Now here - Nowhere

Vom Überschreiten der Grenzen in Kunst, Ästhetik und Religion

von Andreas Mertin

Vortrag auf der Tagung "Vom Gehen und Bleiben", Ev. Akademie Bonn 2.-4.2.2008

Gehen bleiben

Die Ausstellung gehen bleiben, der sich diese Tagung verdankt und die wir im Bonner Kunstmuseum besucht haben, setzt sich mit dem zentralen Thema der Bewegung auseinander wie auch mit solchen Orten, an denen die Bewegung innehält – aus welchen Beweg-Gründen auch immer.

gehen und bleiben sind seit der Urzeit elementare menschliche Verortungsformen. Wie es in der Ankündigung der Ausstellung heißt, zeigen die ausgestellten Werke

„das Gehen und das Bleiben als unmittelbare, freie oder erzwungene Erfahrungen, die an den Körper gebunden sind und damit auch Erfahrungen von Identität vermitteln … Sie befragen prinzipielle Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung und Selbstvergewisserung, der Beziehung zu Raum, Ort, Zeit, formulieren im Gehen und Bleiben aber auch historische, gesellschaftliche und biographische Erfahrungen. Sie entwerfen Modelle für andere Möglichkeiten zu leben und sehen im Gehen ebenso eine Metapher für das Transitorische und Flüchtige, das Vergehen der menschlichen Existenz. So umspannt die Ausstellung die verwirrende Gleichzeitigkeit der Empfindung, die Gehen und Leben, Bleiben und Erstarrung in eins setzt, andererseits im Gehen ein nomadisch ruheloses Umherirren, im Bleiben ein Ankommen bei sich selbst erkennt.“[1]

Schon die Ankündigung der Ausstellung zeigt eine auffallende Nähe – um nicht zu sagen ‚Familienähnlichkeit’[2] zur Beschreibung und zum Selbstverständnis der großen Religionen dieser Welt. Gerade die Formulierung vom „nomadisch ruhelosen Umherirren“ ist eine Anknüpfung an eine biblische Ur-Erfahrung, die als von jedem Juden zu repetierende Bekenntnisformel so lautet: „Meine Eltern waren umherirrende aramäische Leute“ (5. Mose 26, 5).

Aber auch das zu sich selbst kommen, die Gestaltwerdung einer Person, eines Volkes, einer Gesellschaft gehört zu den Grunderfahrungen der biblischen Überlieferungen. Unmittelbar im Anschluss an das gerade zitierte Bekenntnis heißt es im fünften Buch Mose: „Adonaj führte uns mit starker Hand, mit ausgestrecktem Arm, durch große Ereignisse, durch Zeichen und Wunder aus Ägypten heraus und brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land, das von Milch und Honig überfließt.“ Für die Autoren dieser Verse hat das Nomadische ein Ziel: und wenn es ein utopisches – aber eben kein atopisches – ist. Die Ruhelosigkeit ist unserer Existenz geschuldet, aber kein Ziel.

Mit der Landnahme, mit der noch später einsetzenden Verortung, schließt sich eine Wanderungsbewegung, die mit Abraham in Ur bzw. Haran begonnen hatte:

„Da sprach Adonaj zu Abram: »Geh los! Weg aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus deinem Elternhaus in das Land, das ich dich sehen lasse. Ich werde dich zu einem großen Volk machen und dich segnen und deinen Namen groß machen. Werde so selbst ein Segen! Ich will segnen, die dich segnen; wer dich erniedrigt, den verfluche ich. In dir sollen sich segnen lassen alle Völker der Erde.« Da ging Abram, wie Adonaj ihm gesagt hatte“ (Gen 12, 12-4).

Geh! Weg! so beginnt die jüdisch-christliche Emigrations- und Migrationsgeschichte, die bis heute kein Ende gefunden hat.

Alle abrahamitischen Religionen definieren sich über das gehen und bleiben, verstehen sich als jeweils zeitgenössische Repräsentationen des „wandernden Gottesvolkes“ mit unterschiedlichen örtlichen Bezogenheiten – ob diese nun Ur in Chaldäa, Kanaan, Sinai, Jerusalem, Rom, Mekka, Medina oder Wittenberg heißen.

Und die Religionen selbst bieten ebenfalls – wie es im Ausstellungstext heißt – „Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung und Selbstvergewisserung, der Beziehung zu Raum, Ort, Zeit, formulieren im Gehen und Bleiben aber auch historische, gesellschaftliche und biographische Erfahrungen.“ Und schließlich entwerfen auch alle Religionen ganz selbstverständlich „Modelle für andere Möglichkeiten zu leben“. Das alles ist sozusagen eine Grundbestimmung von Religion: ein Modell zu liefern, für andere Möglichkeiten zu leben.

Fast könnte man geneigt sein, die Ausstellung in der Bonner Kunsthalle als spätneuzeitliche ästhetisch-künstlerische Reformulierung eines ursprünglich genuin religiösen Paradigmas zu bezeichnen. Gehen, um zum Bleiben zu kommen ist ein religiöser Ur-Topos. Im Katalog der Ausstellung hat Volker Adolphs die religiösen Grundierungen benannt.

Vermutlich ist es aber realistischer zu sagen, dass das den großen Religionen inhärente Bewegungs- und Verortungspotential mit seinem Oszillieren zwischen gehen und bleiben sich neuzeitlich ausdifferenziert in ganz unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche, zu deren Reflexionsformen die Kunst und die Religion, und zu deren Aktionsformen unter anderem das Kapital, die Medien, die Freizeitindustrie und die weltweiten Migrationsbewegungen gehören.

Wir, die wir uns in Westeuropa fest-gesetzt haben, nutzen die Struktur der Freizeitindustrie, des Kapitals und der Medienströme, um uns gleichzeitig über die gesamte Welt zu bewegen. Und die, die aus ökonomischen Gründen gezwungen sich, sich durch die Welt zu bewegen, nehmen ihre kulturelle Verortung mit an ihre neuen Raststätten.

Notabene – Eine Zwischenbemerkung

Die Ausstellung gehen bleiben ordnet sich ein in eine Tendenz der Ausstellungsinszenierungen, die dem Besucher nicht nur zeigen, wie Kunst arbeitet, sondern vor allem, wie Kunst mit und in ihren Exponaten argumentiert.[3] Kunst, das kann man in der gerade gesehenen Ausstellung lernen, hat etwas zu kommunizieren, etwas zur Sache beizutragen, sie kann als sachlicher Diskurs begriffen werden. Was zeigen Künstler der letzten 50 Jahre zum Thema gehen und bleiben?

Eine Inszenierung ist dabei „der Versuch, innerhalb des Mediums ‘Ausstellung’ Gebundenheit, Zusammenhang, Gemeinsamkeit lebensweltlicher Orientierung zwischen Aussteller und Besucher zu symbolisieren [...] Bei Licht besehen ist also die Inszenierung Ausdruck einer Gemeinschaftserwartung des Ausstellers gegenüber dem Besucher“.[4] Die Ausstellung funktioniert nur, wenn die Besucherinnen und Besucher mitgehen, sich selbst auf den Weg machen, dem Parcour folgen oder ihn bewusst außer acht lassen. Unterscheiden lässt sich eine derartige Ausstellung von der klassischen Ausstellung dadurch, dass die Sinnebene durch explizite Strukturierungen eines Ausstellers hergestellt werden soll und nicht nur in der Begegnung zwischen (Einzel-) Exponat und Besucher. Die Inszenierung unterstellt einen mehr als formalen Zusammenhang der Exponate.

Lange Zeit des 20. Jahrhunderts hatte der Protest gegen die funktionale Indienstnahme zugunsten anderer Diskurse, sei es des religiösen, des politischen, des philosophischen, des bürgerlichen[5] usw. die Kunst ins Schweigen getrieben. Kunst war kein Transportmittel irgendwelcher anderer Botschaften. Das Kunstwerk wollte / sollte für sich allein wahrgenommen werden. Jedes Kunstwerk der Moderne flüsterte: Du sollst keine anderen Kunstwerke haben neben mir!

