Was sind uns(ere) religiöse(n) Räume wert?

von Andreas Mertin

[religion unterrichten 1/2012]

Kerstin Schulz, Kirche im Schlussverkauf, Braunschweig St. Michaelis, 2011

Himmelsstürmer wollten und sollten die Künstlerinnen und Künstler sein, die 2011 die historischen Innenstadtkirchen von Braunschweig „besetzten“, um mit ihren Kunstinszenierungen neue Einsichten in die vielleicht allzu vertrauten Räume zu ermöglichen. Seitdem Kirchen nicht mehr wie im Mittelalter die öffentlichen Kommunikationsorte einer Stadt sind, seitdem sie aber auch nicht mehr, wie noch im 19. Jahrhunderts allgemeine Rückzugsorte vor die immer geschäftiger werdenden Gesellschaft sind, ist der „Wert“ der Kirchen in der subjektiven wie öffentlichen Wahrnehmung kontrovers. Was für den einen weiterhin der zentrale Bezugsort religiösen Geschehens ist, ist für den anderen eine willkommene Unterbrechung im Alltag und für den dritten der ideale Aufführungsraum für eine Bach’sche Kantate. Andere wiederum beobachten mit Sorgen, wie viel Geld Kirchengebäude de facto verschlingen, Geld, das doch viel besser genutzt werden könnte und sie überlegen, ob man die Kirchen nicht einfach an den Meistbietenden verkaufen sollte.

Diese Gemengelage an Interessen, Hoffnungen und Befürchtungen hat sich die Künstlerin Kerstin Schulz für ihre Inszenierung in der Braunschweiger Kirche St. Michaelis im Rahmen der Ausstellung Himmelsstürmer 2011 als Ausgangsmaterial gewählt: Darf man den Raum des Religiösen unter ökonomischen Gesichtspunkten kalkulieren? Sind Kirchenräume einfach nur Waren? Aber auch: Wie viel Warencharakter ist dem Raum des Religiösen immer schon eingeschrieben? Geht es hier nicht in Wahrheit in einem mehrfachen Sinne um Ökonomie – sei es der Kirche, des Heils, der Freizeit? Und welche Werte bilden diese Bereiche?

Kerstin Schulz, Jahrgang 1967, stammt aus Hannover, studierte hier Grafikdesign und Kunst und war 1988 Meisterschülerin bei Prof. Vernunft. Ihr künstlerisches Thema ist die  Materialität. Seit Jahren arbeitet sie mit Massen von bezeichnenden Materialien wie Bleistiften, Farben, Farbtuben oder Sonderpreisetiketten, aus denen sie Reliefs und Objekte herstellt.

In St. Michaelis hat die Künstlerin in einer beeindruckenden Aktion die halbe Kirche mit leuchtend orangefarbenen, roten und gelben Preisetiketten für den Sonder-Ausverkauf überzogen. Fast die gesamte rechte Seite der Kirche ist samt der Kanzel und der Liedertafel bereits vom Fluss der Kapitalsignets erfasst, ja sogar an den einzelnen Kirchenbänken hängen schon Preisschilder und gerade greift die unaufhaltsame Macht des Ausverkaufs in einer ausholenden Geste auf den Altar über. Selbst die Nutzerinnen und Nutzer der Kirchen, seien es Gemeindeglieder oder Touristen, werden von der Ökonomisierung des religiösen Raumes erfasst und in den Sog des Kommerzes hineingezogen, so dass sie kaum noch kenntlich sind und sich dem Strom der Zeichen angleichen. Auch die Besucher werden auf diese Weise dem ökonomischen Kalkül unterzogen und in die Wertebilanz der Kirche mit einbezogen. Ab wie vielen Besuchern „lohnt“ sich eine Kirche?

Kerstin Schulz thematisiert mit ihrer Kunstaktion den Ausverkauf scheinbar überflüssigen Besitzes, wie ihn die öffentlichen Kommunen schon seit langer Zeit betreiben. Diese „Lösung“ scheinen sich auch Kirchenleitungen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zunehmend zu unterwerfen. „Alles muss raus“, damit wieder Neues nachkommen kann, heißt die Zauberformel, auch wenn dies dann zwangsläufig an einem anderen Ort entstehen muss. In der Auseinandersetzung mit ihrem Installationsort stellt sie sich mit der „Kirche im Schlussverkauf“ auf die Seite der Kirchenbewahrer. Deie Besucherinnen und Besucher ihrer Kunstinstallation sollen aufschreien und sich fragen, welchen Preis wir für die Ökonomisierung auch der Religion bezahlen.

Aber Kirchen(gebäude) sind tatsächlich enorme Kostenfaktoren – das ist der kontroverse Punkt dieser Kunstaktion. Die verschiedenen Kirchen, die an dieser Kunstaktion in Hannover beteiligt sind, zeigen darüber hinaus eindrucksvoll, dass die Fremdnutzung der religiösen Räume im Sinne des Tourismus und der außerreligiösen Funktionen kein neues Phänomen ist, sondern eine Jahrhunderte alte Tradition hat. Zum anderen geschieht natürlich auch die (touristische) Vermarktung mittelalterlicher Kirchen nach ökonomischen Kriterien. Ohne Ökonomie geht quasi gar nichts. Der Erhalt wie der Verkauf unterliegt also einer Ökonomie. Jedenfalls sind anhand dieser Kunstarbeit spannende Diskussionen über Werte-Bildung im mehrfachen Sinne zu erwarten. Welchen konkreten Wert haben die ausgezeichneten Objekte? Was sind sie uns wert? Welche Werte kann man dabei nicht in Preise umrechnen?

In der Legendenbilung der Kirche gibt es eine ganz interessante Geschichte, die man vielleicht zur Erörterung mit heranziehen könnte. Sie stammt aus den syrischen Thomas-Akten und ergänzt unser Wissen vom weiteren Leben des Ungläubigen Thomas. Die Geschichte  behandelt zentral das Thema Wertbildung am Beispiel der Architektur: Die syrischen Thomas-Akten erzählen, dass Christus Thomas erschien und ihn aufforderte, dem Boten des Königs Gundisar nach Indien zu folgen, da der König den besten Baumeister suche, um sich einen Palast nach römischer Bauweise errichten zu lassen. Bei Gundisar angelangt, zeichnete Thomas diesem einen Palast und erhielt große Schätze zum Bau, verteilte diese aber während der Abwesenheit des Königs an die Armen. Dem zurückgekehrten empörten König, der Thomas in den Kerker warf, erschien sein vor kurzem verstorbener Bruder; der erklärte ihm, Thomas habe für ihn im Jenseits den prächtigsten Palast errichtet, worauf Gundisar sich bekehrte. (nach: www.heiligenlexikon.de/BiographienT/Thomas.html)

Vielleicht kann man in der Betrachtung beides zusammenbringen: die beeindruckende Installation von Kerstin Schulz in der Kirche St. Michaelis aus dem 21. Jahrhundert und die frühkirchliche Reflexion über Wertebildung aus dem 3. Jahrhundert.

Andreas Mertin

Zuletzt bearbeitet 01.02.2014