1997

Die religiöse Welt der Video-Clips

von Andreas Mertin

aus: Die Brücke. Zeitschrift für Schule und Religionsunterricht im Land Bremen, Heft 1, 1997, S. 29-33

"Es waren einmal die Massenmedien, sie waren böse, man weiß, und es gab einen Schuldigen. Ferner gab es die Tugendhaften, die ihre Verbrechen anklagten. Und die Kunst (ah, zum Glück), die Alternativen anbot für jene, die nicht Gefangene der Massenmedien sein wollten. Gut, das alles ist nun vorbei. Wir müssen noch einmal ganz von vorne anfangen, uns zu fragen, was läuft." [Umberto Eco, Die Multiplizierung der Medien]

Die Spurensuche nach Religion in den Massenmedien

Die Spurensuche nach "Religion im Alltag" hat die Massenmedien nur selten im Blick. Die Massenmedien, so schreibt der Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß, "bedrohen mit dem Vorrang des Zeichens über das Wort, mit der Schockwirkung und Überflutung durch aufzunehmende Reize, mit der manipulativen Gewalt von Informationen, die sich nur noch speichern, kaum mehr in persönliche Erinnerung integrieren lassen, zugleich die Bildung von ästhetischer Erfahrung im traditionellen Sinn." Und auch der Symboldidaktiker Peter Biehl meint, daß "die allegorischen Figuren der Comic-Strips, TV-Serien und Video-Clips, die zu Kultfiguren werden können, in ihrer Oberflächlichkeit wie eine Sperre gegen die 'Tiefe' religiöser Symbole wirken".

Bei Lehrerfortbildungen begegne ich häufig jenen Pädagogen, die ostentativ auf die Nutzung der Massenmedien verzichten, dies als programmatisch und pädagogisch sinnvollen Akt verstehen und deshalb kulturelle Phänomene wie MTV oder VIVA nicht wahrnehmen wollen und können. "Die kürzlich veröffentlichten Ergebnisse einer Befragung bestätigen, was man eigentlich weiß: Schule und Unterricht sind medienresistent. Zu den 'Gegner der AV-Medien' zählen fast ein Viertel der befragten Lehrkräfte. 40% der Befragten lassen sich als - nahezu ausschließliche - 'Folienverwender' charakterisieren. Erst mit Typ drei kommt man zu dem Fünftel der Lehrkräfte, die als 'Verwender visueller Medien' regelmäßig Folien und daneben auch Videos einsetzen, und zu den 'Verwendern vielfältiger Medien' zählen lediglich ca. ein Achtel der Lehrkräfte. Beim Blick auf die Medienverwendung verdüstert sich dieses Bild noch zusätzlich: 'Es hat den Anschein, daß AV-Medien oft nur als Aufmacher im ersten Drittel oder in der ersten Hälfte einer Unterrichtseinheit eingesetzt werden.' Wenn Medien nur eine 'enrichment'-Funktion zukommt, ginge es also auch ganz ohne Medien" [Wolf R. Wagner, Gegen das Postman-Syndrom]

Im Blick auf die Pädagogik hat Umberto Eco schon 1983 festgestellt: "Allerdings muß die Schule (und die Gesellschaft, und nicht allein für die Jugendlichen) auch lernen, neue Fertigkeiten im Umgang mit den Massenmedien zu lehren." Erst 1995 haben die Kultusminister dies auch zum Programm für deutsche Schulen bestimmt. Nach der Erklärung der Kultusministerkonferenz Medienpädagogik in der Schule soll künftig verstärkt auf den Umgang mit Medien eingegangen werden. "Medienpädagogik in der Schule muß von einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber der Medienwelt ausgehen und mit angemessenen Unterrichtsmethoden bzw. Arbeitsformen auf die vielfältigen und z.T. disparaten Erfahrungen und Handlungsmuster der Heranwachsenden im Umgang mit Medien reagieren. Dies setzt die Bereitschaft der Lehrkräfte voraus, sich mit den Medienerfahrungen der Jugendlichen auseinanderzusetzen ... [Es ist] erforderlich, daß die Schülerinnen und Schüler sich in der Medienwelt zurechtfinden können,... die durch Medien vermittelten Informationen, Erfahrungen und Handlungsmuster kritisch einordnen können, ... sich innerhalb einer von Medien bestimmten Welt selbstbewußt, eigenverantwortlich und produktiv verhalten zu können, d.h. daß sie ästhetische und moralische Wertmaßstäbe entwickeln, neben analytischen auch kreative Fähigkeiten aufbauen, über praktische Medienarbeit lernen, eigenen Vorstellungen und Interessen Ausdruck zu verleihen und diese auch öffentlich zu machen."

Die anstehende Aufgabe einer massenmedial aufgeklärten Religionspädagogik ist es nicht zuletzt, in der Analyse populärer Stoffe Möglichkeiten zur religiösen "Verständigung und Selbstverständigung von symbolisierenden Subjekten" [Michael Meyer-Blanck] herzustellen. Inwiefern die Medienkunst der Gegenwart dazu einen Beitrag leisten kann, möchte ich im folgenden am Beispiel einiger Video-Clips untersuchen. Über religiöse Fragen läßt sich jedenfalls ebensogut anhand von der C&A-Werbung "Indian spirits" und "Power" oder anhand von OMDs "Walking on the milky way" diskutieren, wie an Werken der Kunstgeschichte. Was wir lernen müssen, ist, die (De-) Codierungsangebote der Massenmedien allererst wahrzunehmen und zum pädagogischen Thema zu machen.

