nicht bestreiten. In der Polis - und nicht nur in ihr[37] - wurde dem Reichtum moralische Bedeutung in dem Sinne zugewiesen, dass er als sichtbarer Ausdruck guter und erfolgreicher Lebensführung verstanden wurde. Noch die neutestamentliche Auszeichnung der Armut zeige, "wie tief das allgemeine Bewusstsein von der Moralität des Besitzes geprägt" sei. In der Moral reflektiert sich die Habe: "Gut sein und Gut haben fallen von Anbeginn zusammen ... Reichtum als Gutsein ist ein Element des Kitts der Welt" (MM 119). Weil die Reichen vom unmittelbaren Lebenszwang entbunden sind, können sie sich die Moral leisten, für die Herrschenden besteht immerhin die Möglichkeit zur Moral, wenn auch ihr Wesen, das sie zu Herrschenden machte, sie an der Ausübung hindert.

Liebe, Hass, Eros

Zu den positiv aufzuhebenden Begriffen der philosophischen Reflexion gehört der der Liebe. Er entfaltet sich - wie auch andere ethische Begriffe - im Angesicht des falschen Zustands der Gesellschaft "in der Gestalt der Negativität", denn "es ist eine der schrecklichsten Gestalten unseres Zeitalters, dass fast alle diejenigen Wendungen, in denen man das Gute unmittelbar proklamiert, etwa die Liebe zum Menschen, einem unter den Händen und gegen den eigenen Willen zum Schlechten werden, während der, welcher von jener Unerbittlichkeit nicht ablässt, gerade dadurch sich den Ruf der Unmenschlichkeit, der Menschenfeindschaft, der Skepsis, des Zersetzenden zuzieht" (PT 1, 201). Dieser Gedanke wird in den "Minima Moralia" mehrfach wiederholt: "Wer nicht böse ist, lebt nicht abgeklärt, sondern in einer besonderen, schamhaften Weise verhärtet und unduldsam. Aus Mangel an geeigneten Objekten weiß er seiner Liebe kaum anders Ausdruck zu verleihen als im Hass gegen die ungeeigneten, durch die er freilich wiederum dem Verhassten sich angleicht" (MM 4). Für den Gedanken sei "der Blick aufs Entlegene, der Hass gegen Banalität, die Suche nach dem Unabgegriffenen die letzte Chance" (MM 41). Jene Denkfigur, die vorab eine positive Einstellung, die Liebe zur Sache verlangt, stellt Adorno am Beispiel eines Satzes von Max Scheler in Frage: dessen "Satz, alle Erkenntnis sei in Liebe fundiert, war Lüge, weil er unmittelbar die Liebe zum Angeschauten verlangt. Aber er würde zur Wahrheit, wenn Liebe zur Auflösung allen Scheins von Unmittelbarkeit drängte und damit freilich unversöhnlich würde mit dem Gegenstand der Erkenntnis" (MM 127).

Die Urform der Liebe ist Mimesis, die Nachahmung anderer Menschen: "ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert". Sie enthält zugleich "Spuren jener Utopie, welche das Gefüge der Herrschaft zu erschüttern vermöchte" (MM 99). Diese Utopie wäre ein Verhältnis zu anderen Subjekten, das nicht mehr an der Kategorie des Besitzes orientiert ist, welche heute die Beziehungen der Menschen prägt. An den Beobachtungen Prousts ist ablesbar, dass in der Liebe das Tauschverhältnis sich durchsetzt, "dass der erotische Trieb zu schwach ward, um die sich selbst erhaltenden Monaden zu verbinden" (MM 107). Liebe und Zuneigung hätten sich stattdessen am Spezifischen eines Menschen zu orientieren. Das Spezifische ist nicht mehr durch anderes substituierbar, sonst wäre es keines. Adorno entwickelt diesen Gedanken am Modellfall einer Liebe, die auf eine bereits bestehende trifft (MM 49: "Moral und Zeitordnung"'). Wie immer der/die Geliebte sich entscheidet, ob er/sie sich dem Neuen zuwendet oder an der alten Beziehung festhält, jedes Mal wird ein Unrecht ausgeübt. Mangels einer "Hierarchie der Gefühle" entscheidet die abstrakte Zeitordnung über die Möglichkeit der Beziehung, über das "Menschenrecht, von der Geliebten geliebt zu werden" (MM 104). Entweder wird jemand als Zu-Spät-Gekommene(r) zurückgesetzt oder es wird "die Vergangenheit des gemeinsamen Lebens annulliert". Korrektur wäre dagegen eine Neigung, "die den anderen spezifisch anspricht, an geliebte Züge sich heftet und nicht ans Idol der Persönlichkeit, die Spiegelung von Besitz". An der versagten Erfüllung einer Liebe lässt sich aber auch die Relativität der bloß individuellen Erfüllung[38] ablesen: "Das Geheimnis der Gerechtigkeit in der Liebe ist die Aufhebung des Rechts, auf die Liebe mit sprachloser Gebärde deutet" (MM 104).

Der Aphorismus 110 "Constanze" handelt von der Liebe in der bürgerlichen Gesellschaft, von der gesellschaftlich erwünschten Spontaneität, Unmittelbarkeit und Unwillkürlichkeit der Liebe und des Gefühls, und der gesellschaftlich notwendigen Bewusstheit, Vermitteltheit und Willkür der Liebe. Die Gesellschaft, die überall durch Vermittlung charakterisiert ist, besteht bei der Liebe auf Unmittelbarkeit. Aber, so wendet Adorno ein, innerhalb des "allgemeinen Unwahren" würde so das geforderte - für sich richtige - Verhalten der Liebe ebenfalls unwahr. Daher hat Liebe in der bürgerlichen Gesellschaft ein Moment von Bewusstheit und Willkür in sich aufzunehmen: "Soll Liebe in der Gesellschaft eine bessere vorstellen, so vermag sie es nicht als friedliche Enklave, sondern nur im Bewussten Widerstand" (MM 110). Unmittelbarkeit dagegen, und als solche deutet Adorno auch das Verhalten derer, die sich spontan aus einer Beziehung lösen, weil sie "die Stimme des Herzens" hören, ist nur Alibi für die sich durchsetzende Herrschaft des Interesses.[39]

Leiden

Die explizite Auseinandersetzung mit dem Leiden wird in den "Minima Moralia" nur behutsam angegangen, das Wort kommt kaum vor. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass eine bloße Erörterung des Leidens diesem gegenüber inadäquat wäre, weil sie das Leiden in sinnhafte Kategorien überführen würde. Keine positive Bestimmung vermag dem Leiden Sinn abzugewinnen. Jedoch ist das Thema in der Mehrzahl der Aphorismen implizit präsent. Ist in der "Negativen Dialektik" "das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ... Bedingung aller Wahrheit" (ND 29) und wäre nach der "Ästhetischen Theorie" eher zu wünschen, dass Kunst verschwände, "als dass sie das Leid vergäße" (ÄT 387), so wird das Leiden in den "Minima Moralia" zur Folie, vor dem sich alles zu verantworten hat: "Wer sich die Erkenntnis vom Anwachsen des Entsetzens entwinden lässt, verfällt nicht bloß der kaltherzigen Kontemplation, sondern verfehlt mit der spezifischen Differenz des Neuesten vom Vorhergehenden zugleich die wahre Identität des Ganzen, des Schreckens ohne Ende" (MM 149).

Aus diesem Grunde gilt es einig zu sein "mit dem Leiden der Menschen: der kleinste Schritt zu ihren Freuden hin ist einer zur Verhärtung des Leidens" (MM 5). Dieser Vorbehalt der compassio tritt auch dort in Kraft, wo unwillkürliches Verhalten, spontane Reaktion, eben Aisthesis, Positives gewahrt: "Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt noch das unschuldige Wie schön wird zur Schmach des Daseins, das anders ist, und es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält" (MM 5). Denn: "Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unermessbaren Trauer dessen was ist?" (MM 128).