Zwar hatte gerade der Protest gegen die funktionale Indienstnahme zugunsten anderer Diskurse, sei es des religiösen, des politischen, des bürgerlichen die Kunst ins Schweigen getrieben. Inszenierungen aber sind konstitutiv mit dem „Transport von Bedeutung“ beschäftigt, sie führen zur Rückkehr der Botschaft der Bilder und nähern sich damit wieder einem zentralen religiösen Motiv an. Zwar entbehren die Kunstwerke der Gegenwart in der Regel expliziter Beredsamkeit, sie werden jedoch in der Inszenierung durch die Art der Konstellation sprechend gemacht.

Ausstellungsinszenierungen aber sind konstitutiv mit dem „Transport von Bedeutung“ beschäftigt, sie führen zur Rückkehr der Botschaft der Bilder und nähern sich damit wieder einem wichtigen religiösen Motiv an. Zwar entbehren die Kunstwerke der Gegenwart in der Regel expliziter Beredsamkeit – ein Kunstwerk von Bill Viola sagt nicht: „ach, was ich gerade noch zum Thema gehen und bleiben sagen wollte“, Kunstwerke werden erst in der Inszenierung durch die Art der Konstellation sprechend gemacht.

Die Ausstellung des Bonner Kunstmuseums scheint mir ein schlagender Beweis dafür zu sein. Sie konstelliert die Kunstwerke und eröffnet geradezu verführerische Simultanitäten und Logiken in den Botschaften der Kunstwerke: von Abramovic über Landau bis zu Galindo.

Now here – Nowhere

Ich habe meine Überlegungen unter den Titel „Now here – Nowhere. Vom Überschreiten der Grenzen in Kunst, Ästhetik und Religion“ gestellt. Die Assoziation zum Titel habe ich mir von Julia Oschatz „geborgt“, in deren Werk das Nowhere und Now here in spezifischer Weise eine Rolle spielt. Aber dazu später mehr.

Der Unterschied zwischen No-where und Now-here, das wird die Voraussetzung meiner Ausführungen sein, ist sowohl beschreibbar im System der Religion wie in dem der Kunst – ohne dass es sich um den gleichen Vorgang handeln müsste. Beide kulturellen Bereiche sind seit ihrer Genese als autonome kulturelle Bereiche – also seit der Aufklärung – exakt mit dieser Differenz beschäftigt. Lange Zeit hatten die Philosophen und Literaten der Aufklärung geglaubt, die Thematisierung der Differenz von Nowhere und Now-Here sei zwar ursprünglich von der Religion betrieben worden, werde nun aber und vor allem nach der Zeit der Aufklärung von der Kunst betrieben. Immanuel Kant hat in der Kunst bzw. der Ästhetik ein hinreichendes Substitut der Religion gesehen, Goethe und Andere sind ihm darin gefolgt.[6]

Heute gehen wir aber weniger von einer historisch Substitution des einen durch das andere, sondern eher von einer historisch erfolgten Differenzierung in unterschiedliche kulturelle Bereiche aus. Das heißt, an der Art, wie die Differenz von „Now here – Nowhere“ eingebracht wird, lassen sich Kunst und Religion heute unterscheiden. Der Theologe Wilhelm Gräb hat das so formuliert: „In ästhetischer Erfahrung kommt dem Individuum die Welt endlich entgegen. In religiöser Erfahrung weiß es sich unendlich von ihr unterschieden“.[7]

Grundsätzlich aber gilt: Im Zwischen von No-where und Now-here ereignet sich etwas, was seit den menschlichen Urzeiten eine Differenz anzeigt, die wir immer wieder anders umschreiben, mit immer wieder anderen Geschichten, Erzählungen, Aktionen und Bildern verknüpfen, die aber bei allen Unterschieden eines besagt: dass etwas ist und dass nicht nichts ist. Oder auch, dass etwas, was nicht offenkundig ist, dennoch sinnvoll vergegenwärtigt und das heißt auch: vor Augen geführt werden kann.

Religion

Ich komme nun zunächst auf den kulturellen Bereich der Religion zu sprechen. Religion ist seit ihren beschreibbaren Anfängen immer eine Differenzerfahrung, eine Erfahrung, dass die Dinge nicht so sind, wie sie zunächst erscheinen. In diesem Sinne schreibt Uwe Kühneweg:

„Alle Religion ist Grenzüberschreitung, sie überschreitet die Welt der sinnlichen Wahrnehmung und des Alltagsverstandes, rechnet mit einem oder mehreren oder vielen überweltlichen Wesen, zu denen die Gläubigen sich positiv oder negativ verhalten. Religiöses Reden von Gott oder Göttern, von der Seele und ihren Schicksalen, von einer Hoffnung über den Tod hinaus überschreitet die Grenze der naturwissenschaftlich-technischen Weltsicht und unserer alltäglichen Erfahrung. […] Die Grenze zwischen Alltagserfahrung und religiöser Erfahrung mag zwar nicht breit sein, aber sie kann nicht in methodischer Weise mit Mitteln der Naturwissenschaft und der Logik überschritten werden, sondern nur im Sprung des religiösen Erlebens. Agnostikern und Atheisten kann man das Dasein Gottes nicht beweisen, so wenig wie überhaupt das Bestehen einer transzendenten, jenseitigen Welt. Religion lebt vom Bewusstsein dieser Grenze, wobei die Bereiche diesseits und jenseits der Grenze verschieden benannt sein mögen. Dem nicht-religiösen Außenstehenden ist zwar die Rede von dieser Grenze einsichtig, denn sie ist ja die Grenze der Alltagserfahrung und der wissenschaftlichen Weltdeutung, aber Atheisten und Agnostikern erscheint diese Grenze mit Kant gesprochen als Schranke, die eben nicht überschritten werden kann, wohingegen alle Religion von der Überzeugung lebt, dass die Grenze eine wirkliche Grenze ist, hinter der etwas existiert und wirkt und zu finden ist.“[8]

Selten konkretisiert sich das so sehr wie am Beispiel des Ortes und des Raumes, jenen elementaren Substantivierungen des gehen und bleiben. Für den religiösen Menschen, so schreibt der Religionswissenschaftler Mircea Eliade,

„ist der Raum nicht homogen; er weist Brüche und Risse auf: er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden sind. ‚Komm nicht näher heran!’ sprach der Herr zu Mose, ‚Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden’ (Exodus 3,5). Es gibt also einen heiligen, d.h. ‚starken’, bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Räume, die nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort amorph sind ... Weisen wir sofort darauf hin, dass die religiöse Erfahrung der Inhomogenität des Raums eine Urerfahrung darstellt, die wir einer ‚Weltgründung’ gleichsetzen dürfen ... ein primäres religiöses Erlebnis, das aller Reflexion über die Welt vorausgeht.“[9]

Für eine Orientierung in der Welt (für das gehen und bleiben) wäre demnach ein fester Punkt notwendig, der als Bezugspunkt dient. Das hört sich so selbstverständlich an, ist es aber überhaupt nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob Verortungen in dieser Form in der Gegenwart überhaupt noch geschehen.