Die Beschäftigung mit Video-Clips ist keine Notwendigkeit, die sich unmittelbar aus dem Unterricht oder direkt aus der Auseinandersetzung mit dem Thema Religion ergibt. Religionsunterricht läßt sich in all seiner Vielfalt auch gut ohne dieses Medium durchführen. Freilich ist der Video-Clip ein Medium, das besonders nahe an der Lebens- und Gefühlswelt der Jugendlichen ist. Auch wenn die in den Zeitschriften angegebenen Zeiten des durchschnittlichen Fernseh-Konsums kaum zu überprüfen sind, so hat dieses Medium in der Sozialisation, im Alltag und der Lebenswelt der jüngeren Generationen eine wichtige, kaum wegzudenkende Funktion. Video-Clips reflektieren und beeinflussen zugleich das Leben der Jugendlichen, sie spielen im Haushalt der Vor-Bilder eine wichtige Rolle.

Freilich findet die Auseinandersetzung mit Video-Clips immer noch zu selten Nachhall in den pädagogischen und didaktischen Bemühungen der Lehrenden. Nicht nur die für Video-Clips typischen verwirrenden Schnittfolgen machen die Rezeption schwierig, auch der Umstand, daß sich dieses Medium gezielt an die jüngere Generation wendet und Kommunikationsschnittstellen für den Dialog der Generationen kaum bereitstellt. Und doch ist die Auseinandersetzung mit diesem Medium sinnvoll, weil hier zeitgenössische Codierungen jener Themen vorgenommen werden, die auch im Unterricht eine Rolle spielen.

Nach meinen Erfahrungen läßt sich etwa jedes zehnte Video in irgendeiner Weise für Themen des Religionsunterrichts einsetzen. Die Mehrzahl der Clips fällt allein schon deshalb aus, weil hier nur die jeweiligen Gruppen beim Konzert oder im Tonstudio gezeigt werden. Bei anderen Gruppen entwickelt der Video-Clip ein Eigenleben, er tritt in Kontrast zu Text oder Musik, konterkariert, führt auf überraschende, lustige, einsichtige Weise weiter, bietet ein visuell-narratives Surplus über das nur akustisch Wahrnehmbare. Genau auf diese Clips kommt es an.

Die Themen der Clips

Natürlich beschäftigt sich die Mehrzahl der Clips mit dem Thema Liebe, Erotik und Sexualität. Dabei ist das Spektrum beachtlich. Zwischen Sennead O'Connors ergreifendem Nothing compares 2 U und dem trockenen Anti-Anbagger-Song Ja Klar von Schwester S, zwischen dem verzweifelten Sie ist weg von den fantastischen Vier und Madonnas artifiziellen Take a bow liegen Welten, und dennoch läßt sich mit allen vieren im Unterricht arbeiten. Neben der Liebe ist soziale Gerechtigkeit ein wichtiges Thema, auch hier in ganz unterschiedlichen Formen der Bearbeitung: die kleine Hoffnung auf den sozialen Aufstieg in Bon Jovis Someday I'll be saturday night, der Protest gegen Neonazis in Schrei nach Liebe der Gruppe Die Ärzte, der Protest gegen das Elend in Ruanda in Dr. Albans This time I'm free, Michael Jacksons Philosophie der kleinen Schritte in Man in the mirror, der Protest gegen den sinnlosen Bürgerkrieg in Nordirland im Clip Zombie der Gruppe The Cranberries, bis hin zu TLC's ausgezeichnetem Clip Waterfalls zum menschlichen Schicksal in den Großstädten. Jedesmal wird sehr pointiert und direkt zu gesellschaftspolitischen Fragen Stellung bezogen.

Und kommen wir schließlich zur Religion, ein vielfältiges Thema: vom Haß auf die Religion, ihre Gebote, dogmatischen Verzerrungen und heuchlerischen Vertreter (Celvin Rotane: I believe, Soundgarden: Blackhole sun, Die toten Hosen: Paradies) über die synkretistische Religionsstiftung (Pharao: There is a star, World of magic), die Faszination des Teuflischen und Bösen bis hin zur authentischen und ernsthaften Beschäftigung mit zentralen religiösen und spirituellen Fragen (Madonna: Like a prayer, Bedtime story, OMD: Walking on the milky way, Sting: Let your soul be your pilot, Bone Thugs-N-Harmony: Tha crossroads, Joan Osborne: One of us usw.). Religion ist keine kleine Münze in der Video-Welt.

Nun ist der Umgang mit Video-Clips im Religionsunterricht nicht gerade einfach. Zunächst dringt man in die Lebenssphäre der Jugendlichen ein. Vor allem bei Jüngeren ist dies ein hoch sensibles und intimes Gebiet, hier geht es um Idole und stark besetzte Figuren, die sich der sachlichen Analyse oft entziehen. Darüber hinaus muß im Prozeß des Unterrichts einsichtig werden, daß die Clips nicht bloß der Attraktivitätssteigerung des Unterrichts dienen sollen, sondern als eigenständiger Beitrag herangezogen werden und dementsprechend wie andere Medien als Möglichkeit zur kommunikativen Selbstverständigung begriffen werden. Deshalb ist es angebracht, im Blick auf ein anstehendes Thema die Jugendlichen selbst eine Auswahl von Clips mitbringen zu lassen, die ihrer Ansicht nach etwas mit der Thematik zu tun haben. Schließlich sollten die Clips nicht in Bildungsgüter umgewandelt werden, es geht ausschließlich darum, ihre Form der Bearbeitung zentraler Lebensfragen - und dazu gehören eben auch die Themen des Religionsunterrichts - kennenzulernen. Nicht zuletzt ist der Lehrende, was die Sachkenntnis des Mediums betrifft, in einer ungleich schwächeren Ausgangslage als in einer 'normalen' Unterrichtssituation. Schließlich ist er bei der Materialerarbeitung häufig auf die SchülerInnen angewiesen, denn nicht immer läßt sich z.B. der Text aus dem Clip erschließen, hier verfügen die SchülerInnen über wesentlich bessere Quellen. Die Kompetenz des Lehrenden bezieht sich vor allem auf die Deutungskompetenz, denn auch die Produzenten der Clips schöpfen reichlich aus dem Reservoir abendländischer Text- und Bildgeschichte.