Nicht ganz deutlich wird an dieser Stelle, wie die Erinnerung bzw. das Eingedenken des Leidens die Wahrnehmung verändert bzw. verändern soll. Ist bereits das Blühen eines Baumes eine Lüge? Das impliziert der merkwürdige Subjekt-Objekt-Wechsel im Satz: "der Baum ... lügt, (wenn) man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzen wahrnimmt". Das würde den Wahrheitsstatus des Naturschönen von der ethischen Haltung des Betrachters abhängig machen. Oder ist nur die Wahrnehmung des Blühens eines Baumes unwahrhaftig, wenn ich es ohne Entsetzen wahrnehme? Aber inwiefern kann der "Augenblick", versteht man unter ihm ein unwillkürliches, spontanes Wahrnehmungs-Verhalten, ethisch geprägt sein? Zu vermuten ist, dass Adorno hier einen Gedanken, der für seine Theorie der Wahrnehmung eines Kunstwerks zutreffend ist, auf das Naturschöne überträgt: dass nämlich das rezipierende Subjekt "insofern für das Kunst-Sein des Werkes wesentlich (ist), als es den dem Werke immanenten Aktcharakter freisetzt"[40]. Unbestritten sei, dass die Wahrnehmung des Schönen nicht als Kompensat des Leidens instrumentalisiert werden darf. Das wäre der unerträgliche Versuch, dem Leiden einen Sinn zu geben. Insofern das "Wie schön" zur Ausrede für die Schmach des Daseins gemacht wird, wandelt es sich von der spontanen Reaktion zur Ideologie. Nicht einsichtig bleibt jedoch, inwiefern bereits die Wahrnehmung selbst von diesem Einwand betroffen sein soll.[41]

Auch wenn das Leiden in den meisten Aphorismen namenlos bleibt, hat es im 20. Jahrhundert einen konkreten Ort bekommen: Auschwitz[42]. "Auschwitz" bezeichnet nicht eine nur graduelle Steigerung des perennierenden Grauens, "sondern dessen Fortschritt zur Hölle" (MM 149).[43]

Tod

Der Aphorismus 148 beschäftigt sich mit den Veränderungen, denen die "metaphysische Kategorie" des Todes im Verhältnis zur Geschichte des Individuums unterworfen ist. Nach der Auflösung der objektiven Verbindlichkeit der Religion war das Bild des Todes eng mit der Selbsteinschätzung des Individuums verbunden. Mit der bürgerlichen Autonomie in der Mitte des 19. Jahrhunderts bekam auch der Tod eine emphatische Bedeutung: "Es war der absolute Preis des absoluten Wertes". Nach dem Sturz des Individuums ereilt den Tod das gleiche Schicksal. Wo er emphatisch beschrieben wird, wird er zur Lüge. Faktisch demonstriert die Gesellschaft dem einzelnen seine reale Ersetzbarkeit. Sterben und Tod des einzelnen bedeuten für das Allgemeine wenig. Der Menschheit ist der Tod so gleichgültig geworden wie die einzelnen Gattungsglieder. Auschwitz hat das antezipiert und in der "Massenproduktion des Todes" zugleich den Tod des emphatischen Begriffs der Menschheit verdeutlicht. Ablesbar sei diese Entwicklung nicht zuletzt an jenen Produkten der Kulturindustrie, in denen der Tod zur Unterhaltung verkomme und die Leichen zur Staffage des 'plots' dienen.

Über die Überlegungen des Aphorismus' 148 hinaus geht Adorno auf die Vorstellung vom Tod als einem Absoluten ein. Wäre der Tod ein absoluter, wäre "überhaupt nichts", wäre jeder Gedanke ins Leere gedacht, ließe sich keine Wahrheit denken. Denn zum Gedanken der Wahrheit gehöre, dass etwas von ihr auch zeitlich Bestand hat der absolute Tod würde dagegen jede Wahrheit kassieren. Wer den Sturz der metaphysischen Ideen nachvollziehe und im Interesse des eigenen Bewusstsein darunter leide, dürfe freilich im Gegenzug sich nicht damit zufrieden geben, von der Hoffnung auf den Wahrheitsgehalt des Erhofften zu schließen. Hier gilt, "dass die Unmöglichkeit, ohne ein Absolutes zu denken, glücklich zu leben oder überhaupt nur zu leben, nicht für die Legitimität jenes Gedankens zeuge" (MM 61). Übrig bleibt das Paradox: "Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint. Ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahrheit kaum nur zu denken" (MM 61) und "Hoffnung auch nur zu denken, frevelt an ihr und arbeitet ihr entgegen" (ND 394).[44]

Versöhnung - Erlösung - Bilderverbot

Die Begriffe Versöhnung, Erlösung und das Bilderverbot bilden bei Adorno eine sich wechselseitig erhellende und bedingende Konstellation. Nicht zufällig sind alle drei Begriffe solche der jüdisch-christlichen Theologie.[45] Die Art der Konstellation zu beschreiben ist schwierig, da mit einer Ausnahme (MM 152), in den "Minima Moralia" 'Erlösung' und 'Versöhnung' nicht in einem gemeinsamen Kontext auftauchen. Grob gesprochen könnte Versöhnung das Ziel, Erlösung die (gegenüber allen Versuchen der Selbst-Erlösung) kritisch-negative Beschreibung des Modus' zur Erreichung dieses Ziels bezeichnen, wobei freilich die Begriffe sich sehr nahe kommen und z.T. einander wechselseitig durchdringen[46]. Die gesamte Konstellation steht allerdings unter dem Bilderverbot, als dem Verbot, positiv Bilder des richtigen Lebens zu entwerfen.

Von Versöhnung spricht Adorno in verschiedenen Kontexten[47], die von einfachen Beobachtungen bis zu abstrakten Betrachtungen reichen. Grundsätzlich ist Versöhnung bei Adorno eng an die Differenz (von Allgemeinem und Besonderem) gekoppelt. Versöhnung ist als Zustand einer der Differenzwahrnehmung und der Differenzbewahrung.[48] Gegenüber jenen Gedankenspielen, die ihre utopische Qualität aus der Differenzharmonisierung und damit der Differenznivellierung beziehen, beharrt Adorno darauf, dass "die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen" nur so zu denken sei, dass "man ohne Angst verschieden sein kann" (MM 66). Als falsche Versöhnung wäre dagegen der vorschnelle Schritt über das Besondere zum Allgemeinen hin anzusehen, der das Besondere zum Durchgangsstadium herabsetzt und sich mit allem Disparatem, mit Leiden und Tod "der bloß in der Reflexion vorkommenden Versöhnung zuliebe allzu geschwind abfindet" (MM 46). Ebenso falsch ist die Einkassierung der Differenzen durch scheinbare Angleichung, wie Adorno am Beispiel der Hagenbeckschen Anlagen verdeutlicht: "Die Rationalisierung der Kultur, welche der Natur die Fenster aufmacht, saugt sie dadurch vollends auf und beseitigt mit der Differenz (scil. von Kultur und Natur) auch das Prinzip von Kultur, die Möglichkeit zur Versöhnung" (MM 74). Ein Charakteristikum des Versöhnenden ist, dass man es nicht herstellen, produzieren kann: "Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das Versöhnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken" (MM 21). Schenken trägt hier mimetische Züge, es "hat sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten", in der Fähigkeit "den anderen als Subjekt (zu) denken". Darüber hinaus unterliegt der konkrete Zustand von Versöhnung dem Bilderverbot, denn "die Idee von Versöhnung verwehrt deren positive Setzung im Begriff" (ND 148f., 163). Solange aber die Welt ist, wie sie ist, "ähneln alle Bilder von Versöhnung, Frieden und Ruhe dem des Todes (ND 374)".[49]

