Die ästhetische Kritik der Ethik
in Theodor W. Adornos "Minima Moralia"
von Andreas Mertin
I - EINLEITUNG
In den "Minima Moralia" kommt Kunst nicht nur am Rande vor, sie nimmt vielmehr eine fokussierende Rolle ein.[1] Das ist ein für ethische Reflexionen überraschender Tatbestand. Ein Blick in zeitgenössische - theologische wie nichttheologische - Ethiken zeigt, dass Kunst, Ästhetik oder das Schöne allenfalls marginal, häufig sogar pejorativ auftauchen.[2] Nach Adorno sieht sich Theorie dagegen aufs "Quere, Undurchsichtige, Unerfasste verwiesen ... An der Kunst lässt sich das am ehesten einsehen" (MM 98).[3] Die Kunst bietet sich an, denn ihre "totale Zwecklosigkeit dementiert die Totalität des Zweckmäßigen in der Welt der Herrschaft, und nur kraft solcher Verneinung, welche das Bestehende an seinem eigenen Vernunftprinzip aus dessen Konsequenz vollbringt, wird bis zum heutigen Tage die existierende Gesellschaft einer möglichen sich Bewusst" (MM 144). Notwendig erscheint der Rekurs auf die Kunst, weil das autonome (bürgerliche) Subjekt, dessen Aufgabe die Kritik des falschen Lebens wäre, "aufgelöst", "ausgelöscht", "nichtig" ist. Nach dem "Tod des Subjekts" tritt die Kunst bzw. das Kunstwerk an dessen Stelle. Kunstwerke "sprechen, schweigen, klagen an, verstummen, opponieren, erheben Einspruch und - die Urmetapher der Subjektivität: Sie schlagen die Augen auf".[4]
Jürgen Habermas hat in der Zentrierung auf die Kunsterfahrung einen kardinalen Fehler der Theorie Adornos sehen wollen, eine "Abtretung der Erkenntnis-Kompetenzen an die Kunst".[5] Die ästhetisch motivierte Vernunftkritik setze so tief an, dass sie sich über ihre eigene Verblendung nicht mehr aufklären könne. Dagegen käme es darauf an, "die normativen Grundlagen der kritischen Gesellschaftstheorie" so tief anzulegen, "dass sie von einer Dekomposition der bürgerlichen Kultur ... nicht berührt worden wäre".[6] Bei Adorno habe die Verheißung der Utopie "sich in die Spiegelschrift des esoterischen Kunstwerks zurückgezogen".[7] Habermas wirft Adorno einerseits vor, die Kunst zugunsten der Erkenntnis dessen, wie die Welt ist, und andererseits zur Beschreibung dessen, wie die Welt sein sollte, missbraucht zu haben, m.a.W. Ästhetik falsch bestimmt zu haben. Es wird zu prüfen sein, ob und inwiefern dieser Vorwurf für Adorno zutrifft.
Der Frage nach dem Stellenwert der Kunst für Adornos Erörterungen zur Ethik[8] will ich in Auseinandersetzung mit den "Minima Moralia" nachgehen untersucht werden soll anhand einzelner Aphorismen, welche Rolle die Kunst in der Generierung vernunftkritischer Geltungsansprüche gegenüber außerästhetischen Diskursen, also auch gegenüber denen über das richtige Leben spielt bzw. spielen kann.
Die mit den "Minima Moralia" aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik geht weit über ihren zeitgeschichtlichen Kontext hinaus. Aktuell diskutiert wird sie in der Auseinandersetzung mit Arbeiten von Emmanuel Lévinas[9], in der neu aufgeflammten Diskussion um die Annäherung von Kunst und Lebenswelt bzw. die Ästhetisierung der Lebenswelt[10] und im Rahmen der von postmodernen Theoretikern auch für Ethik und Ästhetik vorgenommenen agonalen Diskursdifferenzierung.[11] Viel hängt jeweils davon ab, wie "Ästhetik" bzw. "Ethik" bestimmt werden: "Eine Ästhetik des l'art pour l'art beispielsweise ist ... inkompatibel mit Ethiken, die ästhetischer Höhe auch einen sittlichen Wert beimessen und daher statt des Rückzugs des Ästhetischen auf die Kunst ein Vordringen derselben in den Alltag fordern ... 'Autonomie der Kunst' ist eo ipso schon ein Programm gegen moralische Restriktion, was bedeutet: Es definiert Ethisches mit".[12] Aber welche Schlussfolgerung wäre daraus zu ziehen, etwa, dass jeder ästhetischen Theorie eine ethische zugeordnet werden kann?[13] Korrespondiert Adornos ästhetischer Theorie eine ethische? Aber wie verhalten sich Ästhetik und Ethik unter dem Bann des 'universalen Verblendungszusammenhangs'[14] zueinander?
