Kubach-Wilmsen-Team, Lebensbuch

von Andreas Mertin

[religion unterrichten 1/2010]

Kubach-Wilmsen-Team, Lebensbuch

Lebensbuch, franz. Marmor, 1983, 57x41x35 cm

Ein bearbeiteter Stein, voluminös, monolithisch, zum Berühren einladend, zur tastenden Geste entlang der Rillen oder über die glatte, sich wellende Oberfläche. Man ist irgendwie unmittelbar versucht, den Stein aufzuklappen, seine Geschichte(n) zu lesen, die in ihm vermuteten Texte zu lesen bzw. zu entziffern. Stattdessen ist dieses Buch aus Stein anders als alle anderen Bücher. Von den Künstlern ist folgende Aussage überliefert: „Ein Buch wird von der Hand gehalten und mit den Augen gelesen. Ein Steinbuch wird von den Augen gehalten und mit der Hand gelesen.“ Genau dazu lädt das Buch ein, es mit den Augen zu erfassen und mit den Händen anzufassen, mit den Fingern seiner Gestalt und Form nachzugehen.

Wolfgang Kubach (1936-2007) und Anna Kubach-Wilmsen (1937) sind Bildhauer, die sich unter dem Namen Kubach-Wilmsen-Team seit 1976 intensiv mit der Gestalt des Steinbuches auseinander gesetzt haben. So gab es in ihrem Oeuvre Steinbücher in allen Größen, darunter auch die Buchrolle, das heruntergefallene oder geworfene Buch, ja selbst Steinzeitungen, Eine Steinbibliothek aus 316 Steinbüchern fand ihren Platz in der Bibliothèque Nationale in Paris.

Was aber fangen wir mit diesem für uns offenkundig verschlossenen Buch an? Wir können sein Äußeres, seine Oberflächen ertasten, aber wir dringen nicht weiter vor. Im Lexikon lässt sich nachschlagen, der Stein sei ein Sinnbild der Härte, Schwere, auch der Unfruchtbarkeit. Er wird bei vielen Völkern religiös verehrt. Aufgrund seiner Festigkeit und Härte glaubte man, eine besondere Macht sei in ihm enthalten, Steine werden seit der Frühzeit der Menschheit an besonderen Orten errichtet. Die jeweilige Bearbeitungsform des Steins ist seit der Steinzeit ein Anhaltspunkt für die Entfaltung des Geistes und die Entwicklung der Technik.

Schaut man genauer auf die Skulptur, dann wirkt sie wie ein altes Buch, wie man es auf einem verstaubten Speicher finden könnte: durch vieler Menschen Hände gegangen, abgegriffen, abgenutzt, verzogen, auseinander gebogen, vermutlich von Feuch­tigkeit durchdrungen und dabei gewellt, vom Zahn der Zeit gezeichnet. Ein gebundenes Buch mit zahlreichen Seiten und einem - so will es scheinen - solide verleimten Rücken. Ein Buch, das sich zu biegen scheint unter der Last seines Inhalts und seiner Bedeutung. Ein Buch aus Stein. Die ersten schriftlichen Mitteilungen wurden in weichen Ton geritzt. Das Buch, so weiß wiederum das Lexikon zu berichten, gilt als Sinnbild für den Reichtum an Welt-, Sinn- und Wissensgehalt.

Dieses Buch trägt den Titel „Buch des Lebens“. Ein Titel, der von mythischen Grundidee aus der Frühzeit der Menschheit kündet. Die Vorstellung von einem Buch des Lebens eint viele Religionen. Sie erzählen davon, dass Gott ein Verzeichnis aller Lebenden und ihrer Taten führt; wer aus diesem Buch gestrichen wird, stirbt. Eine derartige Vorstellung gibt es auch in der jüdisch-christlichen Tradition. „Das Buch des Lebens, auch: Buch der Lebenden, hebräisch: sefer chajim, ist im Judentum und Christentum die Vorstellung von einem göttlichen Verzeichnis, das die Namen aller Gott wohlgefälligen Menschen enthält, die je gelebt haben. Zu unterscheiden ist das Buch des Lebens von den anderen Büchern, in denen die Taten der Menschen verzeichnet sind, und nach denen am Tag des Gerichtes das Leben der Sünder bewertet wird.“ [Wikipedia] Die Wörter im Umfeld von Buch des Lebens lauten "einschreiben", "austilgen" und "versiegeln". Mose bittet darum, statt den des ganzen Volkes Israel, nur seinen Namen aus dem Buch des Lebens zu tilgen. Dagegen spielt das versiegelte, unzugängliche und mit Geheimnissen vollgeschriebene Buch vor allem in den apokalyptischen Büchern eine wichtige Rolle.

In der Umgangssprache wurde das Buch des Lebens freilich nach und nach zum einfachen biographischen Lebensbuch, welches die Taten eines Menschen verzeichnet und nur noch in religiöser Auslegung zum Gericht gelesen wird. Es wurde zum Tagebuch in individualisierter Perspektive.

Wir aber sehen vor uns ein altes Lebensbuch in Stein, verschlossen, versiegelt, ohne 'offenbare' Nachricht, ohne konkreten Adressaten und dennoch wortwörtlich ein Stein des Anstoßes. In Form und Material kündet etwas von Dauer, vom Überleben, vom zeitlos Gültigen, von Ewigkeit. Dieses 'Buch aus der Natur' würde allein durch seine Existenz noch vom Menschen künden, wenn es keine Menschen mehr gäbe. Und so ist es kein Stein, der 'still' bliebe, der ohne eine Botschaft wäre. Wenn die Menschen schweigen, dann werden die Steine schreien. The medium is the message.

Aber noch etwas anderes wird bei der Betrachtung des Kunstwerks deutlich. Wenn diese Skulptur etwas zeigt, dann dies: Man kann eigentlich sein eigenes Lebensbuch nicht selbst schreiben, man darf es nicht schreiben. Wir würden unser eigenes Leben immer schönen, sozusagen mit TippEx über seine Betriebsunfälle hinweggehen und anderes mit goldenen Farben hervorheben. Das Buch des Lebens schreibt sich, es ist eine Art Écriture automatique. Wir stoßen in aller Regel nur auf seine Oberflächen – wie im Kunstwerk des Kubach-Wilmsen-Teams.

Zuletzt bearbeitet 12.06.2010
© Andreas Mertin