Freilich sind Clips offene Medien, die zum Erfahrungsaustausch mit den SchülerInnen einladen und bei denen das Ergebnis der Arbeit nicht so leicht von vornherein festlegbar und planbar ist. Ich denke, daß sich Clips gerade deshalb für den Unterricht eignen, weil sie die Asymmetrie von Lehrenden - Lernenden durchbrechen und beide auf eine Ebene der Auseinandersetzung bringen. Gegenüber einem Video-Clip sind beide Lernende und Lehrende zugleich, gegenüber den in den Clips gespiegelten Themen, Erfahrungen und Lebenswelten ebenfalls. Video-Clips, so könnte man sagen, sind ein ideales Medium für einen offenen Religionsunterricht, in dem sich Lehrende und Lernende gemeinsam auf die Suche nach dem Vorkommen von Religion im Alltag machen.

Literatur

Andreas Mertin, Videoclips im Religionsunterricht, Göttingen 1999

Andreas Mertin., Alle Werbung ist (nur) ein Gleichnis. Zur Arbeit mit Werbung im Religionsunterricht, Schönberger Hefte 1/1996, S. 23ff.

Andreas Mertin, Religion in der Alltagswelt am Beispiel des Video-Clips "Like a prayer" von Madonna, Schönberger Hefte 3/95, S. 1-12.

Wolf-Rüdiger Wagner, Gegen das 'Postman-Syndrom'! medien praktisch 4/95, S. 4-10

Michael Meyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik. Hannover 1995

Michael Rose, Suchet, so werdet ihr finden. Mit einem Werbespot der Religion auf der Spur; in: Orientierung. Ev. Akademie Nordelbien 1994

Gerd Buschmann, Der Sturm Gottes zur Neuschöpfung. Biblische Symboldidaktik in Michael Jacksons Mega-Video-Hit "Earth Song", Katechetische Blätter 121 (1996), S. 187-196.

Internationale Musiktextrecherche im Internet: ubl.com


Einige Beispiele

Im Folgenden verweise ich auf einige Video-Clips aus den letzten Jahren. Die Auswahl ist subjektiv und dazu gedacht, zur Beschäftigung mit diesem Medium anzuregen. Dort, wo religionspädagogische Ausarbeitungen zu einzelnen Clips vorliegen, habe ich auf eine nähere Beschreibung verzichtet. Einführend analysiere ich einige Clips ausführlicher, bei anderen verweise ich nur noch auf ihre mögliche Bedeutung für den Unterricht.

Madonna Bedtime Stories [3:56]

Um den Exotismus fremder Religionen, um die Welt der Symbole und um die Kritik rationalistischer Weltanschauung geht es in Bedtime story. In Sprache und Stil apokalyptischer Rede verkündet Madonna das Ende der Worte aufgrund ihrer Leere und Funktionslosigkeit, und fordert die Öffnung zum Unbewußten; sie geht auf die Reise ins Innere und läßt Logik und Vernunft hinter sich. Wie bei einer Gute-Nacht-Geschichte werden Handlungsfäden gesponnen, aufgenommen und kunstvoll verschlungen, werden Figuren eingeführt, um vorübergehend in Vergessenheit zu geraten und dann am Ende wieder aufzutauchen. Und dabei geht es um die großen Themen des Abendlandes: das Verhältnis von Wort und Bild, von Logik/Vernunft und Traum/Irrationalem, von Dogmatik und lebendiger religiöser Symbolik. Die Geschichte, die Madonna erzählt, durchwandert die Korridore und Räume unserer religiösen Phantasie, berichtet von der Wahrnehmung eines Mädchens, von schwebenden Gestalten und mächtigen Ringern, von gefallenen Engeln, vom Wissenschaftler als alter deus und von vielen lebenden und toten Symbolen und Metaphern. Sie schildert Spiegelbilder unserer Seele. Soweit der vorliegende Videoclip sich zugleich gegen Worte wendet, ist er auch eine Anfrage an die Bedeutung von Wort und Schrift in Christentum und Judentum. Die Kritik am Wort ist nicht neu, schon der Prediger fragt: Sind Bücher noch die richtigen Erziehungsmittel? Und über dem allen, mein Sohn, laß dich warnen; denn des vielen Büchermachens ist kein Ende, und viel Studieren macht den Leib müde (Pred 12, 12).

Der Liedtext, der den Aufbruch zu einer Reise ins Innere umschreibt, ist kurz und einfach. Sein Augenmerk richtet er auf die Denunziation des Wortes. Die Worte sind ausgegangen, haben ihre Bedeutung und ihre Funktion verloren. Die beiden ersten Zeilen wirken wie ein Gelübde: Das Versprechen, von nun an keine Worte mehr zu gebrauchen, Logik und Vernunft hinter sich zu lassen und sich dem Unbewußten auszuliefern. Worte dagegen sind unbrauchbar, vor allem als Sentenzen, Urteile und Formeln. Hier macht das lateinische sententia zumal in seiner religiösen Bedeutung Sinn: thesenartige Aussprüche aus der Hl. Schrift, den Kirchenväter, den Kanones der Konzilien, die seit dem 8. Jahrhundert für philosophisch-theologische Lehrzwecke gesammelt wurden. Sentenzen sind nicht erfahrungsgesättigt, sie stehen für nichts mehr, schon gar nicht für den subjektiven Gefühlsausdruck. Das Begehren [longing and yearning] entzieht sich den Worten, die Sprache des Körpers läßt sich nicht versprachlichen. Der Liedtext endet mit der appellativen Anrede an den Hörer: alles zu vergessen, was man gelernt hat. Und: Madonna wird es nicht noch einmal sagen. Es fällt auf, daß nicht geschildert wird, wozu denn die Zuwendung zum Unbewußten führen soll, worin dieses etwa eine Alternative zur logisch-rationalistischen Kultur darstellt, und vor allem, warum Bilder nicht weniger erläuterungsbedürftig sein sollten als sentenzenhafte Sprache. Interessant ist, daß die Absage an das Wort worthaft geschieht. Hier findet sich die Begründung für den apokalyptischen Tonfall. Die Worte werden nämlich als Leiter genutzt, welche nach Gebrauch weggeworfen wird: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen [Wittgenstein].