Jedenfalls lässt sich das Weltsystem traditionsgebundener Gesellschaften so beschreiben::

  • „ein heiliger Ort stellt einen Bruch in der Homogenität des Raumes dar;
  • dieser Bruch ist durch eine ‚Öffnung’ symbolisiert, die den Übergang von einer kosmischen Region zur anderen ermöglicht (vom Himmel zur Erde und umgekehrt von der Erde in die Unterwelt);
  • die Verbindung mit dem Himmel kann durch verschiedene Bilder ausgedrückt werden, die sich alle auf die axis mundi beziehen: Säule, Leiter, Berg, Baum, Liane usw.;
  • rund um diese Weltachse erstreckt sich die ‚Welt’ (‚unsere Welt’), folglich befindet sich die Achse ‚in der Mitte’, im ‚Nabel der Erde’, sie ist das Zentrum der Welt.“

Weitere Schlussfolgerungen ergeben sich daraus:

  • „heilige Städte und Heiligtümer befinden sich im Zentrum der Welt;
  • die Tempel sind Nachbildungen des kosmischen Berges und bilden das Band zwischen Erde und Himmel;
  • die Grundmauern der Tempel tauchen bis tief in die unteren Regionen hinab.“

Einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass – so viel die Religionen auch historisch zur Verräumlichung und Verortung der Welt beitrugen – einige Orte im religiösen System bewusst ortlos (wenn nicht a-topisch, dann doch wenigstens u-topisch) bleiben sollten. Die biblischen Schriftsteller legten zum Beispiel sehr viel Wert darauf, die die gesamte biblische Überlieferung eröffnende Paradieserzählung ortlos zu halten. So schreibt der jüdische Wissenschaftler Yehuda Radday: „Die Ironie der Torá an dieser Stelle ist souverän. Über die andauernden Anstrengungen moderner Forscher jedweder Konfession, die genaue Lage dieses Wundergartens anhand der Daten dieses Kapitels zuerst festzustellen und womöglich den Ort auch noch zu photographieren, kann sie nur lächeln.“[10] Und er fügt hinzu: Die Kunst kommt mit ihrer spezifischen Ortlosigkeit, ihrem Nowhere den biblischen Vorstellungen wahrscheinlich wesentlich näher.

Dennoch ist Zahl biblischer Stellen, an denen es um den Umschlag vom Nowhere zum Now here geht, ungleich größer. Exemplarisch ist etwa die Erzählung von Jacobs Traum auf seiner Wanderung von Beersheba nach Haran. Ich zitiere diese Stelle einmal ausführlicher:

„Und er stieß auf eine Stätte und übernachtete dort, denn die Sonne ging unter. Er nahm einen von den Steinen der Stätte, machte ihn zu seiner Kopfstütze und legte sich an jener Stätte hin. Da träumte er: Schau, ein Aufgang, gestellt auf die Erde, und seine Spitze rührt an den Himmel. Schau, die Boten Gottes steigen auf und kommen herab – auf ihm. Schau, Adonaj steht darüber und spricht: »Ich bin Adonaj, Gott Abrahams, auch deiner Eltern, Isaaks Gott. Das Land, auf dem du liegst, dir gebe ich es und deinen Nachkommen. […] Schau, ich bin bei dir und ich behüte dich überall, wohin du gehst, und ich bringe dich zurück auf diesen Boden. Ja, ich verlasse dich nicht, bis ich getan habe, was ich dir zusage.« Da erwachte Jakob aus seinem Schlaf und sagte: »Ja wirklich, Adonaj ist an dieser Stätte und ich wusste es nicht.« Er fürchtete sich und sprach: »Wie ist diese Stätte furchterregend! Nichts anderes ist dies als das Haus Gottes, dies ist das Tor zum Himmel.« Früh am Morgen stand Jakob auf, nahm den Stein, den er zu seiner Kopfstütze gemacht hatte, richtete ihn zu einer Kultstele auf und goss Öl auf seine Spitze. Und er gab jener Stätte den Namen Bet-El, Haus Gottes […] Dann legte Jakob ein Gelübde ab und sprach: »Wenn Gott bei mir bleibt und mich behütet auf diesem Weg, auf dem ich mich befinde, mir Brot zu essen und Kleidung zum Anziehen gibt, und ich in Frieden in mein Elternhaus zurückkehren kann, dann soll Adonaj mein Gott sein. Dieser Stein aber, den ich zur Kultstele gemacht habe, soll zum Gotteshaus werden.“[11] (Gen 28, 10ff.)

Jedem, der durch die Ausstellung gehen und bleiben gegangen ist, fallen wahrscheinlich gleich zahlreiche Bilder und Performances ein, die mit dieser Geschichte verknüpfbar wären. Man könnte die gerade gehörte Geschichte als paradigmatische Geschichte zur Ausstellung gehen bleiben lesen, die zugleich einige aktuelle Konnotationen hat:

Ein junger Mann mit Migrationshintergrund wird von seinem Vater zurück in die Heimat geschickt, um eine Frau für die Heirat zu finden. Anders als sein Bruder, der eine Einheimische geheiratet hat, soll dieser junge Mann sich auf den weg machen, um eine Frau aus der Heimat zu heiraten. Er ist vielleicht gerade einmal drei bis vier Tage unterwegs (von Beersheba bis Beth-El sind es 80 Kilometer Luftlinie), da passieren die geschilderten Ereignisse. Aus dem Gehen wird zwar zunächst eine lange Reise, langfristig jedoch ein Bleiben, und dem jungen Mann mit Migrationshintergrund wird deutlich, dass in diesem Land, an diesem Ort seine Zukunft liegt. Die Geschichte Jakobs ist in ihrer auch kosmopolitischen Bewegtheit von unmittelbarer Brisanz und Relevanz.

Aber kehren wir zurück zur biblischen Erörterung des Nowehre und Now-here. Die zentrale biblische Erfahrung des überwältigenden Now here ist natürlich in der Erzählung vom brennenden Dornbusch festgehalten, die mit der Selbstvorstellung Gottes verbunden ist.

„Mose sagte zu Gott: »Wenn ich aber zur Gemeinde Israel zurückkomme und ihnen sage: ›Die Gottheit eurer Vorfahren hat mich zu euch geschickt‹, dann werden sie fragen: ›Wie heißt sie?‹ Was soll ich ihnen da antworten?« Gott erwiderte Mose: »Ich bin da, weil ich da bin!« Er sagte: »Das sollst du den Israeliten mitteilen: Ich-bin-da hat mich zu euch geschickt.« Und Gott redete weiter zu Mose: »Das Folgende sollst du zu Israel sagen: ›Ich-bin-da, Beschützer eurer Eltern, Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs und ihrer Frauen hat mich zu euch geschickt. Das ist mein Name für alle Zeit; mit ihm sollen alle Generationen sich an mich erinnern.‹“[12]

Wie heißt Gott? Fragen Sie das mal jemanden auf der Straße! Gottes Name lautet: Ich bin da! Ich bin Now here und nicht Nowhere! Diese Betonung der bleibenden Präsenz, des Now-here macht klar: Adonaj = “Ich bin da“ ist als persönlicher Gott gegenwärtig, in der Geschichte des Volkes – beim Auszug aus Ägypten, Durchzug durch die Wüste und der Landnahme Kanaans – und auch im Leben des einzelnen Menschen.

Allerdings gilt das, was der Religionswissenschaftler Eliade für den „klassischen“ religiösen Menschen beschreibt, für den heutigen (post-) modernen religiösen Menschen Westeuropas nicht mehr, diese Erfahrungsform des Religiösen als eines Heiligen, auf das man stößt, das einen verortet und das einen ebenso in Bewegung wie zum Bleiben bringt, steht weitgehend nicht mehr zur Verfügung. So „ist es unbestreitbar, dass der Alltag in der Moderne, vordergründig betrachtet, wenig mit Religion zu tun hat, ohne Religion auskommt. Der Alltag trägt sich selbst und bedarf anscheinend keiner religiösen Fundierung zu seiner Stabilisierung.“[13]

Das wäre auch meine theologische Anfrage an die Ausstellung gehen bleiben, ob sie nicht von Voraussetzungen im Blick auf den Raum, den Ort und das gehen und bleiben Gebrauch macht, die heute so nicht mehr gegeben sind. Julia Oschatz` Arbeit Merry Territory – auf die ich noch zu sprechen komme – ist da viel ironischer, spielerischer und weniger essentialistisch.

