Die ästhetische Kritik der Ethik

in Theodor W. Adornos "Minima Moralia"

von Andreas Mertin


II - VON DER ETHIK ZUR ÄSTHETIK

In den "Minima Moralia" ist die Frage nach der aktuellen Möglichkeit von Subjektivität, nach dem Subjekt in seiner Einzigartigkeit, zentral.[1] Diese Reflexionen geschehen in dem Bewusstsein, dass es dafür schon zu spät sein könnte, dass das Individuum bereits "am Ende" sei. Das Individuum wird als historisch entstandenes begriffen und in einer von der Kritik der politischen Ökonomie gefassten Geschichtsphilosophie spezifiziert: "Das Individuum verdankt seine Kristallisation den Formen der politischen Ökonomie, insbesondere dem städtischen Marktwesen ... Das Individuum spiegelt gerade in seiner Individuation das vorgeordnete gesellschaftliche Gesetz der sei's noch so vermittelten Exploitation wider. Das besagt aber auch, dass sein Verfall in der gegenwärtigen Phase selber nicht individualistisch, sondern aus der gesellschaftlichen Tendenz abgeleitet werden muss, wie sie vermöge der Individuation und nicht als deren bloßer Feind sich durchsetzt" (MM 97). Damit grenzt sich Adorno zugleich von jener "reaktionären Kritik der Kultur" ab, die die Verantwortung für den Niedergang des Subjekts "dem Individuum an sich, als einem losgelösten und inwendigen" aufbürden, statt "Kritik am gesellschaftlichen principium individuationis zu üben". Sie verdrängen den historischen Zusammenhang von Individualismus und Liquidation des Individuums: "Der Zustand, in dem das Individuum verschwindet, ist zugleich der fessellos individualistische, in dem 'alles möglich' ist" (MM 97). Der Verfall des Individuums beginnt freilich mit dessen Genese: an der Schwelle des Mythos zum hellenistischen Zeitalter. Odysseus, so führt Adorno im ersten Exkurs der "Dialektik der Aufklärung" aus, ist die erste Manifestation des rational berechnenden Geistes.[2] Dessen späte Entwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft fasst der Artikel "Individuum" der "Soziologischen Exkurse" des Instituts für Sozialforschung so zusammen:

"Mit der Inthronisierung des Konkurrenzprinzips seit der Aufhebung der Zunftschranken und dem Beginn der technischen Revolution entfaltete die bürgerliche Gesellschaft eine Dynamik, die das einzelne Wirtschaftssubjekt zwingt, seine Erwerbsinteressen rücksichtslos und um das Wohl der Allgemeinheit unbekümmert zu verfolgen. Die protestantische Ethik, der bürgerlich-kapitalistische Pflichtbegriff lieferten den Gewissenszwang dazu. Das antifeudale Ideal der Autonomie des Individuums, das dessen politische Selbstbestimmung meinte, verwandelte sich im Wirtschaftsgefüge zu jener Ideologie, deren es zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Steigerung der Leistung bedurfte. So wird dem total verinnerlichten Individuum Wirklichkeit Schein und Schein Wirklichkeit ... Das geistige Medium der Individuation, Kunst, Religion, Wissenschaft, verkümmert zum privaten Besitz Einzelner, deren Subsistenz die Gesellschaft nur zuweilen noch sichert. Sie, die das Individuum zu Entfaltung brachte, entfaltet sich, indem sie es sich entfremdet und zerbricht. Das Individuum aber verkennt die Welt, von der es bis ins Innerste abhängt, als wäre es seine eigene" (SE 49).