Der Clip Bedtime story umfaßt 130 Szenen von insgesamt 3:56 min Dauer, wobei sich die Geschwindigkeit, in der die einzelnen Szenen aufeinander folgen, allmählich von 3 Sekunden auf 0,9 Sekunden pro Szene steigert.

Der Clip eröffnet mit einem Blick auf Madonna, deren weißes Gesicht sich kaum vom hellen Hintergrund abhebt. Sie liegt auf einer sich drehenden weißen Scheibe in einem futuristischen, bläulichen Raum. Dabei verkündet sie: Today is the last day, that I am using words. Die nächste Szene zeigt eine Monitorwand mit einem Bildschirm auf dem groß WORD steht. Auf einem Bildschirm erscheint Madonnas Kopf und sie fordert: Let's get unconscious, honey. Mit dieser Aufforderung zur Öffnung gegenüber dem Unbewußten beginnt eine über 90 Szenen andauernde Wach-Traumphase.

Die nächsten Szenen zeigen im Wechsel die singende Madonna vor einer sehr bewegten und lebendigen Sonnenblume und ein kleines Mädchen, das in einem Raum sitzt. Neben dem Mädchen eine Frau mit einer Decke in der Hand, welche sie am Ende des Clips über das Kind werfen wird. Dieses ist umgeben von diversen Gegenständen: einem Stern, eine Vase mit Sonnenblumen, einer Schale mit Äpfeln. Das nächste Motiv ist ein Farbiger mit nacktem Oberkörper, der über seiner Hand einen Würfel schweben läßt. Auf dessen Seiten ist ein schwarzer Kreis abgebildet, auf dem man eine Frau wie auf einem Schwarz-Weiß-Monitor sieht. Diese Frau singt eine Zeile des Liedtextes: leaving logic and reason und wiederholt den Refrain: travelling. Es folgen Szenen, die man als symbolische Verdichtungen bezeichnen könnte: in einem Raum hockt ein Sumo-Ringer, in einem anderen Raum schwebt eine Gruppe tanzender Derwische, Madonna sitzt im Wasser vor drei Schädeln, während über ihr ein alter Mann am Firmament erscheint. Beendet wird diese Szenenfolge mit einem Teichbild mit dem Text: WORDS ARE USELESS ESPECIALLY SENTENCES.

Als nächstes beobachten wir das kleine Mädchen im Schattenriß beim Lesen eines Buches. Um sie herum Vasen mit Mohnkapseln oder Flüssigkeit, dazu ein Ei. Während das Kind auf den Tisch blickt, bewegen sich Gegenstände wie magisch. Im Wechsel dazu sieht man Madonna, die mit einem dicken Bauch in einem großen Raum steht. Aus ihrem Mantel kommt erst eine, dann viele Tauben. Man wird darin eine ikonografische Anspielung auf ein Madonnenmotiv erkennen können. Durchbrochen wird diese Szenengruppe durch ein anderes, hoch symbolisches Motiv: ein nackter Fuß zertritt allmählich eine rote Weintraube. Der Kelter ist dabei bedeckt mit arabischen Schriftzügen. Es folgt eine Szenengruppe, in der das Motiv Der Tod und das Mädchen entfaltet wird. Gleichzeitig taucht der alte Mann vom Firmament nun als Wissenschaftler wieder auf. Abgeschlossen wird die Szene durch das Mädchen am Tisch, dessen Kopf nun ermüdet auf das Buch gesunken ist. Als nächstes schwebt Madonna durch einen Korridor, staunend beobachtet von dem kleinen Mädchen, das dreimal abgebildet ist. Diese Szene kann als Wendepunkt des Traumes, vielleicht auch als Rückerinnerung an Madonnas Kindheit interpretiert werden.

Abgesehen vom Engel-Motiv sind alle Motive entfaltet und werden im folgenden wieder aufgegriffen. Zunächst tauchen der Farbige und die Frau im Monitor auf, dann die tanzenden Derwische, endlich der Sumo-Ringer. Kurz bevor der Rahmen wieder einsetzt, kündet sich das Motiv des gefallenen Engels an: eine Tür öffnet sich und der Blick wird frei auf eine Frau mit abgetrennten Engelsflügeln. Die Szenen vor dem endgültigen Erwachen zeigen Madonna, wie von ihrer Stirn ein großes helles Licht ausgeht und wie sie von Lichtern umgeben ist, sowie das Mädchen, über das allmählich eine Decke gebreitet wird. Am Ende liegt Madonna wieder im blauen Raum auf dem Bett und wendet sich direkt an den Betrachter: And all that you ever learn, try to forget. I'll never explain again. Zu sehen ist während des ersten Satzes eine Art Medusenkopf von Madonna, bei der diese an Stelle der Augen zwei Münder und an Stelle des Mundes ein Auge hat.