Trotzdem kommen wir um die Frage der Grenze, der alltäglichen wie der letzten Grenze nicht herum. Hans Peter Duerr hat mit seinem Buch „Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation“ zu zeigen versucht, dass wir auch in der Gegenwart nur dann wissen können, wer wir sind, wenn wir unsere Grenzen überschreiten und damit als solche erfahren. [14] Das bedeutet, um eine Formulierung von Henning Luther aufzugreifen:

„Zur Alltagserfahrung gehören gerade auch 'Grenzerfahrungen' unterschiedlicher Art. Dies sind Erfahrungen, an denen der einzelne an den 'Rand' einer Alltagswelt bzw. 'zwischen' zwei unterschiedliche Alltagswelten gerät ... Dass Religion 'randständig' wird, kann dann auch heißen, dass an den Rändern (Grenzen) des normalen Alltags die religiöse Dimension aufscheint. Grenzerfahrungen sind dabei nicht auf dramatische Ausnahmesituationen beschränkt, sondern durchziehen den Alltag selber. Jeder Augenblick des Alltags kann dann eine Erfahrung der 'Grenze' oder der 'Schwelle' werden.“[15]

Genau diese Alltäglichkeit der Grenzerfahrung thematisieren in der Neuzeit und der Moderne aber nicht nur die Religionen, sondern im zunehmenden Maße auch und gerade die Künste, genauer: sie suchen diese Grenzerfahrung beim Betrachter zu initiieren.

Kunst

Damit komme ich von der Religion zur Kunst. Ebenso wie die institutionellen Räume der Religion sind auch die Räume der Kunst inszenierte Räume. Wobei beide Inszenierungen sich nicht mehr nur aus den objektiven Erfordernissen des Kultes bzw. der Kunst entwickeln, sondern sich an den Bedürfnissen und Erwartungen der Besucher orientieren. In diesem Sinne suchen die Räume von Kunst und Religion, suchen Kirchen, Museen und Galerien den Besucher einzustimmen auf das, was ihn erwartet und sie beschwören dazu den ganzen Kosmos und damit auch die Geschichte des jeweiligen Bereichs der Lebenswelt. Wer sich alles aus dem Kopf schlägt, was er von der Geschichte und der Gegenwart von Kunst und von Religion weiß, kann keine ästhetische Erfahrung und keine religiöse Erfahrung machen. Das heißt nicht, dass wir nicht auch ohne Kunst und ohne Kirche ästhetische und religiöse Erfahrungen machen können. Es heißt aber, dass im Kontext dieser Institutionen eine bestimmte Reflexionsform, man kann auch sagen: Umgangsform, Deutungsform und Erfahrungsform gepflegt wird. Und die wechselt, je nach der Institution, in der die Erfahrung einem zugemutet wird. Ein Altarbild unterliegt im Kunstmuseum anderen Erfahrungs- und Deutungsformen als in einer Kirche. Wenn man etwa die Arbeit von Bill Viola als religiöses Diptychon in einer Kirche seht, reagiert an anders, als wenn man sie im Bonner Kunstmuseum sieht.

Ich möchte nun im Folgenden eine Art Re-Lektüre der Ausstellung anhand weniger ausgewählter Exponate vornehmen, dieses mal aber unter den Gesichtspunkten des Religiösen, die ich bisher eingebracht habe. Die Beschränkung auf einige Kunstwerke geschieht nicht deshalb, weil ich die anderen werke nicht für diskussionswürdig halten würde, sondern ist allein der begrenzten Zeit geschuldet.

Wandern wir also noch einmal in Gedanken durch die Ausstellung gehen bleiben und schauen wir dabei nach potentiellen Schnittstellen zur Religion bzw. zur Erzählwelt des Judentums und des Christentums.

Marina Abramović

Marina Abramovic hebt für ihre Arbeiten den "theatralische Rahmen" hervor. Das Theatralische

„lässt die Gegenwart vergessen und transponiert einen in eine andere Zeit und an einen anderen Ort. Es suggeriert etwas anderes. Das Theatralische ist ein Mittel zur Auslöschung der Gegenwart und für eine Reise in eine vergangene Zukunft oder in eine andere imaginäre Welt. Ich bin sehr an den Ritualen der Menschen interessiert. […] Europäische Kunst interessiert sich oft nur oberflächlich für die Wirkung des Arrangements, doch ohne einen wirklichen Inhalt, eine präzise Botschaft. [...] Wir bedienen den Computer und sind unfähig, die Kräfte unseres Körpers auszunutzen, weil wir vergessen haben, dass wir sie besitzen. Meine neuen Arbeiten versuchen, diese Kräfte wieder zu wecken. Ich sehe die Kunst des 21. Jahrhunderts völlig ohne Objekte. Kunst wird die direkte Übersetzung von Energie sein."[16]

Die aus Amethyst hergestellten ‚Schuhe zur Abreise’ („Shoes for departure“, 1991) werden von Marina Abramović mit Spiritualität und religiös-magischen Vorstellungen verbunden. Die kalten Schuhe (Amethyst = „dem Rausche entgegenwirkend“) als Transportmittel einer heißen Reise.

Als Anweisung ist den ‚Schuhen’ beigegeben: „Betrete die Schuhe mit nackten Füßen. Augen geschlossen. Bewegungslos. Reise ab. Zeit: unbegrenzt“. Auch hier sind die Verbindungen zur Geschichte vom brennenden Dornbusch in Exodus 3 auffallend. Marina Abramović adaptiert die Anweisungen Adonajs: Die nackten Füße (‚Zieh die Sandalen aus’), die geschlossenen Augen („Mose bedeckte sofort sein Gesicht“), der Beginn der Reise („Auf, ich schicke dich“), die unbegrenzte Dauer („Ich-bin-da … für alle Zeit“).

Regina José Galindo I

Die 1974 geborene Regina José Galindo aus Guatemala ist in der Bonner Ausstellung mit zwei Video-Dokumentationen von Performances vertreten. In der ersten Arbeit „Wer kann die Spuren löschen? („¿Quien puede borrar las huellas?“) aus dem Jahr 2003 sieht man sie durch die Straßen von Guatemala City gehen. Sie trägt eine Schüssel in der Hand, in der sich allen Anschein nach Blut befindet. Ab und an hält sie an, taucht ihre Füße in das Blut und geht dann weiter, so dass sich ihre blutigen Fußspuren auf dem Boden abzeichnen. Ihr Weg führt vom Verfassungsgericht zum Regierungssitz.

Galindo bezieht sich mit ihrer Arbeit auf die Entscheidung des Verfasssungsgerichts, einen der blutigsten Diktatoren Lateinamerikas gegen alle Proteste die Präsidentschaftskandidatur zu erlauben. Sie interveniert mit einer Zeichenhandlung gegen die politischen Zustände in Guatemala.

Nun ist auch die Bibel voller Geschichten symbolischer Bezugnahmen auf vergossenes Blut: „Laut schreit das Blut deines Bruders zu mir vom Acker her“(Gen 4,10).

Noch prägnanter ist die Geschichte vom Exodus, in der die Häuser der Israeliten mit Blut gekennzeichnet werden. „Gegen alle Gottheiten Ägyptens vollstrecke ich die Strafen, ich heiße Ich-bin-da. Das Blut an euren Häusern soll für euch eine Schutzmarke sein.“ Das wirkt wie eine Inversion der Geschichte, die Galindo performt, ist aber im Protest gegen die gewalttätigen Unterdrücker der Israeliten durchaus verwandt.

Regina José Galindo II

Die zweite Arbeit von Galindo ist mehrdeutiger. Im Jahr 2001 hat sie in Venedig eine Performance durchgeführt, bei der sie sich zunächst vollständig rasierte und dann nackt durch die Stadt lief. Diese Arbeit wurde 2005 auf der Biennale mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Der entblößte Gang durch die Lagunenstadt zeige die Verletzlichkeit von Frauen, verweise auf die Repressionen, denen sie ausgesetzt sind.

Dass Nacktheit für eine gesteigerte Form der Verletzlichkeit steht, ist in der biblischen Tradition ein wohl vertrautes Motiv. Wir haben in der biblischen Überlieferung eine meistens übersehene, vielleicht auch tabuisierte Geschichte, die wie ein Urmodell zur Performance von Galindo wirkt. Man sollte die alttestamentlichen Propheten als frühe Performancekünstler begreifen, die mit einem ähnlichen Instrumentarium arbeiten, wie wir es seit der Fluxus- und Happening-Kunst kennen.