Dem "Blick der Erlösung" wendet sich Adorno im letzten, die drei Teile der "Minima Moralia" abschließenden Aphorismus zu. Das Wort Erlösung kommt, abgesehen von der knappen Erwähnung in MM 152[50], explizit nur hier vor. Der Aphorismus kann als Aufriss der Aufgabenstellung und Grenzen der gesamten "Minima Moralia" verstanden werden. Adornos Reflexion kreist um die Frage, wie Philosophieren noch denkbar ist, ohne in Affirmation umzuschlagen oder gar dem Unrecht Vorschub zu leisten. Der reale Ort der Philosophie und damit auch aller Reflexionen zum guten Leben ist "im Angesicht der Verzweiflung", ist die Wahrnehmung des Grauens, der Hölle, die die Welt ist: "Tatsächlich erhält eine Ontologie sich die Geschichte hindurch, die der Verzweiflung" (NL 598). Philosophie befindet sich - so oder so - in ihr. Will sie nicht selber verzweifeln, sondern einen Beitrag zur wirklichen Aufklärung leisten, müsste sie eine Perspektive einnehmen, die den wahren Zustand der Welt zu erkennen ermöglicht sie benötigte quasi einen archimedischen Punkt der Erkenntnis. Dieser Standpunkt ist aber nicht möglich, weil jeder reale Ort der Philosophie in der Welt und mit ihr lädiert ist. Daher sieht Adorno sich gezwungen einen unmöglichen, irrealen Ort der Erkenntnis anzunehmen, den "Standpunkt der Erlösung". Die Wahl des Wortes "Erlösung" anstelle anderer denkbarer wie z.B. Befreiung, Emanzipation ist sicher nicht nur dem Bewusst intendierten Rückgriff auf einen theologischen Terminus zu verdanken. Im Gegensatz zu anderen Begriffen beschreibt das Wort "Erlösung" nicht, worauf es zielt, es kündet nur vom Ende des negativen Zustands. Während etwa "Befreiung" auf Freiheit zielt und "Emanzipation" auf Mündigkeit, bleibt "Erlösung" noch dem Bilderverbot treu.[51] Verantwortete Philosophie müsste die Entstellung der Welt im Licht dieses Standorts wahrnehmbar denken, um überhaupt noch über Deskription hinauszukommen. "Das einfache Aussprechen dessen, was ist, fiele der Verblendung anheim, da es hinzuzufügen versäumte, dass das, was ist, im Ganzen und im Grunde nicht sein soll".[52] Erst in der messianischen Perspektive erweist sich die Welt als so erlösungsbedürftig, wie sie tatsächlich ist. In dieser Perspektive wäre das Denken ganz mimetisch, es ließe die Dinge zu ihrem Recht kommen.[53] Aber alle diese Überlegungen bleiben an den Konjunktiv gebunden. Allenfalls proleptisch könnte vom Standpunkt der Erlösung gesprochen bzw. das Licht der Erlösung in Anspruch genommen werden.[54] Dennoch bleibt die Forderung, die Welt im Lichte der Erlösung zu betrachten, als unaufgebbare Forderung bestehen.[55]

Michael Theunissen hat in seiner Auseinandersetzung mit der "Negativität bei Adorno" dessen negativistische Geschichtsphilosophie als philosophisch gescheitert bezeichnet. Zunächst unterscheidet er zwischen "proleptischer Eschatologie", als Gegenwärtigkeit der Zukunft, und "apokalyptischer Eschatologie", als vollständige Abwesenheit des Positiven vom Negativen. Für beide Konzeptionen gibt es Belege bei Adorno. Für die "apokalyptische Eschatologie" nimmt Theunissen den letzten Aphorismus der "Minima Moralia" in Anspruch. Die vollendete Negativität, von der Adorno dort spreche, sei "durch die vollständige Abwesenheit des Positiven definiert". Erst diese ermögliche den von Adorno erhofften Umschlag in die Spiegelschrift ihres Gegenteils.[56] M.E. verwechselt Theunissen jedoch "vollendete" Negativität, verstanden als zu ihrem Ende gebrachte, mit "vollständiger" Negativität, als umfassender und lückenloser. Auf den Umstand, dass Adorno das Grauen der Welt nicht als geschlossenes System denkt und deshalb auch nicht vom "lückenlosen" Verblendungszusammenhang spricht, hatten wir oben schon unter Verweis auf MM 72 hingewiesen.[57] Aber auch im Aphorismus 153 selber ist anzunehmen, dass Adorno unter der Formulierung "einmal ganz ins Auge gefasst" weniger den Blick auf die Realität der Welt meint, als vielmehr die perspektivische Konstruktion der Welt unter dem Aspekt der Negativität, m.a.W. die Welt negativ "zu Ende" denkt. Auf die Idee, die diesem Denken zugrunde liegt, verweist Theunissen selbst: es ist das Modell der Kunst, nach Adorno exemplarisch abzulesen an der Gedankenwelt Kafkas: "Absolute Entfremdung, preisgegeben dem Dasein, von dem sie sich abgezogen hat, wird als die Hölle durchforscht, die sie an sich schon, ohne es zu wissen, bei Kierkegaard war. Als Hölle aus der Perspektive der Erlösung. Kafkas künstlerische Verfremdung, das Mittel, die objektive Entfremdung sichtbar zu machen, empfängt ihre Legitimation aus dem Gehalt. Sein Werk fingiert einen Ort, von dem her die Schöpfung so durchfurcht und beschädigt erscheint, wie nach ihren eigenen Begriffen die Hölle sein müsste ... Das mittlere Reich des Bedingten wird infernalisch unter den künstlichen Engelsaugen" (P 338f.). Es ist die Schwäche der Betrachtung von Edgar Thaidigsmann, der doch "einen Beitrag zu einer fälligen theologischen Lehre vom 'Sehen' leisten"[58] möchte und dem ich ansonsten in seiner Auslegung weitgehend zustimme, dass er nicht auf die Koinzidenz des letzten Aphorismus' der "Minima Moralia" mit den "Aufzeichnungen zu Kafka" eingeht. Sonst hätte ihm der ästhetisch explorative Gebrauch der theologischen Begriffe durch Adorno deutlicher vor Augen stehen müssen. Adorno kennt eben eine Alternative für die christliche Annahme eines "Daseins der Erlösung"[59], genauer gesagt, er kennt ein Mittel der Simulation für die der Theologie entnommenen Idee des messianischen Lichts: die Kunst.[60] In der Erfahrung der Kunst vermittelt sich eine "Möglichkeit des Handelns, das sich nicht in der Anstrengung der Selbstbefreiung verzehrt"[61]. Deshalb halte ich es für falsch zu schreiben, "allein als Theologie noch vermag Philosophie die Wirklichkeit illusionslos wahrzunehmen"[62], wenn man nicht zugleich deutlich macht, dass es sich um eine säkularisierte, sowohl vom "theos" wie vom "logos" gereinigte, und vor allen Dingen ästhetisch transformierte Theologie handelt. Fraglich ist deshalb insbesondere, ob sich nicht ein konsistentes, nichttheologisches Modell der Erkenntnis beschreiben ließe, das zwar seine Begrifflichkeit und damit seine Aufgabenstellung der Theologie entnimmt, in der Durchführung jedoch konsequent ästhetisch bleibt[63], ein Modell, in dem sich "die Ästhetik als Zufluchtsstätte der Metaphysik nach ihrem Sturz"[64] erweist.