Eingesetzt werden kann der Video-Clip im Rahmen verschiedener Themen des Religionsunterrichts. Ziel ist dabei, Religion im (Verhältnis zum) Alltag überhaupt erst namhaft zu machen, d.h. Dinge, Phänomene und Situationen als religiös zu qualifizieren, aber auch, dem Verhältnis von Religion und (symbolischer) Sprache auf die Spur zu kommen. Wo entdecken die SchülerInnen Religion im Alltag? Was ist für sie profan, was religiös oder heilig? Was verbinden SchülerInnen mit Religion? Wie verhält sich für sie Religion zu Vernunft, Rationalismus, Irrationalismus usw.? Gibt es eine Faszination von fremder Religiosität? Was bedeuten Worte für die SchülerInnen? Inwiefern sind Worte für sie ein Problem? Wie beurteilen sie das Verhältnis von Worten, Gefühlen, Bildern, Imaginationen und Symbolen? Welche Bedeutung hat Musik dabei? Was ist für die SchülerInnen ein Symbol? Sind sie in der Lage, im Alltag (religiöse) Symbole zu erkennen und als solche in Unterscheidung von dogmatischen Sätzen, Abstraktionen, Erzählungen, Mythen, Träumen zu bestimmen? Mögliche thematische Kontexte wären:

  • Der Sinn hinter den Dingen oder Alltag und Religion. Die vorherrschende Ästhetisierung der Lebenswelt läßt nach Sinnperspektiven fragen, die dauerhaft und zugleich mit dem Alltag kompatibel sind.
  • Religion haben oder religiös sein? oder Wozu Religion? Ist Religion ein Ausstattungsstück im Biografie-Design (Taufe, Trauung, Beerdigung) oder ist sie mehr?
  • Die Religion der Vernunft oder Wie irrational ist Religion? Stehen Glaube und Vernunft in einem unlösbaren Widerstreit oder bedarf die neuzeitliche Vernunft der Rückbindung durch die Religion?
  • Zur Logik der Theologie oder Was ist die Sprache der Religion? Die Konzentration der Kirche auf das geschriebene und gesprochene Wort läßt die persönliche Erfahrung ebenso wie die Gefühle, Bilder, Imaginationen und Symbole in den Hintergrund treten.
  • Träume sind Schäume! Madonnas Traum und die Träume der Bibel. In welchem Verhältnis stehen Religion und Traum? Ist Religion aus Träumen entstanden, sind Träume für die Religion unentbehrlich oder kann auf all das verzichtet werden?

Joan Osborne One of us [3:58]

In einem abgehalfterten New Yorker Freizeitpark (vor dem New York Aquarium), der im wesentlichen nur noch von einfachen Bevölkerungsschichten besucht wird, spielt der Video-Clip "One of us" von Joan Osborne. Der Clip ist im wesentlichen eine visuelle Umsetzung des Liedtextes, darin aber höchst originär. Zwei Bildebenen lassen sich zunächst grob voneinander unterscheiden: eine, auf der die singende Joan Osborne im Porträt zu sehen ist, und eine zweite, die das bunte Treiben rund um den Park zeigt. Den inhaltlichen Schwerpunkt der zweiten Bildebene bildet eine Schaubude, in der Fotografien angefertigt werden, auf denen die Besucher des Freizeitparks in die Rolle Gottes schlüpfen können. Die Möglichkeit dazu bietet ein Ausschnitt aus Michelangelos Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle in Rom, genauer die Szene, die Gott bei der Erschaffung der Gestirne zeigt. Diese Szene ist in eine komplexe mechanische Installation übernommen worden Gott ist dabei mit seinem ausgestreckten, die Gestirne erschaffendem Arm aus dem Gemälde herausgeschnitten und auf ein Metallgestell gezogen worden, im Hintergrund bewegt ein kompliziertes Räderwerk die Wolken. Das Gesicht Gottes auf dem Gemälde ist so freigelassen, daß die Besucher ihr Gesicht an die Stelle von Gottes Antlitz setzen können. In dieser Position werden sie vom Schausteller fotografiert. Auf diese Weise entstehen durch den sich verändernden Hintergrund und die immer neuen Gesichter eine Vielzahl von unterschiedlichen Gottesbildern.

"What if God was one of us, just a slob like one of us?" Wie Gott aussieht, wenn er unser Angesicht trägt, wenn also Gott unser Ebenbild ist, wird in unzähligen Variationen und Perspektiven vorgeführt: Gott als älterer gesetzter Mann, als junge Frau, als Punker, als Hispano-Amerikaner, als Araber, als Farbiger, als Punk, als Kind, als Jugendlicher, als Alter, als Penner, als Matrose. Die Reihe der Anstehenden, die sich als die Gestirne erschaffender Gott porträtieren lassen wollen, ist lang. Erst am Ende des Tages räumt der Schausteller seine Sachen zusammen.

Während am Anfang die Aufmerksamkeit ganz der Schausteller-Bude gilt, wendet sie sich zunehmend dem Geschehen rundherum zu. Am Strand und auf der Strandpromenade pulsiert das Leben. Hier gibt es zahlreiche weitere Details, die ins Auge fallen: ein jugendlicher Engel, ein beleibter Papst oder Kardinal mit Funktelefon, ein Mann, der aussieht wie Pablo Picasso. Darüber hinaus ein Riesenrad, die unvermeidliche amerikanische Flagge, Motorradfahrer im Stil der 60'er Jahre etc. Alles ist durchtränkt vom Charme vergangener Zeiten, eine Atmosphäre, die der Clip durch die Wahl seiner Farben und der Inszenierungen bewußt erzeugt.

Der Liedtext und die Art seines Vortrag durch Joan Osborne beinhalten eine gewisse Art der Ironie und eine nur schwer zu durchschauende Form von Ambivalenz. Nicht ganz deutlich wird, wie ernsthaft die Frage nach der Menschenebenbildlichkeit Gottes gestellt wird. Was auf der semantischen Ebene noch als "Christushymnus ganz anderer Art" (Michael Wermke) verstanden werden kann, stellt sich in der Verbindung mit dem Video viel weniger eindeutig dar. Schon der Liedtext enthält Anspielungen, die nur als ironisch verstanden werden können. Etwa der Verweis auf E.T.: ist auch Gott - wie E.T. - einer, der versucht, "nach Hause zu kommen, ganz allein, hinauf in den Himmel?", freilich ohne - wie E.T. - jemanden anzurufen - mit Ausnahme vielleicht des Papstes in Rom.