Im Kapitel 20 des Buches Jesaja heißt es:

… in jener Zeit sprach Gott zu Jesaja ben-Amoz: »Geh und öffne den Sack um deine Hüften und zieh deine Sandalen von deinen Füssen aus!« Und er tat so und ging nackt und barfuß. Und Gott sprach: »Wie Jesaja, der in meinem Dienst steht, drei Jahre lang nackt und barfuß gegangen ist als Warnung und Zeichen für Ägypten und Äthiopien, so wird der König von Assur die Gefangenen Ägyptens und die Vertriebenen von Äthiopien wegtreiben, Junge und Alte, nackt und barfuß, mit entblößtem Gesäß, die Blöße Ägyptens‹«

Datierbar ist diese frühe Performance in das Jahr 711 v. Chr., also etwa 2712 Jahre vor der Performance von Galindo. Und auch hier ging es um eine politische Intervention.

Sigalit Landau  

Sigalit Landaus Werk, so schreibt meine Kollegin Karin Wendt im Magazin für Theologie und Ästhetik, ist eine Kunst

„der Einkörperung – in einem unmittelbaren Sinne: indem sie ihren eigenen Körper einsetzt und in einem übertragenen Sinne, indem sie den Körper als das Nichtverfügbare thematisiert. In ihren Performances und Installationen geht es um das Aufzeigen elementarer Gesten unseres In-der-Welt-Seins, um unsere Aus-Richtungen. In dieser Suche nach Halt und dem permanenten Verlust an Orientierung, bilden sich nach Landau bestimmte Haltungen aus.“ In ihrer Performance “Standing on a water melon in the Dead Sea” aus dem Jahr 2004 balanciert die Künstlerin ‚im Toten Meer auf einer Wassermelone. Es ist aber keine gewöhnliche Melone, sondern eine Züchtung, die mit extrem salzgesättigten Wasser wächst.’

Wer die Arbeit aufmerksam betrachtet, stellt Ähnlichkeiten mit romanischen Kreuzen des Christentums fest: „Die frühe Kreuzes-Ikonographie zeigt Christus aufrecht mit geöffneten Augen als jemanden, der über den Tod ‚triumphiert’. Eines der ältesten italienischen Beispiele ist der Christus Triumphans auf einer sienesischen Holztafel von 1190, die sich heute in der Pinakothek in Pisa befindet. Die Umkehrung der zeitlichen Logik entgegen der natürlichen Gesetzmäßigkeit kommt zum Ausdruck in der scheinbar außer Kraft gesetzten Schwerkraft des Körpers. Landaus Video re-inkarniert diese Haltung der Schwerelosigkeit“.[17]

Joseph Beuys

Kommen wir nun vom Christus Triumphans zu einer Art charismatischem Wanderprediger der Kunst, nämlich zu Josef Beuys, von dem die Ausstellung drei Editionsausgaben zeigt. Die bekannteste von ihnen trägt den Titel „Die Revolution sind Wir“ (La rivoluzione siamo Noi“) und stammt aus dem Jahr 1972. Wir sehen Josef Beuys frontal beschwingten Schritts auf den Betrachter zugehen. Es ist ein mythisches Bild – und in jeder Hinsicht das absolute Gegenstück zu jenem Bild von Alberto Giacometti, in dem dieser mit hochgezogenem Mantel sich vor dem Regen schützt.[18] Beuys schreitet programmatisch voran, gegen die Erstarrung von Institutionen und für den Aufbruch in die Zukunft.

Dabei knüpft er an, an eine heilsgeschichtliche Ausrichtung, die „von der Kritik alttestamentlicher Propheten am Tempelkult der Priester … bis zur Ernst-Bloch-Ära der Nachkriegszeit mit ihrer Idealisierung mobiler Nomadenkultur gegenüber dem Immobilismus bürgerlicher Sedentärkultur [reicht]. Exodus aus den ‚Fleischtöpfen Ägyptens’ in die wüstenfreie Utopie: ortlos, raumlos, rastlos fortschreitend im Zug der Zeit.“[19] Wie Jesus erscheint Beuys als ein "charismatischer Wanderprediger", der mit den Nomaden das "unstet und flüchtig" der Vertreibung aus dem Paradies teilte.[20]

Alberto Giacometti

Weil ich ihn gerade angesprochen habe, möchte ich ihn auch explizit erwähnen. Denn wen ich ehrlich gesagt in der Ausstellung vermisse, weil er mir als eine Art künstlerisches Urbild für das Thema erscheint, ist Alberto Giacometti. Jeder von uns verbindet vermutlich sofort mit dem Namen Giacometti Bilder von schreitenden Figuren, die dennoch fest an einen Ort gebannt bleiben. Es sind keine leichten Figuren, sondern gravitätische, sie sind nicht fröhlich beschwingt, sondern existentialistisch ernst. Und sie ziehen auf souveräne Weise den Betrachter in die Inszenierung mit ein.

Seine Figuren lassen sich sicher ohne Mühe mit der Erzählung von Genesis 19, 26 (Lots Frau) verbinden, der Flucht und dem Erstarren angesichts der Katastrophe. Die Dialektik von gehen und bleiben, von No-where und Now here kommt bei ihm voll zur Geltung. Der lange Zeit mit ihm befreundete Jean Paul Sartre schreibt über seine Kunst: "The line is the beginning of a negation, the journey from being to nonbeing. But Giacometti believed that the real is pure positiveness: there is being, and then suddenly it is no longer there. But from being to annihilation is not conceivable."

Die Differenz von Being und Nonbeing, von Nowhere und Now here, ist eines der zentralen Momente im Werk von Giacometti. Seine Wandernden sind so konkret wie zeitlos, so raumgreifend wie zugleich dem Raum wiederum entzogen.

Bill Viola

Nicht die fixierte Bewegung, sondern ganz im Gegenteil, die in den Fluss kommende Bewegung ist das nächste Thema. Bewegung, vor allem aber: langsame Bewegung ist ein Charakteristikum der Arbeiten von Bill Viola. Neben der in der Ausstellung gezeigten Arbeit „Lebender Zeuge (Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten)“ von 2003 wäre natürlich auch an seine legendäre Arbeit „The Greeting“ zu denken, in der Viola Jacopo Pontormo in Bewegung umgesetzt hat:

„Während der italienische Meister in seinem Bild bestrebt ist, genau den Moment einzufangen, da Maria und Elisabeth sich in geistiger Versenkung am nächsten sind, der Betrachter den stummen Dialog erahnt, verfügt Viola dank der Videotechnik über die Möglichkeit das Gemälde in der Zeit zu entfalten. Zur Raffinesse des Werks von Viola gehört es allerdings, keine simple Nacherzählung anzufertigen, sondern er konterkariert sein eigenes Medium, indem er dem Video die Geschwindigkeit entzieht, indem er die reale Spielzeit des Films von 55 Sekunden auf 10 Minuten ausdehnt. Dadurch entsteht der irritierende Effekt eines sich langsam, unmerklich bewegenden Bildes. Es ist, als ob das Altarretabel aus einer inneren Dynamik heraus erwachse.“[21]

Auch bei der in Bonn zu sehenden Arbeit „Lebender Zeuge“ arbeitet Viola mit Religion wenn er die beiden Protagonisten mit Eremiten assoziiert, „die einst die Welt verließen, in die sie nun zurückkehren wollen“ um wieder umzukehren und in der kargen Landschaft aufzugehen. Diese Bewegung ist zentraler Bestandteil jüdisch-christlicher Überlieferung und speist sich insbesondere aus der Wüstenerfahrung des Volkes Israel. Der Prophet Elia bezieht sich darauf und auch Johannes und Jesus ziehen sich in unwirtliche Landschaften zurück. Die Anachorese (von ἀναχωρεῖν: sich trennen, zurückziehen) ist die Grundbewegung des Mönchtums. Seit Ende des 3. Jahrhunderts trennten sich die Anachoreten von der Kulturwelt, um abgeschieden in der Einsamkeit Gott zu begegnen.