Ihre Grenze findet die positive Füllung dessen, wofür "Erlösung" und "Versöhnung" stehen, im Bilderverbot. Das alttestamentliche Bilderverbot spielt eine wichtige Rolle im Denken Adornos, immer wieder kommt er darauf zurück.[65] Deutlich ist, dass Adorno den engeren Rahmen des biblischen Bilderverbots überschreitet. "Vom Bilderverbot redet Adorno als einer nicht hintergehbaren Schranke in der Kulturgeschichte der Menschheit"[66}. Nicht um das Verbot der Herstellung von Kultbildern geht es ihm, vielmehr interessiert ihn philosophisch das Verbot des Versuchs, Ähnlichkeit herzustellen.[67] Für ihn erschöpft sich das Bilderverbot nicht in seiner theologischen Funktion, es hat darüber hinaus eine ästhetische und eine philosophische Seite. Die ästhetische Einsicht lautet: "Dass man sich kein Bild, nämlich keines von etwas machen soll, sagt zugleich, kein solches Bild sei möglich" (ÄT 106). Philosophisch ist diese Erkenntnis über die ästhetische Erfahrung hinaus auf das Denken selbst zu erweitern, denn nicht nur die ästhetischen Bilder stehen unter dem Bilderverbot. Weil jedes Bild, das man sich "von etwas" machen würde, dieses fixieren, begrenzen und für das Denken zurichten würde, muss auch das dialektische, materialistische Denken dem Bilderverbot entsprechen: "Abbildendes Denken wäre reflexionslos, ein undialektischer Widerspruch ohne Reflexion keine Theorie. Bewusstsein, dass zwischen sich und das, was es denkt, ein Drittes, Bilder schöbe, reproduzierte unversehrt den Idealismus ... Die materialistische Sehnsucht, die Sache zu begreifen, will das Gegenteil: nur bilderlos wäre das volle Objekt zu denken. Solche Bilderlosigkeit konvergiert mit dem theologischen Bilderverbot. Der Materialismus säkularisierte es, indem er nicht gestattete, die Utopie positiv auszumalen das ist der Gehalt seiner Negativität" (ND 206f.). Der materialistischen Denker hat daher "äußerste Treue zum Bilderverbot" einzuhalten, "weit über das hinaus, was es einmal an Ort und Stelle meinte" (ST 28).

Wenn überhaupt sich etwas positiv auf die Frage nach dem richtigen Leben unter den Bedingungen des Bilderverbots sagen ließe, so wäre es dies, "dass keiner mehr hungern soll". Alle anderen Antworten wären lediglich Extrapolationen des Bestehenden.[68] Würde man allerdings tatsächlich "Fluchtlinien einer emanzipierten Gesellschaft" ausziehen, so würden diese "mit der Steigerung der Produktion und ihren menschlichen Spiegelungen wenig gemein haben". An dieser Stelle entwickelt Adorno die Idee einer erfüllten Utopie, die bereits in einem gewissen Sinne mit dem Bilderverbot in Konflikt gerät, wenn sie auch wie der letzte Aphorismus der "Minima Moralia" in der Möglichkeitsform gehalten ist. Im Aphorismus 100 "Sur l'eau", der den zweiten Teil der "Minima Moralia" beschließt und damit nach Adornos eigenem Bekunden immerhin doch auch ein Modell abgibt für kommende Anstrengungen des Begriffs, heißt es: "Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen ... Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, 'sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung' könnte an Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten ... Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden." Gedacht haben könnte Adorno dabei an jene Beschäftigungen, "mit denen man seine Zeit hinbringt, sie verplempert, ohne recht durchsichtigen rationalen Zweck, aber gleichzeitig auf absurde Weise praktisch" (Q 286).

Allgemeines und Besonderes

Jedes der betrachteten Motive beschreibt und spiegelt ein bestimmtes Verhältnis vom Allgemeinen und Besonderen.[69] So ist die subjektive Erfahrung des Intellektuellen als Reflexionsort gewählt, weil ihr mehr zu entnehmen ist, als den großen historischen Kategorien, die vor dem "Verdacht des Betruges nicht mehr sicher sind" (MM Zueignung). Der subjektive Blick geht nicht auf das allgemeine Grauen, "sondern auf das Besondere, das konkrete Einzelne, an dem die Gewalttätigkeit des Allgemeinen ansichtig wird".[70] Im Gegenzug wird der Vorwurf "man sei zu subjektiv" als Indiz gedeutet, dass man über die unkontroverse Seite hinaus "in die spezifische Erfahrung der Sache" vorgedrungen sei (MM 43). Aufgabe des philosophischen Denkens wird daher, "das von den Begriffen Unterdrückte, Missachtete und Weggeworfene ... mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleich zu tun" (ND 21). Auch in Bezug auf das Leben galt das Interesse dem Besonderen, dem von der allgemeinen Krankheit der Gesellschaft als Narretei Abgetanen und Verdrängten: "Die dialektische Vernunft ist gegen die herrschende die Unvernunft erst indem sie jene überführt und aufhebt, wird sie selber vernünftig" (MM 45). Ebenso gilt für die Moral, soweit sie uns als allgemeine gegenübertritt, dass sie nur ein Spiegel der als Tugenden gedeuteten Verhaltensweisen der Herrschenden ist, in ihr reproduziert sich das Allgemeine der Gesellschaft. Jede Konstatierung von Sinn im Bestehenden ist Zurichtung, Beschneidung, Verarmung angesichts des Möglichen: "Das Inkommensurable wird ausgeschieden" (MM 83).

Dabei kann das einzelne nicht von sich aus dem Allgemeinen entkommen: "Auch wo es protestiert, versteckt sich im monadologischen Prinzip das herrschende Allgemeine" (MM 6). Der Einzelne ist kein Hort des Positiven, seine Vereinzelung ist selber "ein Produkt des Allgemeinen" (MM 45). Die Möglichkeit eines Anderen scheint darin auf, dass "das Allgemeine, von welchem das Besondere wie von einem Folterinstrument zusammengepresst wird, bis es zersplittert, ... gegen sich selbst (arbeitet), weil es seine Substanz hat am Leben des Besonderen, ohne es sinkt es zur abstrakten, getrennten und tilgbaren Form herab" (ND 339). Gedacht werden müsste eine andere Form des Allgemeinen, die die Differenzen nicht verschwinden lässt, sondern austrägt[71]: "Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen" (MM 66).

5 - Wiederaufnahme: Die "Minima Moralia" - ein ethischer Entwurf?

Wollte man Adornos Überlegungen in die ethische Tradition einordnen, so könnte man sie sowohl als einen Ausdruck einer umfassenden Krise ethischer Entwürfe wie als Versuch zu deren Dekonstruktion[72] bestimmen. "Moralische Sicherheit existiert nicht sie unterstellen wäre bereits amoralisch, falsche Entlastung des Individuums von dem, was irgend Sittlichkeit heißen dürfte. Je unbarmherziger die Gesellschaft bis in jegliche Situation hinein objektiv-antagonistisch sich schürzt, desto weniger ist irgendeine moralische Einzelentscheidung als die rechte verbrieft. Was immer der Einzelne oder die Gruppe gegen die Totalität unternimmt, wird von derem Bösen angesteckt, und nicht minder, wer gar nichts tut" (ND 241). "Alle Einzelnen sind in der vergesellschafteten Gesellschaft des Moralischen unfähig, das gesellschaftlich gefordert ist, wirklich jedoch nur in einer freien Gesellschaft wäre ... Dem Einzelnen indessen bleibt an Moralischen nicht mehr übrig, als ... so zu leben, dass man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein" (ND 294). Ziel der Kritik ist die herrschende Moral "als Ausdruck der Identifikation mit bestehenden Zuständen, der Gleichgültigkeit und Komplizenschaft, der Unfähigkeit zu leiden und zu trauern".[73] Adornos Ethik ist "negative Ethik"[74] nicht nur in dem Sinne, dass sie sich jeder positiven Bestimmung und Qualifizierung des richtigen Lebens enthält, sondern auch darin, dass sie konsequent jede Moral, jede Ethik zu dekonstruieren sucht. Das Medium, das Adorno für Dekonstruktion der Moral in Anspruch nimmt, ist die Kunst bzw. die ästhetische Erfahrung.[75] Am Ende jedes Motivkreises sind wir nicht zufällig jedes Mal auf die Kunst gestoßen, sei es als Aufstand des Schönen gegen das bürgerliche Gute, sei als jene Form der Erscheinung, die uns das richtige Leben wenigstens negativ im Schein vor Augen führt. Am Ende jedes der betrachteten Aphorismen könnte der Satz stehen: "An der Kunst lässt sich das ehesten einsehen" (MM 98).

