Max Neumann: Empfehlung zur Entfaltung
von Andreas Mertin
[Religion unterrichten. Informationen für Reliugionslehrerinnen und -lehrer im Bistum Hildesheim, 2/2006]
Max Neumann gehört für mich zu den faszinierendsten und ausdrucksstärksten Künstlern der mittleren Generation. Kaum ein Werk, das einen nicht sofort fesselt und zugleich irritiert, kaum eine Arbeit, die nicht zahlreiche Assoziationen weckt und sie zugleich konsequent unterläuft. „Sie verweigern die ‚Geschichten’, die sie zu erzählen vorgeben und verändern sich im Kopf des Betrachters je nach dessen Befindlichkeit, das heißt, sie verlangen seine aktive Mitarbeit. Beiläufig konsumierbar sind Neumanns Bilder und Zeichnungen nicht. Was einem den Umgang mit ihnen zur ständig neuen Entdeckungsarbeit macht, ist die profunde Unsicherheit dem gegenüber, was diese Bilder ‚meinen’ könnten“ schreibt Roland H. Wiegenstein über Max Neumanns Arbeiten. Und tatsächlich: Neumann schafft poetische und zugleich rätselhafte Werke. Trotz aller Figuralität sind sie nur sehr schwer motivisch zu erschließen. Dennoch fordern sie die ganze Bereitschaft, sich mit Phantasie und Kreativität auf sie einzulassen.
Das hier abgebildete Werk „Empfehlung zur Entfaltung“ gehört zu diesen geheimnisvollen Arbeiten. Was geschieht auf diesem Bild? Ehrlich gesagt: ich weiß es nicht. Aber damit bin ich nicht zufrieden, damit kann ich mich nicht zufrieden geben, denn dieses Kunstwerk fordert mich heraus, es möchte, dass ich seinen internen Verweisen nachgehe, dass ich seinem Geheimnis auf die Spur komme, dass ich es genauer und detaillierte betrachte. Ich sehe zunächst am linken und rechten Rand des Bildes jeweils eine Figur, deren Köpfe übergangslos mit dem Körper verbunden sind. Beide Figuren scheinen auf einem Stuhl mit überlanger Kopflehne zu sitzen, die in einem merkwürdigen Kontrast zu den eingesunkenen Häuptern stehen. Für ihre Sitze scheinen diese Figuren zu kurz geraten zu sein, sie füllen sie nicht aus.
Die Figuren sind zeichnerisch verbunden mit einer dritten Figur in der Mitte. Diese Figur steht, sie bildet das Zentrum des Bildes, auch wenn ihr Kopf nach vorne hinüber geneigt zu sein scheint. Über ihrer Brust überlagern sich die Ströme, die von den anderen Figuren ausgehen bzw. zu ihnen hinführen. Klammerartig nehmen sie die zentrale Figur gefangen. Der Kopf der Figur selbst könnte ein Totenschädel sein, aber wenn, dann wäre es eher der eines Tieres, eines Kojoten vielleicht? Der Totenschädel trägt einen Filzhut. An ihm hängt, mit Schnüren verbunden, eine Art Leiste, eine Schaukel, vielleicht aber auch eine Lichtröhre. Schräg hinter Kopf und Schultern der zentralen Figur liegt ein größeres Tier, das aus dem Bild heraus blickt.
Viel Freiraum ist auf diesem Werk, dessen Maße mit seinen 3x4 Metern nicht gerade klein sind. Am unteren Bildrand, aber noch auf der Leinwand steht der Titel geschrieben: Empfehlung zur Entfaltung. Auch er trägt zur Rätselhaftigkeit des Werkes bei. Was oder wer soll sich hier entfalten? Und was heißt „Entfalten“? Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes garantiert die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Ist das gemeint? Aber warum dann die verkümmerten Figuren und die zentrale Gestalt mit Totenschädel?
Denkbar und nahe liegend wäre es aber nach der Bildanalyse auch, das Werk als eine Art Hommage zu lesen, als einen Hinweis auf das Schaffen und den Impuls von Joseph Beuys, der wie kaum ein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts Aufforderungen zur kreativen Entfaltung aus der ästhetischen Verkrümmung des Menschen ausgesprochen hat. 1965 hatte Beuys mit seiner Aktion und in uns - unter uns - landunter durch die Verwendung von Materialien wie Honig, Fett, Filz und Kupfer ein symbolträchtiges Dingvokabular für Energiespeicherung, Spannung und Kreativität künstlerisch zur Anschauung gebracht. Und in seiner Aktion ,Coyote; I like America and America likes me` vom Mai 1974 hatte er vier Tage in Filz gehüllt in einer New Yorker Galerie mit einem wilden amerikanischen Kojoten verbracht. Über den Präriewolf äußerte er später, dieses den Weißen verhasste Tier könne auch wie ein Engel angesehen werden. Ob Neumann darauf anspielt? Ich weiß es nicht.
Dem Betrachter bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst (s)eine Geschichte zu diesem Bild auszudenken, wohl wissend, dass das Bild diese Erzählung notwendig wieder dekonstruieren wird. Aber auch diese eher sisyphusartige Annäherung gehört natürlich zu einer „Empfehlung zur Entfaltung“.
Religionspädagogisch geht es eigentlich nur darum, den Impulsen des Bildes nachzugehen, es wahrzunehmen, hinzusehen, aber sich auch zur kreativen Entfaltung anregen zu lassen. Die Entfaltung des Menschen, seine Befreiung von und Bewahrung vor Verkrümmung gehört zu den zentralen religiösen Impulsen.
Weitere Hinweise zum Œuvre des Künstlers finden sich auf seiner Webseite: www.maxneumann.com
Zuletzt bearbeitet 10.11.2008
© Andreas Mertin
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