Zu den berühmten Eremiten gehören Paulus von Theben, Antonius und auch Hieronymus. Geschichten von Eremiten füllen die Literatur und scheinen seit den frühesten Zeiten auf das besondere Interesse der Menschen gestoßen zu sein. Der Mensch, der nicht so lebt, wie man selbst lebt, der Mensch, der sich bewusst von der Zivilisation trennt, der sich von allen absondert und sein eigenes Leben lebt, der ganz konsequent auf die Errungenschaften der Zivilisation verzichtet, ist nicht nur ein modernes Märchen, sondern immer schon im Fokus des urbanen Menschen.

Andererseits kann man sich natürlich fragen, ob die Eremiten nicht schon immer vor allem unter ästhetischem Interesse wahrgenommen wurden, also als Ornamental Hermits, als Zier- bzw. Schmuckeremiten:

„Ein Phänomen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts waren die Schmuckeremiten der englischen Landschaftsparks, professionelle Einsiedler, die während einer vertraglich festgelegten Dauer in eigens eingerichteten Eremitagen wohnten und sich zu bestimmten Tageszeiten sehen ließen, um die Eigentümer der Parks und deren Gäste mit ihrem Anblick zu unterhalten.“[22]

William Kentridge

Vom südafrikanischen Künstler William Kentridge zeigt die Ausstellung gehen bleiben eine Prozession mit 26 Bronzefiguren aus dem Jahr 2000. Diese Prozession ist sozusagen die geronnene Form zahlreicher anderer filmisch-bewegter Arbeiten von Kentridge. In seinem Werk spielt Bewegung an sich eine besondere Rolle. Die Bewegung zwischen Welten ist ihm sozusagen schon biographisch eingeschrieben.[23] Aber auch den Prozess des Bewegens untersucht Kentridge in seinen Filmen: Katrin Bettina Müller schreibt zu seiner Arbeit:

„Der Kohlestift und der Radierer sind die wichtigsten Instrumente von William Kentridge [...] Zeichnen und auslöschen, Konturen ziehen und verwischen, Schwärze anhäufen und Helligkeiten hineinreißen: Ein ständiger Prozess der Veränderung findet auf seinen Blättern statt, aufgezeichnet von der Kamera. Einige Momente bleiben als Zeichnungen erhalten, die meisten aber sind am Ende des Herstellungsprozesses seiner Filme von 4 oder 8 Minuten Länge wieder verschwunden.“[24]

In einem Interview sagt Kentridge zur Technik seiner Zeichentrickfilme: Sie ist

„extrem einfach. Man braucht nur ein Blatt Papier und die Kamera. [...] Für die Bewegung einer Hand zum Beispiel gibt es nur eine einzige Zeichnung, in der die Hand gezeichnet und gefilmt, wieder ausradiert und in der nächsten Position neu gezeichnet und wieder gefilmt wird. So dass jedes Blatt Papier auch die Geschichte der Bewegungen dieser Sequenz enthält“.

Inhaltlich und formal sieht das dann so aus:

„Ein Mann blickt beim Rasieren in den Spiegel und sein Gesicht rutscht ihm weg. Eine Katze verwandelt sich in ein Telefon, ein Kopf in einen Felsblock, ein Hirn in eine Höhle. Ein Mann weint und seine Tränen überfluten ein Haus und schwemmen die ganze Landschaft fort. In Röntgenbildern bewegen sich unklare Schemen und aus der Dunkelheit im Inneren des Körpers schält sich das Bild einer Straße heraus, auf der ein Unfall passierte und Tote fort getragen werden. Halden wachsen aus der Landschaft, Leichen sickern in ihren Grund, Krater brechen plötzlich auf.“[25]

Ganz subjektiv würde ich das der biblischen „Krise der Weisheit“ zuordnen, der Frage, was passiert, wenn der vorausgesetzte Rahmen auseinander bricht, wenn Ordnung fraglich wird, wenn der scheinbare Zusammenhang von Tun und Ergehen zerfällt und es den Bösen gut geht, die Gerechten aber leiden. Ganz allgemein sind die Fragen, die Volker Adolphs der Prozession zuordnet, zugleich solche der Religion: „Woher kommt sie, warum und wohin ist sie unterwegs? Was musste zurückgelassen, welches Ziel soll erreicht werden?“ Und damit wären wir wieder bei den biblischen Figuren des Abraham, Jakob oder Mose.

Janine Antoni

Die Arbeit „Touch“ von Janine Antoni, in der diese auf einem Drahtseil am Strand über den Horizont balanciert, ist für mich deshalb faszinierend, weil die Künstlerin hier mit verschiedenen bedeutungsvollen Redewendungen, Metaphern und Begriffskonnotationen spielt: einen Drahtseilakt vollführen – im Gleichgewicht sein – den Horizont abschreiten.

„Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet die Redewendung einen Drahtseilakt vollführen ein gefährliches oder schwieriges Unterfangen, bei dem der Durchführende die Balance zwischen zwei Gegensätzen behalten muss.“[26]

Und sie ist konnotiert mit dem Zirkus und der Politik. Seiltänzer traten bereits in der Antike bei den Griechen und den Römern auf. Seiltänzerkunststücke finden sich auf antiken Vasen und Wandgemälden abgebildet.[27] Im Regelfall ist der Seiltanz deshalb bewundernswert, weil man aus der Entfernung das Seil gar nicht sieht und die Tänzerin in der Luft zu schweben scheint. Antoni geht es freilich genau um die Wahrnehmung des Seils und der punktuellen Verschmelzung mit dem Horizont. Der Horizont (griechisch ορίζοντας „der Gesichtskreis“) ist die Grenzlinie zwischen der sichtbaren Erde und dem Himmel. Genau diese Grenze lässt sich gerade nicht abschreiten, weil sie immer weit entfernt liegt.

Der Gleichgewichtssinn dagegen,

„dient zur Feststellung der Körperhaltung und Orientierung im Raum. Der Gleichgewichtssinn hat sein Zentrum im Gleichgewichtsorgan in Innenohr und Kleinhirn; er ist aber auch eng mit den Augen und anderen Sinnen sowie mit Reflexen verbunden. Zum Gleichgewichtssinn gehört das Empfinden für oben und unten, für Winkel bzw. Neigungen und Rhythmus sowie für Linear- und Drehbeschleunigungen des Kopfes in allen Richtungen. Zum Gleichgewichtssinn tragen auch bei: Der Gesichtssinn, die Muskulatur des Skeletts, das Gesäß, das Gehör, sowie der Hautsinn.“[28]

Das Gleichgewicht spielt in unserer politischen, ökonomischen, subjektiven und religiösen Metaphorologie eine wichtige Rolle. Das seelische Gleichgewicht, das Gleichgewicht der Kräfte, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, das innere Gleichgewicht – all dies sind Begriffe, die wir nahezu täglich gebrauchen.

Der Horizont dagegen ist alltagssprachlich etwas weniger präsent, dafür menschheitsgeschichtlich bedeutender, insofern er immer eine Herausforderung gewesen ist – weniger freilich für das Volk Israel, da es kein Meervolk war –, aber für das Christentum wurde der Horizont zu einer wichtigen Kategorie.

Wenn wir also – wie im vorliegenden Fall – jemand bei der Anwendung des Gleichgewichtssinns auf dem Drahtseil vor dem Meer auf dem Horizont balancieren sehen, dann ist ein komplexes Stück Menschheitsgeschichte in einem Video komprimiert vor Augen geführt.