Anmerkungen

  1. Zit. nach R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule: Geschichte - Theoretische Entwicklung - Politische Bedeutung.* 2. Auflage. München 1989, S. 364.
  2. Ebenda. Vgl. die Diskussionsprotokolle in M. Horkheimer, Gesammelte Schriften, hg. von A. Schmidt und G. Schmid Noerr, Band 12: Nachgelassene Schriften 1931-1949, Frankfurt 1985, S. 593ff.
  3. M. Horkheimer, Eclipse of Reason, New York 1947 (dt.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, übersetzt von A. Schmidt, Frankfurt 1967).
  4. R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, a.a.O., S. 438.
  5. Spekulieren könnte man, ob dem Werk - trotz seiner diskontinuierlichen Entstehungsweise - nicht ein streng formaler Aufbau zugrunde liegt, d.h. dass es in drei Teile zu je 50 Aphorismen aufzuteilen wäre. Mit dem Aphorismus 151 käme dann ein Einschub, dem mit den Aphorismen 152 und 153 ein Anhang analog zu dem der "Thesen zur Geschichte" W. Benjamins folgen würde. Vgl. W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Gesammelte Schriften, Frankfurt 1980, Band I.2, S. 691-704. Auffallend ist jedenfalls eine gewisse Parallelität der Anlage. Würde diese Beobachtung zutreffen, hätte das insofern Konsequenzen für die Interpretation, als dass der abschließende Aphorismus des dritten Teils der Aphorismus 150 "Extrablatt" wäre, der sich mit der Kategorie des Neuen beschäftigt, während der Aphorismus 153 sozusagen als AbSchluss aller drei Teile zu verstehen wäre. Dass im letzten Aphorismus deutliche inhaltliche Bezüge zu Walter Benjamins "Thesen zur Geschichte" zu finden sind, insbesondere was die Verbindung der Begriffe "Messianisch" und "Erlösung" angeht, zeigt E. Thaidigsmann, Der Blick der Erlösung. Zu Adornos letztem Aphorismus in den 'Minima Moralia', ZThK 81, S. 491-513, bes. S. 500f.
  6. Aphorismensammlungen sind "Menschliches, Allzumenschliches", "Morgenröte", "Die fröhliche Wissenschaft", "Götzendämmerung" und in etwas anderer Form "Also sprach Zarathustra". Vgl. Fr. Nietzsche, Werke in sechs Bänden, hg. von K. Schlechta, München 1980. Vgl. auch N. Rath, "Zur Nietzsche-Rezeption Horkheimers und Adornos". In: Vierzig Jahre Flaschenpost: 'Dialektik der Aufklärung' 1947-1987. Hg. von W. v. Reijem u. G. Schmid-Noerr. Frankfurt, 1987. S. 73-110, hier S. 107 (Anm. 15).
  7. W. Benjamin, Einbahnstraße, Gesammelte Schriften, a.a.O., Band IV.1, S. 83-148.
  8. Einige Beispiele: "Herr Doktor, das ist schön von Euch" - "Darf ich's wagen" - "Seit ich ihn gesehen" (Goethe, Faust I) "Wenn dich die bösen Buben locken" (Sprüche 1,10) "Über den Bergen" (Schneewittchen) "Wolf als Großmutter" (Rotkäppchen) "Piperdruck" (Kunstreproduktionen "anerkannter Werke" im gleichnamigen Verlag) "Struwwelpeter" - "Hans-Guck-in-die-Luft" (Heinrich Hoffmann-Donners) "Die Gesundheit zum Tode" (nach Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode) "Le bourgeois revenant" - "Le nouvel avare" (Anspielung auf Molière) "Et dona ferentes" (Vergil, Äneis).
  9. G. Fieguth, Nachwort zur Sammlung "Deutsche Aphorismen", Stuttgart 1978, S. 352-392, hier S. 352 u. 377. Aus den "Minima Moralia" nimmt Fieguth in seine Sammlung allerdings nur die Satz-Aphorismen "Zwergobst" - "Zweite Lese" - "Monogramme" - "In nuce" auf.
  10. Fr. Schlegel, Fragmente, Athenaeum. Eine Zeitschrift - Ersten Bandes Zweites Stück (1798), (Reprint) Darmstadt 1980, S. 230. Adorno hätte allerdings den Igel durch die Monade ersetzt, vgl. B. Recki, Aura und Autonomie, a.a.O., S. 98-128.
  11. Vgl. J. Habermas, Theodor W. Adorno. Urgeschichte der Subjektivität und verwilderte Selbstbehauptung in: ders., Politik, Kunst, Religion. Essays über zeitgenössische Philosophen, Stuttgart 1978, S. 36.
  12. A. Wellmer, Adorno. Anwalt des Nicht-Identischen in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Zur Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt 1985, S. 135ff., hier 140.
  13. B. Recki, Aura und Autonomie, a.a.O., S. 160.
  14. R. Schurz, Ethik nach Adorno, a.a.O., Einleitung vgl. das editorische Nachwort zur ÄT.
  15. Vgl. Fr. Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegriffen, a.a.O., S. 57ff.
  16. So M. Jay, Dialektische Phantasie, a.a.O., S. 324.
  17. Aristoteles, Magna Moralia, übers. von Fr. Dirlmeier, Darmstadt 5/1983.
  18. M. Theunissen, Negativität bei Adorno in: Friedeburg/Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz, a.a.O., S. 41ff., hier S. 49.
  19. Vgl. die nicht unwesentliche Variante des Zitats von Bradley in den SCH 20.2, S. 423: "If everything is bad, it may be good to know the worst".
  20. R. Schurz nennt in seiner "Ethik nach Adorno" zwar ebenfalls Motive einer Ethik nach Adorno (sein vor-ethischer Themenkreis umfasst Natur - Leid - Eros - Tod - Schein - Name - Versöhnung), die Ausführungen bewegen sich aber ansonsten eher im Rahmen einer Homilie des Gesamtwerks Adornos, leider ohne besondere Berücksichtigung der "Minima Moralia". Anders steht es bei W. Bender (Ethische Urteilsbildung, Stuttgart u.a. 1991), der in seinem Kapitel über die "Negative Ethik" Th. W. Adornos folgende Stichworte benennt: Erfahrungen - Totalität - Ideen - Das Besondere - Modelle. Sie beschreiben weniger ethische Motive, als dass sie über das Verfahren der ethischen Arbeitsweise nach Adorno Auskunft geben.
  21. M. Jay, Dialektische Phantasie, a.a.O., S. 323.
  22. Zu nennen wären etwa die Aphorismen 5, 6 und 86 (Intellektuelle und Praxis), 13 und 25 (der Intellektuelle in der Emigration), 51, 83, 84 und 91 (zur Arbeitsweise des Intellektuellen).
  23. J. Ebach, Kassandra und Jona. Gegen die Macht des Schicksals. Frankfurt 1987, S. 66.
  24. Ders., Das Erbe der Gewalt. Eine biblische Realität und ihre Wirkungsgeschichte, Gütersloh 1980, S. 121.
  25. Vgl. die Darstellung der Differenzen zwischen Marcuse und Adorno bezüglich der Haltung zur sog. Studentenbewegung in R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, a.a.O., S. 676ff.
  26. Vgl. H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933. Frankfurt 1983, S. 172ff.
  27. Ebenda, S. 172.
  28. Ebenda, S. 179.
  29. Zu den Verbindungen zwischen Kritischer Theorie und Lebensphilosophie vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, a.a.O., S. 173, 178 u.ö.: "Zumindest in der Bewertung des Dynamischen, Werdenden, sich Verändernden ... führt die Kritische Theorie lebensphilosophische Impulse fort."
  30. E. Thaidigsmann, Der Blick der Erlösung, a.a.O., S. 494.
  31. Die Aphorismen 36 und 45 scheinen sich in der Bewertung des Kranken zu widersprechen. Während Adorno zunächst die Krankheit als Zerrbild der herrschenden bezeichnet (MM 36), so wird später "zur Zelle der Genesung einzig, was nach dem Maß jener Ordnung selber als krank, abwegig, paranoid - ja als 'verrückt' sich darstellt" (MM 45). Der Akzent liegt hier jedoch auf "sich darstellt". Gemeint ist "Krankheit als ihrer Bewusste, die Einschränkung von Leben selber" (MM 48). Aber es gilt auch: "der Paranoiker ist das Spottbild des richtigen Lebens ... Ob ein überspannter Verdacht paranoisch sei oder realitätsgerecht, das schwache private Echo des Tobens der Geschichte, lässt bloß nachträglich sich entscheiden" (MM 103). Zur Metaphorik des Kranken in der Literatur, insbes. in Th. Manns "Doktor Faustus", vgl. Cl. Heselhaus, Die Metaphorik der Krankheit in: Die nicht mehr schönen Künste, München 1968, S. 407-433.