Andererseits ist die zentrale Frage bedeutsam: es ist die nach unserem Gottesbild. Wie gewinnt Gott für uns Gestalt? Konventionell: in all seiner Pracht, mit all dem Brimborium drumherum, isoliert und monolitisch? Wie ist Gott: groß und gut? Oder alternativ: einer von uns, ein armer Kerl, ein Fremder im Bus? Wie man sieht, stellt der Clip mehr Fragen, als daß er fertige Antworten bieten würde. Wie vermittelt sich die Dialektik von "Gott von oben" und "Gott von unten"? Wie gelingt es, aus dem Mensch gewordenen Gott wieder einen Gott im Himmel werden zu lassen (zumal wenn man auf mirakulöse Auferstehungsdeutungen verzichtet)? Und wie vermittelt sich die Dialektik von Text und Bild: Gott in der Rolle des Menschen (im Liedtext) - der Mensch in der Rolle Gottes (im Clip)? Im Unterricht sollte zunächst der Liedtext erarbeitet werden. Die Fragen des Textes sollten aufgegriffen und von den SchülerInnen erörtert werden. Dann sollte der Clip angeschaut und beschrieben werden. Die Details sollten benannt und ihr Ursprung herausgefunden werden. Schließlich sollte man fragen, in welchem Verhältnis Liedtext und Clip zueinander stehen. Ergeben sich hier unterschiedliche Botschaften? Anschließend kann über verschiedene Gottesbilder diskutiert werden.

Wenn Gott einen Namen hätte, wie würde er wohl lauten, und würdest du ihm den ins Gesicht rufen, wenn du ihm begegnetest und all seiner Pracht? Was würdest du ihn fragen, wenn du genau eine Frage stellen könntest?

[Refrain:] Yeah, yeah, Gott ist groß, Yeah, Yeah, Gott ist gut, Yeah, yeah, yeah, yeah, yeah. Was, wenn Gott einer von uns wäre? Ein armer Kerl wie einer von uns, Vielleicht grad' ein Fremder im Bus, der versucht, heimzukommen?

Hätte Gott ein Gesicht, wie würde es wohl aussehen, und würdest du es anschauen wollen wenn es anzuschauen hieße, du müßtest glauben an Dinge wie den Himmel, und an Jesus, die Heiligen und alle Propheten

[Refrain] ...

Einer, der versucht, nach hause zu kommen, ganz allein zurück, hinauf in den Himmel, keinen anzurufen, abgesehen vielleicht vom Papst in Rom
[Refrain] ...

Wie ein heiliger rollender Stein, ganz allein zurück, hinauf in den Himmel, einer, der versucht, heimzukommen, keinen anzurufen, abgesehen vielleicht vom Papst in Rom.

The Cranberries Zombie [5:05]

Der Clip der irischen Gruppe ist der bemerkenswerte Versuch, zum einen auf der Ebene der alltäglichen Erziehung, zum anderen auf der der Symbole das Thema 'Gewalt' zu bearbeiten. Strukturieren Kinder ihre Spiele nach ihren täglichen Erfahrungen? Welche zentrierende, welche differenzierende Kraft kann dabei Religion entwickeln? Was heißt: unter dem Kreuz zu stehen? Was ist der Mensch (daß du seiner gedenkst)? Und geht es dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch?

Der Clip teilt sich in vier Bildebenen: zum einen die allgemeine Ebene, die die Sängerin und die Gruppe selbst zeigt; diese Ebene ist durchgehend Schwarz-Weiß. Dies gilt auch für die zweite Bildebene, die in der Art eines Dokumentarfilms Szenen aus dem Alltag des Bürgerkriegs in Belfast zeigt. Davon abzugrenzen sind einige Bildszenen, in denen die Darstellung in Farbe umschlägt: hier blicken wir auf die Embleme der am Bürgerkrieg beteiligten Gruppierungen (der britischen Armee, der IRA etc.). Die vierte Bildebene ist eine von den drei anderen demonstrativ abgehobene. Hier sind wir in einer Symbolwelt, die der Betrachter zu decodieren und zu den Kontexten (also zu den anderen Bildebenen) in Beziehung zu setzen hat. Gezeigt wird auf dieser Ebene die Sängerin in goldbrauner Farbe unter dem Kreuz, umgeben von einer Gruppe von Kindern (in silberner Hautfarbe), die wie weiland Eros mit Pfeil und Bogen ausgestattet sind. Der Liedtext beschäftigt sich mit den Zombies, also den lebenden Toten, die nur dem Krieg und dem Tod verfallen sind. Welche Folgen hat das Aufwachsen in einer Umgebung, die von Haß und Vernichtung gekennzeichnet ist, was wird auf dem Altar des Nationalismus und der Ideologie geopfert?

Bone Thugs-N-Harmony Tha crossroads [4:33]

Eine moderne Totentanz-Variation am Ende des 20. Jahrhunderts. Unter Aufnahme mittelalterlicher Motive und deutliche Anklänge an eine apokalyptisch gedeutete Mose-Geschichte fragt dieser Clip nach dem Tod in unsrer Gesellschaft. Ausgehend von der Erfahrungen des blind zuschlagenden Todes und als Hommage an einen an AIDS verstorbenen Rapper wird die Theodizee-Frage gestellt. Warum trifft es den jungen Mann in den Vorstadt-Auseinandersetzungen, den alten Mann beim Kartenspiel und das Neugeborene noch bevor es das Krankenhaus verlassen kann. Welche Gerechtigkeit und welches Gericht schlägt hier zu? Der Tod im Clip, immer präsent und nicht zu vermeiden oder zu verdrängen, sammelt die Toten und führt spiralförmig einen hohen Berg hinauf. Dort oben wandelt er sich in einen der himmlischen Engel. Die Frage selbst aber, die der Tod und das sinnlose Sterben ist, wird nicht beantwortet. Im Rahmen einer Einheit zum Thema "Leben: Sterben und Auferstehen" halte ich diesen Clip für ein sehr geeignetes Metaphern-Video, um den anstehenden Fragen nachzugehen.