Pipilotti Rist, Ever is over all

Das Video „Ever is Over All“ (Immer ist überall/Immer ist vorbei, 1997) von Pipilotti Rist zeigt parallel Naturbilder und eine junge Frau, die in Zeitlupe mit einer Fackellilie die Fenster geparkter Autos einschlägt. Eine Polizistin nähert sich ihr und geht freundlich grüßend vorbei. Das Video wurde inzwischen vom Museum of Modern Art erworben und zuerst 1997 auf der Biennale in Venedig gezeigt. Es gab – wie bei Pipilotti Rist üblich – ganz unterschiedliche Reaktionen: Von plakativer feministischer Naivität und inspirierender Aufbruchstimmung ging seinerzeit die Meinungsbildung. Für ihre Arbeit bekam Pipilotti Rist den Nachwuchslöwen der Biennale. Beschreibt man die inhaltlichen Aspekte der Arbeit von Pipilotti Rist, dann könnte man sagen: Wir sehen eine junge Frau, die gegen die etablierte Symbolwelt von Männern aufsteht und sie gewaltsam zerschlägt. Das Ganze geschieht unter den entsetzten Augen der Männer und dem wohlwollenden Blick der durch eine Frau repräsentierten Staats- und Rechtsgewalt.

Einer der ältesten Texte der menschlichen Text-Überlieferung, der in seiner Tradierung wahrscheinlich ursprünglich aus der Zeit um 1100 vor Christus stammt, zeigt nun auffallende Ähnlichkeiten mit Pipilotti Rists Inszenierung. In unseren Köpfen ist die altorientalische Umwelt grundsätzlich patriarchal organisiert. Das aber ist eher ein Ergebnis späterer Überlieferungskorrektur seitens der Männer. Einer der frühesten Texte der hebräischen Bibel ist das so genannte Deborah-Lied, benannt nach einer Richterin, die die Rechtsgewalt in Israel innehatte. Und in ihrem Lied lobt sie eine Frau, Jael, die Gewalt gegen die bedrückenden Männer ausübte:

In Richter 5 heißt es: „Gesegnet unter den Frauen sei Jaël, die Frau des Keniters Heber, vor den Frauen im Zelt sei sie gesegnet! Wasser bat er, Milch gab sie, in einer Schale Vornehmer reichte sie ihm Dickmilch. Ihre Hand streckte sie zum Pflock, ihre Rechte zum Arbeitshammer, zerhämmerte Sisera, zerschlug seinen Kopf, zerschmetterte, durchbohrte seine Schläfe. Zwischen ihren Füßen sank er in die Knie, fiel nieder, lag da, wo er in die Knie sank, fiel er nieder, erschlagen.“[29]

Barock- und Rokoko-Maler wie der Venezianer Jacobo Amigoni haben dieser Szene drastisch Ausdruck verliehen. In der Sache läuft die Geschichte im Richterbuch weniger auf die Legitimation der Gewalt, als vielmehr auf die Begrenzung der Gewalt der Männer zugunsten der Souveränität Gottes hinaus. Im Vergleich mit Jael im Debora-Lied ist Pipilloti Rist allerdings wirklich noch gemäßigt zu nennen.

Julia Oschatz

Diese Künstlerin habe ich selbst mit ihrer Arbeit „Hermitage – Heritage“ während der documenta XII in Kassel in der Kirche St. Martin ausgestellt.[30] Ihre in Bonn zu sehende Arbeit Merry Territory aus dem Jahr 2005 ist durchaus auch als spielerisch-ironische Auseinandersetzung mit der Paradiessehnsucht wahrzunehmen. Der Betrachter ihrer Werke stößt auf manches Vertraute, das er aus der Kulturgeschichte kennt, romantische Szenarien a la Caspar David Friedrich oder kulturelle Relikte anderer Zivilisationen. Er stößt auf Motive des Alltags ebenso wie auf Bizarres und Exotisches. Die Räume, die sich in den Installationen auftun, können direkte Abzweigungen aus den Räumen unseres Alltags sein, sie können aber auch Fluchtwege und Rückzugsräume sein. Aber es gibt auch die schrecklichen Räume, in denen man aussichtslos gefangen scheint, die einem den Raum zum Atmen nehmen. Und es gibt die paradiesischen Räume, die utopische Züge tragen und Idyllen versprechen.

Durch all diese Bild-, Raum und Erfahrungswelten bewegt sich eine eindrucksvolle Kunstfigur. Diese Kunstfigur verweigert sich nicht nur jeden identifikatorischen Gestus (Mann - Frau, menschlich - tierisch, Hase - Esel), sondern agiert zugleich auch in einer Weise, die uns zutiefst aus der Bildüberlieferung vertraut scheint. Die Assoziationen an Shakespeares "Sommernachtstraum" scheinen mir nicht willkürlich zu sein und die Welt der Faune nicht allzu fern zu liegen. Oschatz' Kunstfigur jedenfalls wandert durch imaginäre und durch vertraute Welten, durch Naturlandschaften und Zeichen(t)räume, durch klaustrophobische Zwangswelten und idyllische Panoramen. Was auf den ersten Blick vielleicht clownesk anmuten mag, erweist sich in der vertieften Perspektive als grundierte präzise Befragung von Oberflächen, Inszenierungen und (T)Räumen. Und zugleich wird jeder identifikatorische Blick (der das Werk zu sehr über seine Bezüge deutet) immer wieder zurückgeworfen auf die präzise Wahrnehmung des Kunstwerks.

Fortgang

Man könnte nun über viele weitere Künstlerinnen und Künstler und ihre Werke in der Ausstellung gehen bleiben in analoger Weise schreiben und zu immer neuen Entdeckungszusammenhängen kommen. Über Richard Long und seine Landschaftsarbeiten ist in theologischer Perspektive schon einiges geschrieben worden.[31] Er hat eine genuine Nähe zur Religion. Jan Verbeeks  ironische „Ballast-erstürmung“ hat Parallelitäten zum ebenso ironischen Vers 30 in Psalm 18: „Denn ich kann mit meinem Gott über Mauern springen“. Oder auch mit Vers 8 im Hohelied 2: „Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel.“ Beides mal geht es um das Überwinden des scheinbar Unmöglichen bzw. Unwahrscheinlichen, es geht um das Überschreiten von Grenzen. Andrea Zittels bereits von der documenta X vertraute Arbeit „Time Tunnel“ könnte man als neuzeitliche Form der Arche deuten und zwar in einer der Individualisierung der Religion analogen Individualform.

Epilog

Der Weg, den wir in der letzten dreiviertel Stunde zurückgelegt haben, durchschreitet einen Zeit-Raum von mehr als 3000 Jahren, und er verweist auf ganz unterschiedliche Formen, mit dem gehen und bleiben umzugehen. Deutlich geworden sollte sein, dass die Wahrnehmung von Raum, von Differenzen in der Raumbedeutung genuin etwas mit Religion zu tun hat - zumindest nach der Erzähllogik der großen Religionen dieser Welt.

Nicht am Ort zu verharren, sondern aufzubrechen und den eigenen Ort zu finden – das verbindet Abraham, Jakob, Mose und Jesaja – um nur die alttestamentlichen Protagonisten zu nennen.

Aufbruch von Ur in Chaldäa, Wanderung nach Kanaan, Verortung in Kanaan, temporäre Rückkehr nach Haran, Aufbruch nach Ägypten, Exodus, Verörtlichung in Jerusalem, Verschleppung, Rückkehr aus dem Exil …. Die gesamte alttestamentliche Geschichte, auf die sich ja zumindest die abrahamitischen Religionen gemeinsam beziehen, ist eine Geschichte in Bewegung.

Und es ist eine Geschichte der Suche nach dem Ort – jenseits von Eden. Was ist das gelobte Land, die Heimstatt, der Ort, an dem Transzenden und Immanenz sich begegnen? Und wie gefährdet ist der eigene Ort? Wie gefährdet ist das Eigene im Fremden? Die Orte: Ur – Haran – Beerscheba – Bethel – Jerusalem sind niemals letzte Orte, sondern selbst nur Transit-Stätten. Der Impuls der Unruhe – in der Dialektik des „Zurück nach den Fleischtöpfen Ägyptens“ bis zur Sehnsucht nach dem „Himmlischen Jerusalem“ – ist den großen Religionen quasi von Anfang an mitgegeben.

In der Neuzeit hat sich dieser Impuls ausdifferenziert in ganz unterschiedliche kulturelle Bereiche: in die Freizeitindustrie, in die Esoterik, in die Unterhaltungsindustrie, aber weiterhin auch in: Religion und Kunst.