So wird zur "Signatur des Zeitalters", dass kein Mensch "sein Leben in einem einigermaßen durchsichtigen Sinn, wie er früher in der Abschätzung der Marktverhältnisse gegeben war, mehr selbst bestimmen kann ... Das objektive Ende der Humanität ... besagt, dass der Einzelne als Einzelner, wie er das Gattungswesen Mensch repräsentiert, die Autonomie verloren hat, durch die er die Gattung verwirklichen könnte" (MM 17). Kein Standpunkt kann vorausgesetzt werden, "der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist" (MM 153), die Gesellschaft ist durch und durch falsch geworden, jede Perspektive verschlossen durch den universalen Verblendungszusammenhang[3]. Weil das herrschende Prinzip noch jedes Besondere in seinen Bann zieht, wird das Besondere nur noch zur "Deklinationsform des Allgemeinen und von diesem nicht wesentlich verschieden".[4] Dass diese Situation nicht jedes Denken aporetisch werden lässt, liegt darin begründet, dass noch die Idee der absoluten Verzweiflung Ausdruck der falschen Gesellschaft wäre: "Der verstörte und beschädigte Weltlauf ist ... inkommensurabel auch dem Sinn seiner reinen Sinnlosigkeit und Blindheit, nicht stringent zu konstruieren nach deren Prinzip. Er widerstreitet dem Versuch verzweifelten Bewusstseins, Verzweiflung als Absolutes zu setzen. Nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung diese ist vielmehr seine Geschlossenheit" (ND 395f.)[5]. Kritisches Denken hat daher "das Besondere vor dem Allgemeinen in Schutz zu nehmen, das Nichtidentische der Dinge, das worin sie jenseits aller begrifflichen Erfassung sie selbst sind, vor dem Zugriff des Allgemeinen bewahren".[6] Freilich bleibt auch die kritische Philosophie, deren (utopische) Aufgabe wäre, "das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen" (ND 21), an das Medium der "meinenden Sprache" (SCH 8, 254) gebunden. Adorno begreift "signifikative, kommunikative Sprache als Exekutionsorgan von Begriffen, die Menschen und Dinge so erfassen, dass ihr Eigensinn ausgemerzt und sie dem Verwertungszusammenhang verfügbar gemacht werden können".[7] Die Philosophie bedarf deshalb eines Korrektivs, das exemplarisch zeigt, was es heißt, "den Gegenstand im Innewerden ganz sich selbst sein zu lassen".[8] Dieses Korrektiv ist die Kunst: "Kunst komplettiert Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene" (ÄT 87). Die Eigenschaft, die Kunst für diese Rolle auszeichnet, ist die Mimesis. In der Mimesis übermittelt sich eine unkorrumpierte Einstellung, die mimetische Verhaltensweise ist "eine Stellung zur Realität diesseits der fixen Gegenübersetzung von Subjekt und Objekt" (ÄT 169).[9] In der "Dialektik der Aufklärung" hatten Adorno und Horkheimer als Kern der neuzeitlichen Vernunftgeschichte die Herrschaft über die äußere Natur, die innere Natur und daraus folgend die Herrschaft des Menschen über den Menschen[10] bestimmt. Die Mimesis der Kunst kennzeichnet dagegen ein nicht herrschaftliches, aber auch nicht knechtisches[11] Verhältnis zu den Dingen, mit der mimetischen Verhaltensweise schmiegt sich der Geist den Sachverhalten "als seinem Andern widerstandslos an"[12].

Kunst ist nicht schon als solche Gegeninstanz zur instrumentellen Vernunft der herrschenden Praxis. Gerade ihr widerständiges Moment, dem Reich der Zwecke enthoben, nicht verwertbar zu sein, wird nämlich von der Kulturindustrie aufgegriffen und zur Entlastung von der Arbeitswelt und damit auch zur Steigerung der Arbeitsproduktivität in den Freizeitbereich kalkulierend einbezogen. Damit wird auch das mimetische Moment der Wahrnehmung von Kunst zerstört, Kunstrezeption der industriellen Arbeit angenähert[13]: "An der Einheit der Produktion soll der Freizeitler sich ausrichten" (DA 132). Jedes Produkt wird von der Kulturindustrie genau auf seinen Effekt berechnet, jede Bewegung im Film unterliegt einem exakten Kalkül auf Wirkung, jede Note in der Musik wird in den Jargon eingegliedert, jedes Sujet argwöhnisch durchmustert, nichts wird dem Zufall überlassen, alles Störende eliminiert. Kunst wird zum gezielten Amusement:

"Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, dass er nichts anderes mehr erfahren kann, als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche Inhalt ist bloß verblasster Vordergrund was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen" (DA 145).[14]

Wahrnehmung wird zur Aneignung, zum Kriterium der Kunst ihr Erfolg, das Erkennen des bereits Bekannten, die Durchschaubarkeit des intendierten Effekts, ihre Verwendbarkeit als Hintergrund. Die Autonomie der Kunstwerke wird tendenziell liquidiert.[15] Wird in der von der instrumentellen Vernunft beherrschten Gesellschaft alles nur unter dem Aspekt wahrgenommen, dass es zu etwas anderem dienen kann, dann muss die kritische Reflexion sich dem Unproduktiven, Nichtfungiblen und damit der herrschenden Tendenz Widerständigen zuwenden. So gerät insbesondere jene Kunst ins Blickfeld, die nicht der Entlastung von der und für die Arbeitswelt dient, die also nicht der Kategorie der Nützlichkeit unterworfen ist, sondern eine andere Weise des Arbeitens und des Umgangs mit der Dingwelt repräsentiert. "Das Moment am Kunstwerk, durch das es über die Wirklichkeit hinausgeht ..., besteht nicht in der geleisteten Harmonie, der fragwürdigen Einheit von Form und Inhalt, Innen und Außen, Individuum und Gesellschaft, sondern in jenen Zügen, in denen die Diskrepanz erscheint, im notwendigen Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung zur Identität" (DA 139). Auf dieser Überlegung, dem der Kunst immanenten notwendigen Scheitern der Anstrengung zur Identität, basiert für Adorno, wie im folgenden zu zeigen sein wird, die ästhetische Kritik der nichtästhetischen Diskurse und damit auch der Ethik in den "Minima Moralia".