  32. Auch dieser Aphorismus ist sehr dicht, was seine Anspielungen und Verweise angeht. Neben dem im Aphorismustitel angesprochenen Anatole France, aus dessen Romanreihe Histoire contemporaine das Zitat am Schluss des Aphorismus' stammt, verwendet Adorno u.a. noch Motive aus beiden Teilen von Goethes Faust ("denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht" ... "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis"), sowie aus Baudelaires Le Spleen de Paris (vgl. dort den Lobpreis der Maitresse mit dem unstillbaren Appetit).
  33. Adorno beginnt mit Kants "uninteressiertem Wohlgefallen". Dieser hatte das Wohlgefallen so differenziert: das Wohlgefallen am Angenehmen und das Wohlgefallen am Guten ist mit dem Interesse gekoppelt, während das Wohlgefallen des Geschmacksurteils ohne Interesse ist, ihm ist das Objekt gleichgültig. (I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke Band X, Hg. W. Weischedel, Frankfurt 1974, S. 116-124 (B 5-17). Adorno hebt hervor, dass sich das interesselose Wohlgefallen des Geschmacksurteils allem zuwenden kann. Dieses Vermögen schlägt angesichts der herrschenden Umstände in sein Gegenteil um: "Wer alles schön findet, ist nun in der Gefahr, nichts schön zu finden" (MM 48). Nun geht Adornos Einwand an Kants Argumentation eigentümlich vorbei. Dieser hatte nur geltend gemacht, dass das ästhetische Urteil gegenüber dem jeweiligen Objekt uninteressiert sei, da es anderenfalls in das Gebiet des Wohlgefallens am Angenehmen oder am Guten gerate. Für das Schöne gelte dagegen, dass wir die Freiheit haben, "uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen" (B 15), und "kein Interesse, weder das der Sinne noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab" (B 15). In Adornos Argumenten liegt daher eine Vermischung ästhetischer und ethischer Motive vor, insofern die ästhetische Objektwahl ethisch determiniert werden soll. Nach Kant ergibt sich keinesfalls, dass aus der Gleichgültigkeit gegenüber dem Objekt folgt, man müsse alles schön finden, sondern nur, man könne gegenüber jedem Objekt ästhetische Urteile zur Geltung bringen, insoweit man auf das Gefühl von Lust und Unlust ihnen gegenüber rekurriert. Bei Adorno wird das ästhetische Urteil zu einem mittelbaren Urteil, so, als ob der Einzelne wählen könnte, ob er etwas schön finden möchte oder nicht. Das ist nach Kant ausgeschlossen, bei ihm wird der ästhetische Zustand nicht als solcher gewollt, sondern stellt sich von selbst ein (vgl. J. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt 1978, S. 65ff. W. Strube, 'Interesselosigkeit'. Zur Geschichte eines Grundbegriffs der Ästhetik, Archiv für Begriffsgeschichte 23, 1979, S. 148-174.).
  34. Zur weiteren Kritik an der "Güte" vgl. Aphorismus 58 "Die Wahrheit über Hedda Gabler". Positiv aufgenommen wurde der Begriff von Jean-Pierre Wils, 'Ästhetische Güte'. Philosophisch-theologische Studien zu Mythos und Leiblichkeit im Verhältnis von Ethik und Ästhetik. München 1990.
  35. E. Thaidigsmann, Der Blick der Erlösung, a.a.O., S. 492.
  36. H. Hesse meint, dieser Satz sei nur auf dem Hintergrund (jüdisch) religiöser Selbstinterpretation verständlich, nach der alles Lebendige als gefallene Kreatur angesehen werden muss und der nur noch zu helfen ist, indem sie - symbolisch - zerstört wird. Vgl. H. Hesse, Vernunft und Selbstbehauptung. Kritische Theorie als Kritik der neuzeitlichen Rationalität, Frankfurt 1984, S. 134. Präziser beschreibt E. Thaidigsmann die Intentionen Adornos, wenn er unter Verweis auf Motive W. Benjamins in der Interpretation des letzten Aphorismus' der "Minima Moralia" schreibt: "Erkenntnis im Licht der Erlösung knüpft nicht an eigene Intentionen des Lebendigen an. Deren Tod ist vielmehr eine Bedingung solchen Erkennens ... Solcher Tod, der im fremden Licht der Erlösung das, was ist, radikal bloßlegt und offenbar macht, ist eine fundamentale Bedingung dafür, dass sie in einen neuen Zusammenhang treten, der auf ihr erlöstes Dasein verweist" vgl. ders., Der Blick der Erlösung, a.a.O., S. 497.
  37. Eine verwandte programmatische Verknüpfung findet sich biblisch in der Formel "Osär Wekabod" (Reichtum und Ehre). Bereits im Wort "kabod" kommen alle Momente der Kalokagathie zusammen: neben der Bedeutung Ehre kann es noch Schwere, Herrlichkeit, Wertvolles, Ansehen, Pracht ausdrücken. (Vgl. C. Westermann, Art. kbd - schwer sein, THAT I, Sp. 794-812). Neben einer Bezugsstelle in 1 Kön 3,13 (einem Zusatz von DtrN) kommt die Formel "Osär Wekabod" vor allem in der Chronik und in weisheitlichem Kontext vor. In letzterem handelt es sich, bei aller Gegensätzlichkeit zwischen den einzelnen Sätzen, um Ausführungen zur Kunst der Lebensführung präsentiert wird Erfahrungswissen, Alltagsweisheit und Beobachtungen aus der Lebenswelt. Der stereotype Gebrauch der Formel in der Chronik verweist auf die Selbsteinschätzung der Aristokratie, die ihren eigenen Reichtum als Gabe und Auszeichnung Gottes verstanden wissen will. Wirkungsgeschichtlich wäre u.a. auf die Erfolgsethik Benjamin Franklins zu verweisen, der sich in seiner Autobiographie explizit auf diese Formel in Spr 3,16 beruft. Vgl. B. Lang, Die weisheitliche Lehrrede. Eine Untersuchung zu Sprüche 1-7, 1972, S. 102 (Anm.).
  38. Der Aphorismus 104 nimmt ohne explizite Bezugnahme ein verwandtes Motiv Kierkegaards aus "Entweder/Oder" auf. Dort hatte der Gerichtsrat Wilhelm in seinen Briefen an den Ästhetiker die romantische Liebe als ästhetische Lebensform charakterisiert, als ein Beispiel für das ästhetische Stadium. (S. Kierkegaard, Entweder/Oder, Zweiter Teil, hg. von E. Hirsch und H. Gerdes, Gütersloh 1980, S. 194 u. 205f.) Ästhetisch ist es gerade wegen der Möglichkeit der Kränkung, die die romantische Liebe als ganz äußerlich ausweist. "Auch eine solche Liebe trägt hedonistische Züge, sofern sie Leidenschaft ist und daher Sehnsucht nach Erfüllung ihrer selbst. Sie möchte den Geliebten für sich allein besitzen. Bei aller Sympathie, die im liebenden Verlangen mitschwingt, dient doch das begehrte Objekt als Mittel zur Befriedigung des eigenen Strebens. Diese Selbstbezogenheit tritt dann besonders deutlich zutage, wenn die Erfüllung ausbleibt: im Unglück der Liebenden." W. Greve, Das erste Stadium der Existenz und seine Kritik. Zur Analyse des Ästhetischen in Kierkegaards 'Entweder/Oder II'" in: Theunissen/Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie S_ren Kierkegaards, Frankfurt 1979, S. 177-215, hier S. 190.