Die toten Hosen Paradies [3:54]

Dieser Clip skizziert die Haltung der Jugendlichen zum Thema "Religion". Ganz dem Stil der Religionskritik verpflichtet, wird jene kleinbürgerliche Mentalität karikiert, die Religion mit Ordnungsliebe, Anständigkeit, Bravheit und Biederkeit verbindet. "Ich will nicht ins Paradies, wenn der Weg dorthin so schwierig ist" lautet die zentrale Botschaft. Eine Theatergesellschaft lauscht dem Song der Gruppe und wendet sich zunehmend angewidert ab.

Mit den Jugendlichen ist zuerst einmal die Stimmung einzufangen. Genau so stellen sie sich die etablierte Religion vor: langweilig, disziplinierend, sinnenfeindlich usw. Dagegen ist dann allerdings die evangelische Lehre der Rechtfertigung zu entfalten, die mit dem Schlagwort zusammenzufassen ist: "Du darfst ...". Christentum als Lehre von der Rechtfertigung von Lebensgeschichte(n) hat mit der Karikatur der Toten Hosen wenig gemeinsam. Andererseits ist es nicht zu verkennen, daß die Gruppe ein Stück empirischer Realität von Kirche und religiöser Sozialisation einfängt. Genau in dieser Spannung von empirischer Realität und emanzipatorischem Gehalt für das Individuum sollte sich die Arbeit am Clip entfalten.

OMD Walking on the milky way [3:34]

Auf der Ebene der individuellen Lebensgeschichte und der Lebensdeutung bewegt sich auch der Clip "Walking on the milky way". Welche Illusionen, welche Hoffnungen bewegen uns am Anfang des Lebens, wann werden diese Hoffnungen und Erwartungen durch die Realität enttäuscht und welche Perspektiven bleiben im Alter übrig. "Ich glaube nicht an Wunder" singt der Sänger, nicht an Bestimmung usw. Was bleibt ist eine Art fatalistischer Realismus: Walking on the milky way. Interessant ist der Clip wegen der vorkommenden Symbolik und seines Textes, aber auch wegen der britisch-humoresken Schwerelosigkeit, mit der er mit der Sinnfrage umgeht. Die Symbole sollten notiert und dechiffriert werden, der Text aufgeschrieben und intensiv besprochen werden.

Celvin Rotane I believe [3:30]

I believe erzählt eine klar überschaubare Geschichte, die gerade wegen ihre einfachen Struktur zu vielfältigen Deutungen und Gesprächen Anlaß gibt. Der Clip umfaßt nur zwei Bildebenen, die im Wechsel gegeneinander gesetzt werden. Die eine Ebene zeigt einen jungen Farbigen, der im Rhythmus des Liedes tanzt. Er befindet sich in einem Zimmer mit zahlreichen Accessoires, angefangen vom Poster, über das Kruzifix bis zu Sportgeräten. Der Tanz des Jungen ist geradezu ekstatisch. Die zweite Bildebene zeigt ein junges Mädchen mit kahlgeschorenem Kopf, das zunächst ruhig, ja fast apathisch in einem Zimmer hockt. Ganz langsam geht ihre Apathie in eine ebenso gedehnte Aktivität über, in deren Verlauf sie die eher kitschig zu nennenden Ausstattungsstücke ihres Raumes zerschlägt. Kunstvoll sind ihre Aktivitäten in den Rhythmus eingebaut. In einer längeren Sequenz in der Mitte des Liedes geht sie nur im Halbschatten vor einem Fenster hin und her, pointiert im Takt des Liedes. In der letzten Szene werden beide Bildebenen zusammengeführt. Beide Handlungsfiguren lehnen sich an die Wand ihres Zimmers, die Kamera fährt zurück und man erkennt, daß beide, nur getrennt durch diese eine Wand, Rücken an Rücken stehen. Der Text des Liedes wird während des Clips viermal gesungen und lautet, unterbrochen vom ständig wiederholten 'I believe': I believe it could be heaven on earth / no religious give me what I deserve / another world to live in high up above / I do believe in love

Freilich kommt die Liebe, auf die der Text so viel Wert legt, im Clip nur als Glaubensbekenntnis vor. Die Gefühlswelten im Clip werden sehr ambivalent geschildert. So ist keinesfalls sicher, daß die Sympathie der Inszenierung auf Seiten des jungen Mannes mit ekstatischem Tanz liegt, auch dieser bleibt an seine Welt gefesselt, ebenso im Tanz befangen wie sein Pendant im Gewaltakt gegen die überkommene Symbolwelt. Beim wiederholten Sehen gewinnt die weibliche Figur, ihr Befreiungsakt, so gefühls- und teilnahmslos er scheinbar auch durchgeführt wird, ist irgendwie nachvollziehbar. Hier werden Befindlichkeiten verdichtet vor Augen geführt.

Deutlich wird mit dem Liedtext vor allem die Generalreligion des 20. Jahrhunderts in allen westlichen Gesellschaften: das Bekenntnis zur Liebe. Selten wird aber so akzentuiert das Bekenntnis zur Liebe gegen die etablierten Religionen gesetzt. Wenn keine Religion mehr das leistet, was sie verspricht - oder man sich von ihr verspricht -, dann bleibt nur ein Bekenntnis als letzter Rückzugsort.

