Die ästhetische Kritik der Ethik

in Theodor W. Adornos "Minima Moralia"

von Andreas Mertin


DIE ÄSTHETISCHE KRITIK DER ETHIK IN DEN "MINIMA MORALIA"

Wendet man die vorstehenden Überlegungen auf das spezifische Verhältnis von ethischem und ästhetischem Diskurs an, so wird deutlich, inwiefern Adornos Aphorismen in den "Minima Moralia" den ethischen Diskurs in die Krise führen (können). Es bedarf der Re-Lektüre seiner Reflexionen und Maximen im Sinne einer prismatischen Betrachtung des beschädigten Lebens im Medium der ästhetischen Erfahrung, um die Tragweite dieser Subversion nachzuvollziehen. Der ästhetizistische "Aufruhr des Schönen gegen das bürgerlich Gute" (MM 58) gibt das Modell ab für den Aufruhr des Ästhetischen gegen das Ethische: Das Schöne ... steht gegen die Moral, schon ehe es diese verhöhnt. Denn es verstockt sich gegen jegliches Allgemeine ... Im Schönen behauptet das undurchsichtig Besondere sich als Norm, als einzig Allgemeines, weil die normale Allgemeinheit allzu durchsichtig geworden ist. So fordert es diese, die Gleichheit alles Unfreien heraus. Dabei geht dieser "Aufruhr" weiter als nur bis zur Kritik der bürgerlichen Güte des 19. Jahrhunderts, er betrifft die Konstitutionsbedingungen jeglicher ethischen Urteilsbildung im Rahmen des unterstellten bzw. diagnostizierten universalen Verblendungszusammenhangs. Die Ethik selbst kann, außer im notwendigen Postulat einer sprachfernen Vernunft[1], kein Allgemeines ausbilden, das nicht wieder von der Subversion des Ästhetischen betroffen werden könnte.

Die Reichweite der ästhetisch-prismatischen Kritik Adornos hat Ernst Bender in seiner Charakterisierung der Adorno'schen "negativen Ethik" am Beispiel des Aphorismus' 19 "Nicht anklopfen" sehr einsichtig dargestellt, indem er den Aphorismus nach der Art von Lyrik aufgliedert - ohne selbst Konsequenzen daraus zu ziehen.[2] Adorno behandelt in diesem zunächst unscheinbaren Aphorismus die Folgen der Verrohung der Alltagsgesten. Der gesamte Aphorismus besteht aus acht Sätzen, von denen sieben demonstrieren, was dem Menschen widerfährt. Im letzten Satz zeigt sich dann der Maßstab, an dem Adorno seine Kritik der Gesten entwickelt: Am Absterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, dass die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuss, sei's an Freiheit des Verhaltens, sei's an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, wenn er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion. Die Frage ist, was den Maßstab bildet, an dem sich die Kritik der Alltagsgesten entfaltet, welcher Bereich den Bedingungen der Kritik überhaupt gerecht würde. Insofern alle unsere außerästhetischen Diskurse von der Zweckmäßigkeit zutiefst durchdrungen sind, können sie den Bedingungen, die Adorno nennt, gar nicht genügen. Die Folie, von der aus Adorno seine Kritik entwickelt, ist daher - wenn auch nicht explizit genannt - die Kunst. Sie ist es, die nicht unter dem Gesetz der Zweckmäßigkeit stehend Form annimmt, die nicht auf reine Handhabbarkeit beschränkt ist, sie ist es, die einen Überschuss vermittelt, der als Erfahrungskern überlebt, weil er - in der unendlichen Verzögerung des Verstehensvollzuges - nicht verzehrt werden kann.