  39. Vgl. zu diesem Aphorismus auch B. Sichtermann u. P. Brückner, "Theodor W. Adorno: Constanze." Freibeuter 04, 1980. S. 125-129 sowie J. Georg-Lauer, "Constanze in der Postmoderne" In: Gamm/ Kimmerle (Hg.), Ethik und Ästhetik. Tübingen 1990, S. 58-66.
  40. Vgl. W. Henckmann, 'Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick'. Versuch, eine These Adornos zu verstehen in: Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaft, hg. von C.W. Thomsen und H. Holländer, Darmstadt 1984, S. 77-92, hier S. 80
  41. Das "Wie schön" kommt ein zweites Mal in den "Minima Moralia" im Aphorismus 129 "Dienst am Kunden vor", der die Ausnutzung der mimetischen Impulse durch die Kulturindustrie thematisiert. Dort heißt es: "Ihr (scil. der Kulturindustrie) Produkt ist gar kein Stimulus, sondern ein Modell für Reaktionsweisen auf nicht vorhandene Reize. Daher im Lichtspiel der begeisterte Musiktitel, die alberne Kindersprache, die blinzelnde Volkstümlichkeit noch die Großaufnahme des Starts (sic !) ruft gleichsam aus: wie schön!" An dieser Stelle kommt Adornos Kritik zu ihrem Recht, da die Kulturindustrie hier - wie Adorno selber schreibt - sich weniger den Reaktionen der Kunden anpaßt, als jene fingiert, ja sie mit ihnen einübt. Insoweit das Adjektiv "unschuldig" in MM 5 aber die spontane, nicht gezielt provozierte Reaktion meint, sehe ich nicht, was die Denunziation der Wahrnehmung eintragen soll. Unbenommen bleibt dem das Blühen des Baumes Wahrnehmenden doch die Möglichkeit, die spontane Wahrnehmung reflexiv einzuholen, angesichts der Differenz zu dem, was Adorno den universalen Verblendungszusammenhang nennt, und es als das Außerordentliche zu erkennen, das das Normale in Frage stellt.
  42. Adorno nennt das Grauen des Leidens an anderer Stelle "das Unsägliche, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte" (ST 85). Im Anhang zu den "Minima Moralia" heißt es ähnlich: "Was die Nazis den Juden antaten, war unsagbar: die Sprachen hatten kein Wort dafür, denn selbst Massenmord hätte gegenüber hätte gegenüber dem Planvollen, Systematischen und Totalen noch geklungen wie aus der guten alten Zeit des Degerlocher Hauptlehrers" (MM Anhang II). Vgl. auch die Meditationen zur Metaphysik "Nach Auschwitz" (ND 354-358). Vgl. auch D. Claussen, Auschwitz erinnern, Neue Rundschau 96, H. 3/4, Frankfurt 1985 ders., Abschied von gestern. Kritische Theorie heute, Bremen 1986, S. 16ff.
  43. Vgl. W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Gesammelte Schriften Band I/2, a.a.O., S. 697: "Das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert 'noch' möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist."
  44. "Die jüdische Religion duldet kein Wort, das der Verzweiflung alles Sterblichen Trost gewährte. Hoffnung knüpft sie einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit" (DA 30).
  45. Vgl. W. Brändle, Die Rettung des Hoffnungslosen. Die theologischen Implikationen der Philosophie Th. W. Adornos, Göttingen 1984 zum Bilderverbot: Chr. Dohmen, Das Bilderverbot. Seine Entstehung und Entwicklung im Alten Testament, Frankfurt 2/1987 zur dogmatischen Situierung von Versöhnung und Erlösung: O. Weber, Grundlagen der Dogmatik, 2 Bände, Neukirchen-Vluyn 5/1977, Bd. II, S. 203ff.
  46. In der Sekundärliteratur wird daher auch vom "Licht der Versöhnung" gesprochen vgl. W. Brändle, Die Rettung des Hoffnungslosen, a.a.O., S. 147.
  47. MM 21 (Schenken), 46 (Differenznivellierung im Idealismus), 66 (Toleranz), 72 (Aggression Grauen), 74 (Kultur), 144 (Mythos), 145 (Kunst), 152 (Dialektik).
  48. Gegen R. Bubner, Kann Theorie ästhetisch werden?, a.a.O., S. 79, der meint, Adorno lasse sich vom "Ideal einer eschatologischen Versöhnung" leiten, "in der alle Spannung beseitigt ... wäre". Ähnlich A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, in: ders., dass., a.a.O., S. 104: Versöhnung als "Perspektive einer wiederherzustellenden Einheit".
  49. Zum Kunstwerk als Paradigma von Versöhnung vgl. A. Wellmer, Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, a.a.O., S. 9-47.
  50. Der Aphorismus 152 verwendet das Wort "Erlösung" im Kontext des Hegelschen Gebrauchs des Wortes "Entäußerung". Dieses sei getragen von der Hoffnung, dass der "Gehorsam des privaten Willens die Erlösung von der privaten Willkür" bewirke.
  51. Vgl. F. Barth, Art. Erlösung, TRT Bd. 2, S. 29ff., hier S. 30.
  52. R. Bubner, Kann Theorie ästhetisch werden?, a.a.O., S. 74.
  53. Der Gedanke, dass der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, erinnert an Walter Benjamins "heimlichen Index", durch den die Vergangenheit "auf die Erlösung verwiesen wird" vgl. ders., Über den Begriff der Geschichte, a.a.O., S.693.
  54. Zur Prolepse bei Adorno vgl. M. Theunissen, Negativität bei Adorno, a.a.O., S. 54f. E. Thaidigsmann bezieht in seiner Analyse des Aphorismus' 153 (Der Blick der Erlösung, a.a.O., S. 498) den Konjunktiv auf die Erkenntnis, möchte jedoch die Erlösung selbst vom Konjunktiv ausgenommen wissen: "Daher ist alles, was er über Philosophie ... sagt, im Konjunktiv gehalten. Kein Postulat aber ist der zentrale Begriff, von dem die Forderung solchen Erkennens lebt: der Begriff der 'Erlösung' selbst". Das ist christlich-theologisch so, ob aber Adorno das auch so gedacht hat, will mir zweifelhaft erscheinen. Abgesehen vom letzten Satz des Aphorismus' verweist auch das "einmal" im Sinne von "künftig" im dritten Satz darauf, dass Erlösung allenfalls proleptisch gedacht ist. M. Theunissen verweist hier zu Recht auf ND 148: "Was anders wäre, hat noch nicht begonnen".
  55. In der aktuellen philosophisch-theologischen Debatte ist auch die Frage von "Versöhnung" und "Erlösung" wieder thematisch geworden. Konkret geht es darum, inwieweit die jüngere Kritische Theorie in der Gestalt von Jürgen Habermas explizit auf den Gedanken "einer umfassenden Erlösung, auch und gerade von der Moral" verzichtet habe. In dieser Hinsicht ist Habermas ein "Versöhnungsdefizit" (Anke Thyen) vorgeworfen worden. Insbesondere Helmut Peukert und Peter Eicher haben in diesem Sinne argumentiert vgl. H. Peukert, Kommunikatives Handeln, Systeme der Machtsteigerung und die unvollendeten Projekte Aufklärung und Theologie P. Eicher, Die Botschaft von der Versöhnung und die Theorie des kommunikativen Handelns beide in: E. Arens (Hg.), Habermas und die Theologie, Düsseldorf 1989. Habermas selbst nennt zwar Versöhnung als Antrieb seiner Arbeit, versteht darunter jedoch nur "die Versöhnung der mit sich selber zerfallenden Moderne" vgl. J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985, S. 202. Wie weit dieser Anspruch tatsächlich in der philosophischen Diskussion reduziert wurde, zeigt die Entgegnung von Micha Brumlik auf die Einwände von Peukert und Eicher: "In einem möchte man Eicher und allen, die mit Adorno im Rücken das Christentum rehabilitieren wollen, Recht geben: 'Erlösung' scheint kein theoriefähiger Begriff zu sein. Nur folgt hieraus allenfalls eine Grenze, aber kein Widerspruch und schon gar kein systematisches Scheitern der Theorie kommunikativen Handelns. Denn anders als die Metaphysik hat sie Ansprüche auf Erlösung nie erhoben. Will man der Theorie hieraus einen Vorwurf machen?" M. Brumlik, Um die Vernunft des Tröstens - Jürgen Habermas und die Theologie, Babylon 6/1989, S. 98-106. Mir scheint, Brumlik verfährt nach den Grundsatz "Machen wir uns größer, verkleinern wir das Metermaß". Der Verzicht, das Problem der "anamnetischen Solidarität" (H. Peukert) überhaupt anzugehen, weil man sich nur in Aporien verstricken könne, befreit nicht von der Fragestellung. Von einer "Neurose der Versöhnung" spricht auch Martin Seel und möchte "gegen den Gegensatz von Entzweiung und Versöhnung opponieren" (vgl. M. Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt 1985, S. 23). Auch Seel setzt dabei auf die Kunst, freilich in einer kommunikationstheoretisch abgemilderten Form: "Die skeptische Devise, das richtige Leben sei bloß ein vielfältig falsches und die rigorose Entgegnung, es könne ein richtiges Leben im falschen nicht geben, verraten beide die Lust der Vernunft, von der noch die List ihrer Entsagungen funkelt. Gegen ein derart ermüdetes Abschreiben protestiert das Wachhalten unseres Wissens von der Kunst der Entzweiung" (ebenda, S. 26). Adorno, gegen den der Einwand u.a. gerichtet ist, wird von ihm aber nicht getroffen, versteht er doch, wie gezeigt, Versöhnung als Differenzbewahrung.
  56. M. Theunissen, Negativität bei Adorno, a.a.O., S. 55f.
  57. Vgl. auch ND 370: "Bewusstsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt."
  58. E. Thaidigsmann, Der Blick der Erlösung, a.a.O., S. 492.
  59. Ebenda, S. 512.
  60. Daher gilt auch für Adorno, was dieser über Kafka schreibt: Mitten im Trüben fischt er nach dem Bild vom Glück (P 330).
  61. E. Thaidigsmann, Der Blick der Erlösung, a.a.O., S. 513.
  62. Ebenda, S. 496f.
  63. Auffällig ist jedenfalls, dass die Beschreibung, die Adorno von der Welt unter dem messianischen Licht gibt, ebenso gut eine Beschreibung informeller Malerei sein könnte: "verfremdet ... Risse ... Schründe ... entstellt ... ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus". Adornos eher beiläufiger Verweis aus dem Jahr 1959 auf die Malerei von Bernard Schultze, Emil Schumacher, Fritz Winter und Ernst Nay lässt eine derartige Konstellation als nicht abwegig erscheinen. Th. W. Adorno, Vorschlag zur Ungüte (OL 52-59), S. 55.
  64. P. Steinacker, Verborgenheit als theologisches Motiv in der Ästhetik, NZSTh 23, 1981, S. 254-271, hier S. 260.
  65. Vgl. ÄT 40, 106, 159, 416 DA 36 MM 92, 151 ND 206f. 373, 394 ST 28 vgl. auch "Traumprotokolle" SCH 20.2, 578
  66. G. Koch, Mimesis und Bilderverbot in Adornos Ästhetik, a.a.O., S. 39.
  67. Das so in Anspruch genommene Bilderverbot und die von Adorno anvisierte Mimesis widersprechen sich nur deshalb nicht, weil sie völlig verschiedene Realitäten charakterisieren: Während das Bilderverbot von Adorno im wesentlichen als Abbildungsverbot verstanden wird, ist Mimesis ein Angleichungsverhalten. Das Bilderverbot tritt letztlich auf der sprachlichen Ebene als Bestreitung einer Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung in Funktion, während Mimesis eine Art vorsprachlicher Anverwandlung meint und damit gerade nicht unter das Bilderverbot fällt. Man könnte daher das Bilderverbot als Schritt gegen die Verdinglichung der Mimesis verstehen.
  68. In der "Negativen Dialektik" beschreibt Adorno unter impliziter Aufnahme eines Disputs zwischen Max Horkheimer und Walter Benjamin eine weitere unverzichtbare "Idee einer Verfassung der Welt", nämlich dass "nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre" (ND 395). Vgl. dazu H. Peukert, Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie - Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Urteilsbildung, Frankfurt 1978, S. 305-310 (Die Auseinandersetzung um die Abgeschlossenheit oder Unabgeschlossenheit des Vergangenen Das Paradox der anamnetischen Solidarität).
  69. Zum Verhältnis von Allgemeinen und Besonderen bei Adorno vgl. C. Braun, Kritische Theorie versus Kritizismus. Zur Kant-Kritik Theodor W. Adornos. Berlin/New York 1983. H. Scheible, Geschichte im Stillstand. Zur Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos, text und Kritik (Sonderband Th. W. Adorno) 2/1983, S. 92ff. A. Wellmer, Adorno. Anwalt des Nicht-Identischen, a.a.O., S. 135-166 M. Tichy, Th. W. Adorno. Das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in seiner Philosophie, Bonn 1977 (dazu: Th. Baumeister, Th. W. Adorno - nach zehn Jahren, Philosophische Rundschau 28, 1981, S. 1ff.). Eine besondere Rolle, die hier aus Platzgründen nicht weiter thematisiert werden kann, kommt bei der Bestimmung des Allgemeinen und Besonderen der Sprache und den Begriffen zu. Vgl. A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, a.a.O., S. 12ff., 70ff., 85ff., 156f.
  70. W. Bender, Ethische Urteilsbildung, a.a.O., S. 127.
  71. Hier zeigt sich eine Verbindung zum Denken von J.-Fr. Lyotard, der zur angestrebten Gerechtigkeit jenseits der Idee des Konsenses vorschlägt: "der Vielfalt und Unübersetzbarkeit der ineinander verschachtelten Sprachspiele ihre Autonomie, ihre Spezifität zuzuerkennen, sie nicht aufeinander zu reduzieren mit einer Regel, die trotzdem eine allgemeine Regel wäre 'laßt spielen ... und laßt uns in Ruhe spielen'" Das postmoderne Wissen, a.a.O., S. 131.
  72. Die Dekonstruktion J. Derridas ist genuin Adornos Denken verwandt: "Mit versteckten, gefährlichen Bewegungen, die immer wieder dem zu verfallen drohen, was sie dekonstruieren möchten, müssen, im Rahmen der Vollendung, die kritischen Begriffe in einen vorsichtigen und minuziösen Diskurs eingebettet werden ..., muss mit äußerster Sorgfalt ihre Zugehörigkeit zu jener Maschine bezeichnet werden, die mit ihrer Hilfe zerlegt werden kann. Zugleich gilt es, die Spalte ausfindig zu machen, durch die, unnennbar, durchschimmert, was nach der Vollendung ... kommt" J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt 1974, S. 28f.
  73. D. Mieth, Ansätze einer Ethik der Kunst, a.a.O., S. 481.
  74. W. Bender, Ethische Urteilsbildung, a.a.O., S. 126-137 (Negative Ethik. Th. W. Adorno).
  75. Auf die destruktive Kraft des Schönen verweist implizit auch Kierkegaard. So heißt es über die Kategorie der Schönheit: "Was Poesie und bildende Kunst anlangt, möchte ich Dich an eine frühere Bemerkung von mir erinnern, dass sie nämlich nur eine unvollkommene Versöhnung mit dem Leben gewähren, sowie, dass Du, wenn Du Deinen Blick auf Poesie und bildende Kunst richtest, nicht die Wirklichkeit betrachtest ... wenn Du die Forderungen der Kunst in ihrer ganzen Strenge geltend machen willst, (wirst Du) wahrscheinlich gar wenig Schönes im Leben finden" S. Kierkegaard, Entweder/Oder, 2. Teil, a.a.O., S. 291.