Die Werke der Ausstellung gehen und bleiben korrespondieren auf auffällige Weise mit den Impulsen der christlich-jüdischen Tradition. Dabei geht es mir nicht um ein Hase-und-Igel-Spiel, nach dem Motto, wo immer Kultur sich bewegt, ist die Religion schon da. Eher geht es darum, wahrzunehmen, wie die zeitgenössische Kunst, Impulse der Religionsgeschichte aufnimmt, bearbeitet und transformiert. Gerade die Arbeiten von Regina Jose Galindo, von Sigalit Landau, von William Kentridge, Janine Antoni, Pipilotti Rist, aber auch vieler anderer, die im Zuge meines Vortrags nun nicht speziell erörtert wurden, zeigen, wie die Dialektik von gehen und bleiben, von Nowhere und Now here, die sich aus dem nomadischen und dem verortendem Impuls der Religion entwickelt, heute zeitgenössisch Gestalt findet.

Anmerkungen


[1]      Kunstmuseum Bonn (Hg.) (2007): Gehen Bleiben. Bewegung, Körper, Ort in der Kunst der Gegenwart. http://kunstmuseum.bonn.de/ausstellungen/aktuellindex.htm

[2]      http://de.wikipedia.org/wiki/Familien%C3%A4hnlichkeit – Familienähnlichkeit ist ein Begriff, der bei Wittgenstein eine wichtige Rolle spielt.

[3]      Die britische Buch-Reihe „ART WORKS. Zeitgenössische Kunst“, die die Ausstellungstätigkeit auf die Darstellung zwischen zwei Buchdeckeln beschränkt, hat in den letzten Jahren Themen wie GELD, AUTOBIOGRAPHIE, AKTION oder auch ORT visuell untersucht. Vgl. Dean / Millar (2005): Art works Ort. Zeitgenössische Kunst. Hildesheim.

[4]      St. Müller-Doohm / Kl. Neumann-Braun (Hg.): Kulturinszenierungen, Frankfurt/M. 1995. Darin insbesondere A. Häfner: Der Untergang der Titanic im Museum, S. 313-335,.

[5]      W. Busch / P. Schmoock (Hrsg.): Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen. Weinheim/ Berlin 1987.

[6]      Wie verschlungen die Wege der Beschreibung von religiöser und ästhetischer Erfahrung allerdings sind, wird deutlich bei dem Philosophen Ernst Müller: "Beraubung oder Erschleichung des Absoluten? Das Erhabene als Grenzkategorie ästhetischer und religiöser Erfahrung"; in: Herrmann/Mertin/Valtink (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung heute. München 1998. S. 144-165. Die Geschichte der Kategorie des Erhabenen, so Müller, „erweist sich als […] die theoretische und praktische Aufhebung der Theologie in Ästhetik und Kunst wird konterkariert durch den umgekehrten Prozess einer Ästhetisierung der Religion und Theologie“. Schon in der Genese des modernen Religionsbegriffs erweist sich dessen Nähe zur Ästhetikdiskussion, etwa wenn Kant religiöse Gefühle als ästhetische zu verstehen und zu behandeln trachtet. „Kant versucht, die auf dem Gefühl beruhende Quelle der Religion in seinen Begriff des ästhetischen Gefühls zu integrieren, ohne dabei die Grenze zur Metaphysik oder Religion zu überschreiten“. Er weist der Ästhetik Funktionen zu, die traditionell Metaphysik bzw. Religion hatten. Friedrich Schleiermacher macht interessanterweise bei der Entwicklung des Religionsbegriffs wichtige Anleihen bei Kants Kritik der Urteilskraft, so dass man sagen kann, dass das, was bei Kant die Ästhetik leistet, bei Schleiermacher von der Religion erfüllt wird.

[7]      W. Gräb, Kunst und Religion in der Moderne. Thesen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung; in: Herrmann/Mertin/Valtink (Hg.): Die Gegenwart der Kunst, a.a.O., S. 57-72, hier S. 67.

[9]      Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt 1984. S. 23. Zum Folgenden vgl. S. 25ff.

[10]     Yehuda T. Radday, Auf den Spuren der Parascha, Arbeitsmappe 1, Frankfurt 1989.

[11]     Übersetzung Bail, Crüsemann et al. (Hg.) (2007): Bibel in gerechter Sprache.

[12]     Übersetzung Bail, Crüsemann et al. (Hg.) (2007): Bibel in gerechter Sprache. Die Bibel in gerechter Sprache erläutert den Begriff so: „Anspielung auf den Gottesnamen jhwh, der von der gleichen Wortwurzel ›sein‹ = hjh abgeleitet werden kann. Die hier zweimal verwendete 1. Person Singular des Imperfekts heißt dann wörtlich: »Ich bin, der/die ich bin (bzw. der/die ich sein werde)«, ein gewollt rätselhafter, vieldeutiger Ausdruck.“ (2282)

[13]     Luther, Henning (1992): Schwellen und Passage. Alltägliche Transzendenzen. In: Ders., Religion und Alltag. Stuttgart, S. 212–223.

[14]     Duerr, Hans Peter (1982): Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. 6. Aufl. Frankfurt am Main. Duerr schreibt seine Überlegungen aber quasi als Therapeutikum eines zivilisationsmüden Späteuropäers.

[15]     Luther, Henning (1992): Schwellen und Passage.

[16]     Marina Abramovic, Kunstforum international, Band 106, 1990, S. 245

[17]     Karin Wendt (2007): Embodying Art. Sigalit Landau. tà katoptrizómena - Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik. (47). https://www.theomag.de/47/kw54.htm.

[18]     Vgl. dazu Berger, John (1981): Giacometti; in: ders., Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens. Berlin: Wagenbach, S. 123-127.

[19]     Timm, Hermann (2001): Stadt-Kirchen-Kultur: Der Architop. (tà katoptrizómena - Magazin für Theologie und Ästhetik, 13). https://www.theomag.de/13/ht1.htm.

[20]     Ebd.

[21]     http://www.medienkunstnetz.de/werke/the-greeting/

[22]     http://de.wikipedia.org/wiki/Schmuckeremit. Vgl. Sitwell, Edith (1987): Englische Exzentriker. Berlin.

[23]     Der Wikipedia-Artikel zu Kentridge ist von einer überraschenden Ambivalenz gekennzeichnet: „Aufgewachsen im Südafrika der vergangenen Jahrzehnte, lebt Kentridge auffällig ‚zwischen’ verschiedenen Welten. Er stammt aus einer wohlhabenden weißen Familie, die als Rechtsanwälte Schwarze in den Apartheids-Prozessen vertreten. Er studiert in Südafrika und Europa, er stellt Kunst in den elitären Galerien aus und arbeitet in Theater-Projekten des Resistance Art Movement.“ http://de.wikipedia.org/wiki/William_Kentridge

[24]     K.B. Müller: Das unbeständige Gedächtnis, http://www.culturebase.net/artist.php?1006

[25]     „William Kentridge - Drawing the Passing/Zeichnen für den Augenblick", Interview von Maria Anna Tappeiner und Reinhard Wulf, Kinomagazin, 3sat., 28.2.2004

[26]     http://de.wikipedia.org/wiki/Drahtseilakt_%28Redewendung%29

[27]     http://de.wikipedia.org/wiki/Seiltanz

[28]     nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Gleichgewichtssinn

[29]     Übersetzung nach der Bibel in gerechter Sprache, a.a.O.

[30]     Vgl. Verf. Von Höhlen und Medien. Julia Oschatz, tà katoptrizómena – Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik, www.theomag.de/47/am213.htm

[31]     In der Theologischen Realenzyklopädie gibt es einen eigenen Abschnitt zur Land Art. Vgl. auch Weyel / Gräb (Hg.) (2006): Religion in der modernen Lebenswelt. Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven. Göttingen


Zuletzt bearbeitet 06.11.2022
© Andreas Mertin