Elton John Believe [4:35]

Einen Blick auf ein ver-rücktes und aus den Fugen geratenes Jahrhundert wirft dieser Video-Clip. Nach einem Eingangslogo mit dem Liedtitel schaut man durch ein Teleskop auf eine Stadt auf einer Wolke am Himmel (Offb. 21,2!). Nach einer Überblendung sieht man dann einen Zeppelin, in dessen Führergondel Elton John steht. Der Zeppelin fliegt durch ein Großstadtambiente, man sieht Hochhäuser, Hängebrücken, Flugzeuge, S-Bahnen, überfüllte Straßen. Zugleich wird diese Szenerie paradox durchbrochen: eine Katze die größer ist als die Skyline einer Stadt, eine Geigerin mitten auf einer Hauptverkehrsstraße in New York, ein Himmel, der sich als Wasseroberfläche erweist, Doppeldecker, die durch Straßenschluchten fliegen, Menschen auf Zifferblättern und Hochhausballustraden, eine Kirche, deren Mittelschiff eine Autostraße ist. Kein Bild ist real, aber jedes Detail könnte für sich sinnvoll sein.

Was wir vor uns haben ist ein Panorama, eine 'Allschau'. Das Gefährt des Sängers weist auf den Einsatzpunkt des Clips: der Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Zeppelin, das erste lenkbare Luftschiff, startet am 2. Juli 1900 seinen ersten Flug. Er ist eines jener zentralen Symbole am Anfang dieses Jahrhunderts, die auf der Pariser Weltausstellung 1900 mit den Worten begrüßt wurden: Bald werden wir einen wichtigen Schritt in der langsamen Entwicklung der Arbeit für Glück und Menschlichkeit getan haben. Solche Hoffnungen stützten sich nicht zuletzt auf die technischen Errungenschaften der Jahrhundertwende. Ist der Zeppelin tatsächlich als ein solches Symbol gemeint, dann ergeben sich sofort Anschlußpunkte. Die U-Bahn deutet ebenfalls auf das Jahr 1900, wo nicht nur der Zeppelin in die Luft, sondern auch die Pariser Metro unter die Erde ging. Die Doppeldecker erinnern an den 17. November 1903, das Geburtsdatum der motorischen Luftfahrt, an dem die Gebrüder Wright mit ihrem selbstgebauten Doppeldecker die ersten Flüge absolvierten. Die Hochhausarchitektur läßt sich mit den zwanziger Jahre verbinden, z.B. das Chrysler-Building aus den Jahren 1928-30. Einige Details wie der Tower oder Big Ben locken uns nach London, andere Bilder wie der Aufruf zum Zeichnen von Kriegsanleihen nach Berlin. Also sind die Metropolen der ersten 40 Jahre dieses Jahrhunderts Schauplatz der imaginären Reise. Es ist die Zeit vor dem ersten Farbfilm, eine Zeit der Gewalt und des Elends, ganz im Gegensatz zur Hoffnung am Beginn des Jahrhunderts. Wie bewegt man sich im Moloch 'Stadt'? Elton John erscheint hier fast als Gegenfigur zu Buster Keaton, von dem Siegfried Kracauer schreibt: Er ist ein Gestoßener. Die vielen Gegenstände: Apparate, Baumstämme, Trambahnwände und Menschenkörper veranstalten ein Kesseltreiben gegen ihn, er kennt sich nicht mehr aus, er ist unter dem sinnlosen Druck der zufälligen Dinge apathisch geworden. Buster Keaten, der ja eine Figur und damit Ausdruck der Erfahrung jener Zeit ist, bewegt sich - wie auch Harrold Lloyd in Feet first völlig konträr zur Figur im Zeppelin. Diese behält trotz allem den Überblick und ruft ihr Bekenntnis zur Liebe in die Welt der Brüche und Widersprüche. Darin ist sie apokalyptisch, freilich gewinnt sie ihre Weitsicht aus der Retrospektive. Kontext eines derartigen Videos könnte die Frage sein: Hat das Leben einen Sinn? Lohnt sich das Leben? Welche Lebensperspektive hat der einzelne noch im 20. Jahrhundert? Leben wir in einer Zeit absoluter Unübersichtlichkeit und woran können wir uns orientieren?


Kleine Liste weiterer Clips zu Themen des RU:


 
  • AEROSMITH; Living on the edge (Sinnfrage, Lebensgefühl)
  • BOB MARLEY AND THE WAILERS; Keep on moving (Symbole, Religionsgeschichte)
  • BON JOVI; Someday I'll be saturday night (Hoffnung, Solidarität, Elend)
  • COOLIO; Too hot (AIDS, Sexualität)
  • DAVID BOWIE; The heart's filthy lesson (Abendmahl, Performance, Sinn)
  • DIE ÄRZTE; Schrei nach Liebe (Gegen Neonazis)
  • DIE PRINZEN; Schwein sein (Gesellschaft, Sinnfrage)
  • DIE TOTEN HOSEN; Wünsch' Dir was (Religion, Hoffnung)
  • DR. ALBAN; This time I'm free (Afrika, Elend, Freiheit)
  • ENIGMA; Beyond the invisible (Phantasie, Traumwelt, Flucht)
  • GUNS AND ROSES; November rain (Rituale, Schicksal, Sinnfrage)
  • MADONNA; Like a prayer (Ethik, Nachfolge, Christus)
  • METALLICA; Until it sleeps (Religion, Hieronymus Bosch)
  • MICHAEL JACKSON; Earthsong (Umwelt, Schöpfung)
  • MICHAEL JACKSON; Man in the mirror (Ethik, Engagement)
  • SACRED SPIRIT; Yeha - Noha (Indianer, Spiritualität)
  • SMASHING PUMPKINS; Bullet with Butterfly wings (Sinnfrage, das Böse, Gewalt, Freiheit)
  • SOUNDGARDEN; Blackhole Sun (Religionskritik)
  • STING; Let your soul be your pilot (Spiritualität)
  • THE CRANBERRIES; Zombie (Erziehung, Religion, Krieg)
  • TLC; Waterfalls (Gewalt, AIDS, Erziehung, Biografie)
  • TONGUE FOREST; And you got the nerve (Rassismus)
  • VANGELIS; Conquest of paradise (faschistische Ästhetik)

© Andreas Mertin