Dass Kunst und Ästhetik in den "Minima Moralia" kritisch in Anspruch genommen werden ist unbestreitbar, offen ist jedoch die Frage, wie das geschieht. Zum einen kann Kunst als kritische Einspruchsinstanz gegenüber den schlechten Tendenzen der Gesellschaft in dem Sinn verstanden werden, dass in der Kunst erscheint, wozu die Gesellschaft erst werden soll. Das hätte die Konsequenz, dass ein Zustand der Gesellschaft denkbar wird, in dem die Kunst obsolet würde.[15] Zum anderen kann die Diskursdifferenzierung so weit getrieben werden, dass Kunst und Gesellschaft unbezogen nebeneinander stehen, mithin Kunst als l'art pour l'art, als letzter Zufluchtsort verzweifelter Theorie in Ästhetizismus umschlägt.[16] Für beide Tendenzen gibt es Belege in der ästhetischen Theorie Adornos, in beiden Fällen wird die ästhetische Autonomie unterlaufen.[17] Statt dessen wäre an den Texten Adornos zu zeigen, wie die Autonomie der Kunst, hier verstanden als partikulares, von allen nichtästhetischen Diskursen abgesetztes, eigengesetzliches Geschehen, und die Souveränität der Kunst, hier verstanden als kritischer Übergriff auf alle nichtästhetischen Diskurse, zusammengedacht werden können, ohne ihrerseits wieder in Affirmation umzuschlagen. So verstanden wäre ästhetische Erfahrung eine permanente Gefährdung auch des ethischen Diskurses. In der Mehrzahl der aktuellen Versuche, Ethik und Ästhetik in eine Relation zu bringen, zeigt sich dagegen weiterhin die Tendenz, bestimmte "Leistungen" der Ästhetik, der ästhetischen Erfahrung in Gebrauch zu nehmen, m.a.W. ästhetische Erfahrung heteronom einzubinden, z.B. Ästhetik als Fundament, Strukturanalogie, Wahrnehmungsschulung der Ethik zu verstehen. Ansatzweise möchte ich gegen diese Versuche der ethischen Einbindung der Ästhetik zeigen, dass Kunst ihre souveräne Rolle nur im Widerstreit zu allen anderen Diskursen ausüben kann, dass jede Form der (begründenden, fundierenden) Verortung der Autonomie der Kunst zuwiderläuft und in Heteronomie umschlägt.
Im folgenden will ich den Gründen nachgehen, die zur Verlagerung ethischer Fragestellungen in ästhetische geführt haben dabei geht es um Adornos Geschichtsdiagnose, den "universalen Verblendungszusammenhang" und die Dekonstruktion des bürgerlichen Subjekts. Die zugrunde liegende Frage ist, warum die Kunst überhaupt in die Lage gerät, "Stellvertreterfunktionen" für anderes einzunehmen, warum also der Niedergang des bürgerlichen Subjekts eine Bedeutung für Ästhetik und Kunst haben sollte (II). Im nächsten Schritt will ich versuchen, einige ethische Motivkreise der "Minima Moralia" aufzugreifen, vor allem solche, die für die sich anschließende Frage nach der Bedeutung der Kunst für die Lehre vom richtigen Leben wichtig sind.[18] Dabei kann die vorliegende Arbeit nur exemplarisch vorgehen, denn eingestandenermaßen besteht nicht nur gegenüber den "Minima Moralia" die Unmöglichkeit einer Paraphrasierung[19] (III). Im nächsten Abschnitt geht es dann um die Bedeutung, die Adorno in einzelnen Aphorismen der "Minima Moralia" dem Ästhetischen, der Kunst und einzelnen Kunstwerken zuweist (IV). Wie diese Zuweisungen unter den Stichwörtern "Autonomie und Souveränität" reformuliert werden können, soll anschließend gezeigt werden (V). Ziel der Arbeit soll die Auseinandersetzung mit der Frage sein, ob und wie das vernunftkritische Potential der ästhetischen Negation auf die Ethik bezogen werden kann.
Anmerkungen
- Vgl. D. Mieth, Ansätze einer Ethik der Kunst Handbuch der christlichen Ethik, hg. von A. Hertz u.a. Gütersloh/Stuttgart 1979, Band 2, S. 474ff., hier S. 481: "Nicht ohne Grund sind Adornos 'Minima Moralia' vor allem durch die Kunst gesehene Perspektiven des Endes der 'Moral' als Ausdruck der Identifikation mit bestehenden Zuständen, der Gleichgültigkeit und Komplizenschaft, der Unfähigkeit zu leiden und zu trauern".
- Für den theologischen Bereich vgl. Chr. Frey, Theologische Ethik, Neukirchen-Vluyn 1990, S. 06: "Mit dem Gekreuzigten wird die Wahrheit zum Anstoß und die Schönheit der Kunst zum bloßen Schein". Ansonsten gilt weiter W. Trillhaas Urteil aus dem Jahr 1970: "Die heutige Literatur zum Problem der Kunst in ihrem Verhältnis ... zur Ethik ist schmal". W. Trillhaas, Ethik, Berlin 3/1970, S. 277.