Anmerkungen

  1. Vgl. zum folgenden J. Früchtl, Minima Positiva oder Paare, Passanten und der Einzelne, Umbruch 3/1988, S. 70-74 sowie H.-H. Kappner, Adornos Reflexionen über den Zerfall des bürgerlichen Individuums, Text und Kritik Sonderband Th. W. Adorno, München 1983, S. 44-63.
  2. Fr. Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegriffen, a.a.O., S. 21.
  3. "Die Gesellschaft wird erfahren als eine 'Ordnung, in der alle Mauselöcher verstopft sind' (MM 89). Die von überflüssiger und blinder Herrschaft bestimmte Gesellschaft ist für Adorno eine völlig 'verwaltete Welt' (ND 1831). Im Verlauf der Geschichte, die für ihn eine Eskalation des Unheils ist, hat sie sich zu einem 'universalen Verblendungszusammenhang' (ND 364, 397) entfaltet und damit das ihr zugrundeliegende Unwesen als 'vollendete Negativität' (MM 153) 'zu sich selbst gebracht' ... Adorno spricht auch von der 'Totenstarre der Gesellschaft' (MM 90), die eine 'erkaltete Welt' (MM 5) sei: 'Leben ist zur Ideologie seiner eigenen Absenz geworden.' (MM 121) ... Unter dem totalitären Druck der Verhältnisse gibt es daher 'nichts Harmloses mehr' (MM 5), da es aus der ubiquitären 'Verstricktheit keinen Ausweg' geben kann (MM 6). 'Es gibt kein richtiges Leben im falschen.' (MM 18)". B. Recki, Aura und Autonomie, a.a.O., S. 159.
  4. B. Recki, Aura und Autonomie, a.a.O., S. 161.
  5. Vgl. auch MM 72: "Die Welt ist das System des Grauens, aber darum tut ihr noch zuviel Ehre an, wer sie ganz als System denkt, denn ihr einigendes Prinzip ist die Entzweiung, und sie versöhnt, indem sie die Unversöhnlichkeit von Allgemeinem und Besonderem rein durchsetzt. Ihr Wesen ist das Unwesen ihr Schein aber, die Lüge, kraft deren sie fortbesteht, der Platzhalter der Wahrheit".
  6. B. Recki, Aura und Autonomie, a.a.O., S. 161.
  7. A. Kuhlmann, Das stumme Antlitz der Kunst. Sprachkritische Aspekte der Ästhetik Adornos, Literaturmagazin 24, Reinbek 1989, S. 61-74, hier S. 64.
  8. B. Recki, Aura und Autonomie, a.a.O., S. 161.
  9. Der Kontext dieses Satzes in der "Ästhetischen Theorie" verdient eine genauere Betrachtung er lautet vollständig: "Die mimetische Verhaltensweise, eine Stellung zur Realität diesseits der fixen Gegenübersetzung von Subjekt und Objekt, wird durch die Kunst, das Organ der Mimesis seit dem mimetischen Tabu, vom Schein ergriffen und, komplementär zur Autonomie der Form, geradezu dessen Träger". Hier ist in knappster Form ein Kapitel der "Dialektik der Aufklärung" zusammengefasst. Die mimetische Verhaltensweise charakterisiert die magische Stufe, den Zauberer, der sich dem Dämonen ähnlich macht (DA 15) oder Natur durch Angleichung zu beeinflussen sucht (DA 25) ein zwar zweckhaftes Verhalten, aber "nicht in fortschreitender Distanzierung von Objekt" (DA 13). Das mimetische Tabu ereilt den Zauber wie die Erkenntnis, die den Gegenstand wirklich trifft, durch das die Welt unterwerfende und ordnende Selbst (DA 20). In der Kunst lebt das magisch-mimetische Erbe fort, im ästhetischen Schein wiederholt sich das magische Ereignis: "Erscheinung des Ganzen im Besonderen" (DA 25). Zur Spannung von "Mimesis und Form" vgl. Chr. Menke, Die Souveränität der Kunst, a.a.O., S. 102ff.
  10. DA 10.: "... der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten ... Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen". DA 32: "Die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst". DA 34: "... mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext" DA 20: "... die Herrschaft in der Sphäre des Begriffs erhebt sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit". Am Beispiel der Odyssee: DA 38ff.
  11. Es gibt auch einen negativen Begriff der Mimesis, wenn von der "zwangshaften", also durchaus knechtischen, "Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren" (DA 176) bzw. von der Orientierung der Kulturindustrie an der "mimetischen Regression" (MM 129) gesprochen wird. Mimesis ist abhängig von der Konstellation, in die sie eintritt: "Der mimetische Impuls - in der Kulturindustrie Zwang, ans falsche Bild sich anzupassen, wird in glückhafteren Momenten zur Erfüllung einer vorsprachlichen, nicht-repressiven Aneignung und Transformation von Natur im rätselhaften 'Bild'". G. Koch, Mimesis und Bilderverbot in Adornos Ästhetik. Ästhetische Dauer als Revolte gegen den Tod, Babylon 6, 1989, S. 36-45, hier S. 39.
  12. R. Bubner, Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos in: ders., Ästhetische Erfahrung, a.a.O., S. 70-98, hier S. 86.
  13. Vgl. S. Specht, Erinnerung als Veränderung. Über den Zusammenhang von Kunst und Politik bei Th. W. Adorno, Mittenwald 1981, insbes. S. 23f.
  14. Selbst wirkliches Amusement, "das entspannte sich Überlassen an bunte Assoziation und glücklichen Unsinn" wird beschnitten. Adorno denkt dabei an den Zirkus, die "eigensinnig-sinnverlassene Könnerschaft von Reitern, Akrobaten und Clowns", welche freilich auch "unerbittlich von der planenden Vernunft aufgestöbert" und dem Verwertungsziel zugeführt wird. (DA 151)
  15. "Das Prinzip der idealistischen Ästhetik, Zweckmäßigkeit ohne Zweck, ist die Umkehrung des Schemas, dem gesellschaftlich die bürgerliche Kunst gehorcht: der Zwecklosigkeit für Zwecke, die der Markt deklariert. Schließlich hat in der Forderung nach Unterhaltung und Entspannung der Zweck das Reich der Zwecklosigkeit aufgezehrt" (DA 167).