Kunst konfrontiert die automatischen Verstehensvollzüge des Alltags mit einem für sie unlösbaren Problem. Und dieses Problem ist mehr als die Konfrontation mit einer "ohnmächtige(n) Utopie" (MM 58) - als solche wäre sie leichter abzuweisen -, sondern ist eine auf Erfahrung - auf die ästhetische Erfahrung - gegründete uneinlösbare Anforderung an die nichtästhetischen Diskurse.[3]

In diesem Sinne kann der die "Minima Moralia" abschließende Aphorismus 153 auch als Modell der ästhetischen Befragung der nichtästhetischen Realitäten verstanden werden. Adorno beschreibt hier, was Philosophie und mit ihr Ethik als Lehre vom richtigen Leben leisten müsste, um "im Angesicht der Verzweiflung" noch verantwortet betrieben werden zu können. Durch diese Beschreibung zeigt sich, dass die Philosophie, dass Erkenntnis, ja das Denken dies nicht leisten können, dass sie mit der Aufgabe dieser Perspektivierung überfordert sind. Worin sie scheitern ist die Anforderung eines nicht herrschaftlichen, nicht an das Medium der meinenden Sprache gebundenen, mimetischen Verhältnisses zu den Dingen, nämlich, ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen. Zugleich beschreibt Adorno - im Konjunktiv, der die Philosophie und die Erkenntnis meint - diese Perspektive so, wie sie sich nur im Prozess der ästhetischen Erfahrung darstellt. Auch wenn die Kunst bzw. die ästhetische Perspektive an dieser Stelle nicht explizit genannt wird, so macht nicht erst der Rekurs auf die "Aufzeichnungen zu Kafka" deutlich, dass nur die Kunst die unter dem Konjunktiv des Vorbehalts stehenden "Leistungen" erbringen kann, nur sie kann die Perspektiven herstellen, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal im Messianischen Licht daliegen wird. In und mit der Kunst zeigt sich die Welt, "wie sie wäre, wenn sie in sich und d.h. ohne unser Zutun sinnvoll strukturiert wäre"[4]. Diese Erfahrung verallgemeinert Adorno im Blick auf die gesamte Realität. Er betrachtet, wie oben (Kapitel III.4.7 und V.1.1) gezeigt, die nichtästhetische Realität so, dass er im Durchgang durch die ästhetische Erfahrung ein neues Bild dieser Realität gewinnt, das im Kontrast zu dem steht, dass wir uns ohne die ästhetische Erfahrung gemacht hätten.[5] M.a.W. erst der ästhetische Blick generiert jene grundsätzlichen Probleme, die sich als Begrenzung für die Philosophie und die Ethik erweisen, weil sie die mit der ästhetischen Erfahrung und durch die ästhetische Kritik der nichtästhetischen Realitäten aufgeworfenen Probleme nicht befriedigend lösen können, ohne hinter die Bedingungen zurückzufallen, die Adorno für eine Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten wäre, aufstellt. Daher sind Adornos 'Minima Moralia' nicht nur "durch die Kunst gesehene Perspektiven des Endes der 'Moral' als Ausdruck der Identifikation mit bestehenden Zuständen, der Gleichgültigkeit und Komplizenschaft, der Unfähigkeit zu leiden und zu trauern"[6], sondern ein grundsätzliches Krisenpotential für die Ethik. Nicht die Aufgabe, sondern vielmehr eine unentrinnbare Folge der Kunst und der ästhetischen Erfahrung ist es, "Chaos in die Ordnung zu bringen" (MM 143). Dieser Aufruhr des Schönen gegen das Gute kann nicht befriedet werden.

Anmerkungen

  1. Chr. Menke, Die Souveränität der Kunst, S. 251.
  2. W. Bender, Ethische Urteilsbildung, a.a.O., S. 127f.
  3. Man kann Adornos Konfrontation der nichtästhetischen Diskurse mit uneinlösbaren, aber auch unabweisbaren Anforderung selbst wieder in ethische Termini fassen, wie dies z.B. D. Mieth tut: "Wer sich ... mit der Scheinobjektivität bestehender Ordnungsgestalten nicht zufrieden gibt, flieht in den Moralismus der Kunst, der eine Ethik permanenter Kritik gestattet" D. Mieth, "Ansätze einer Ethik der Kunst", a.a.O., S. 481. Freilich wird die Kunst so doch wieder bloß zur heteronom bestimmten Zulieferungsinstanz für das Interesse an einer sich vor Erstarrungen schützenden Moral.
  4. R. Bubner, "Mutmaßliche Umstellungen im Verhältnis von Leben und Kunst", a.a.O., S. 127.
  5. so Chr. Menke, Umrisse einer Ästhetik der Negativität, a.a.O., S. 214f.
  6. D. Mieth, Ansätze einer Ethik der Kunst, a.a.O., S. 481.