- Ich zitiere im folgenden die Werke Th. W. Adornos nach folgenden Sigeln: SCH = Gesammelte Schriften / MM = Minima Moralia / ÄT = Ästhetische Theorie / DA = Dialektik der Aufklärung / ND = Negative Dialektik / NL = Noten zur Literatur / OL = Ohne Leitbild / P = Prismen / PN = Philosophie der neuen Musik / PT 1 u. 2 = Philosophische Terminologie 1 u. 2. / ST = Stichworte. Den Sigeln folgen jeweils die Seitenangaben die MM werden abweichend unter Angabe der Aphorismus-Nr. zitiert. Die Ausgaben, nach denen zitiert wird, sind im Literaturverzeichnis mit den Sigeln gekennzeichnet.
- B. Recki, Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei W. Benjamin und Th. W. Adorno, Würzburg 1988, S. 83.
- Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt 1981, Band 1, S. 489f. und S. 512ff. ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt 1988, S. 219f.
- J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a.a.O., S. 156.
- Ebenda, S. 220.
- Explizite Darstellungen und Erörterungen zur Ethik Adornos fehlen noch, wenn man einmal von R. Schurz, Ethik nach Adorno, Frankfurt 1985 absieht. Darin spiegelt sich sicher auch der von Adorno diagnostizierte Umstand, dass dieser Bereich der Philosophie der Vergessenheit verfiel (MM S. 13).
- Vgl. H. Luther, Subjektwerdung zwischen Schwere und Leichtigkeit - (auch) eine ästhetische Aufgabe? NZSTh 33, 1991, S. 183-198. Luther plädiert - im Anschluss an Lévinas - für eine Koinzidenz von Ethik und Ästhetik anhand der Frage der Wahrnehmung des Anderen: "Ich denke aber, dass jene Beziehung zum und Wahrnehmung des Anderen, die nach Lévinas konstitutiv für die Ethik ist, der Struktur nach auch als ästhetische Erfahrung beschrieben werden kann. Wenn diese Beschreibung gelingen sollte, hieße das, dass Ethik gerade in der Ästhetik gründet, oder anders, dass die ästhetische Erfahrung bereits implizit eine ethische Dimension hat" (S. 189).
- Vgl. B. Lindner, Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis? Über die Aktualität der Auseinandersetzung mit den historischen Avantgardebewegungen in: Theorie der Avantgarde - Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft, Frankfurt 1976 sowie die einzelnen Beiträge in dem Sammelband "Ethik und Ästhetik", hg. von Gamm /Kimmerle. Tübingen 1990, Vgl auch: R. Bubner, "Mutmaßliche Umstellungen im Verhältnis von Leben und Kunst" und "Ästhetisierung der Lebenswelt", beide in: ders., Ästhetische Erfahrung, Frankfurt 1989. S. 121ff. und S. 143ff.
- Vgl. J.-Fr. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Bremen 1982.
- W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, S. 298 und 300.
- Ebenda, S. 303: "So wie ästhetische Verhältnisse als Sozialmodelle gelesen werden können, so kann man auch zu jeder Ethik eine strukturell entsprechende Ästhetik schreiben."
- Th. W. Adorno, ND 364, 395ff.: "universaler Verblendungszusammenhang objektiver Verblendungszusammenhang P 25: gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang ÄT 252 ST 34, 42, 179 PN 49 DdA 48 MM 4, 48, 96, 103, 131: "totale objektive Verblendung" MM 9: "universale Unwahrheit".
- Darauf deuten verschiedene Äußerungen Adornos: ÄT 386f. OL 182 PN 24 u.ö.: "Erst einer befriedeten Menschheit würde die Kunst absterben". ÄT 55: "Erfüllte sich die Utopie von Kunst, so wäre das ihr zeitliches Ende".
- Chr. Menke verweist hier insbesondere auf Th. W. Adornos Essays zu George und Valery und die Ausführungen zum ästhetischen Schein in der "Ästhetischen Theorie" vgl. Chr. Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt 1988, S. 20 (Anm. 2).
- Ebenda, insbes. S. 173ff. Chr. Menke zeigt im Anschluss an Derrida, dass noch in der als Differenz zur (schlechten) Gesellschaft konzipierten Autonomie der Kunst die Affirmation der bestehenden Verhältnisse eingeschlossen ist.
- N. Bolz, "Ästhetik jenseits von Gut und Böse" In: Gamm/Kimmerle (Hg.), Ethik und Ästhetik, a.a.O., S. 186: "Nur scheinbar reduziert sich der ethische Anspruch auf Minima Moralia - die großen Themen der Ethik perennieren im ästhetischen Inkognito".
- Fr. Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt 2/1975, S. 9 H. Schnädelbach, Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno in: Friedeburg/Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt 1983, S. 66ff., hier S. 68 M. Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt 1981, S. 212 Adorno selbst wiederholt des öfteren: "Was ich schreibe, opponiert geradezu der Resümierbarkeit" (SCH 8, 574).
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