Jürgen Brodwolf: Raum und Figur
von Andreas Mertin
[Religion unterrichten. Informationen für Reliugionslehrerinnen und -lehrer im Bistum Hildesheim, 1/2006]
Eine auf den Raumkörper einer Kirche bezogene Figurenbeugung ganz besonderer Art finden wir bei dem Maler, Grafiker und Zeichner Jürgen Brodwolf (*1932). Seit Jahrzehnten ist der menschliche Leib ein zentrales Thema im Schaffen dieses berühmten Künstlers. Es begann damit, dass Brodwolf eine Farbtube so verformte, dass ein menschlicher Torso entstand.
„Die neue Figuration entdeckte Brodwolf 1959 beim Spiel mit einer leergemalten Farbtube. Aus der ‚Tubenfigur’ erwuchs ein Epos dieses Figurentorsos in Zinntube, Walzblei, geschlämmten Stoffen, Pappmaché, Papier und Mischungen dieser und anderer Materialien in Objektkästen mit Fundstücken, als bewegliche Figuren in Guckkästen, auf Figurentüchern, in Reliefbildern, auf Papierarbeiten - oder in diesen dargestellt, denn Brodwolf ist ein eminenter Zeichner. Sein Figurentorso kann von der kleinen Farbtube bis zur Lebensgröße wachsen und erscheint zudem als autonome Plastik einzeln wie als Gruppe. Die Objekt- und Guckkästen erweitern sich bis zur großen Installation. Brodwolfs Figur lebt und erlebt die Obsessionen des Künstlers und der Menschheit, liebt und leidet deren und das eigene Epos.“[1]
Brodwolf umkreist den menschlichen Körper auf ebenso faszinierende wie überzeugende Weise. Seit Anfang der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts hat Brodwolf in verschiedenen seiner Arbeiten den menschlichen Leib auch mit Grundrissen von Räumen und dabei auch mit Kirchenräumen in Beziehung gebracht. „Grundrisszeichnungen und Pläne von Gebäuden, Kirchen und Siedlungen“ so schreibt Brodwolf, „faszinieren mich seit meiner Kindheit“.
Für die nachfolgenden Betrachtung wurde auf eine höchst eindrucksvolle Serie von Transparentblättern zurückgegriffen, die Brodwolf 1989 in der RadiusBibliothek zusammen mit Gedichten von Peter Härtling veröffentlicht hat.[2] Gleich das erste der insgesamt 20 Transparentblätter, das hier auch vorgestellt wird, ist eine Art „Grammatik“ der Vorgehensweise von Brodwolf in diesem Zyklus. Es zeigt eine dunkle Figur in Orantenhaltung, den Kopf schräg zurückgelegt, die Arme betend flehend empor gehalten. Die Figur auf dem Transparentblatt ist nicht scharf konturiert, sondern an einigen Stellen gebrochen. Rechts neben der Figur, aber deutlich kleiner, ein Grundriss einer dreischiffigen Kirche. Auf der linken Seite des Blattes der Umriss eines menschlichen Torso. Damit ist der Figurenbestand, der alle Transparentblätter charakterisiert und auf ihnen vielfach variiert wird, beschrieben.
Die Transparentblätter entstanden wie Brodwolf im begleitenden Text notiert in drei Arbeitsphasen: „Zuerst sind die großen, bewegten Figuren entstanden. Ich habe mittels Pinsel und Asphalttinktur in raschem Duktus auf eine Glasplatte gezeichnet, auf der sich die Figurenform durch die ausdehnende Eigenschaft der Asphalttinktur (wie ein Ölfleck auf der Wasseroberfläche) ständig weiter verformt. Durch das Auflagen eines saugfähigen Transparentpapiers wird der von mir als richtig befundene Zustand gestoppt und die Figurenform auf Papier gebannt.“ Diesen Figuren hat Brodwolf dann in einem zweiten Schritt Grundrisse gegenübergestellt. Diese entnahm er einem Mappenwerk mit Grundrissen von Zisterzienserkirchen.[3] Die Grundrisspläne geben nach Brodwolf „den Figuren ihren Bestimmungs- und Handlungsort. Die Grundrisspläne stehen für Maß und Proportion, werden zum Grab, Tempel, Tor verwandeln sich zu Stätten der Begegnung, Verschüttung, Einbettung, Ausgrabung.“ Im abschließenden Schritt hat Brodwolf dann umrisshaft die Form seiner Tubenfiguren in das bisher entstandene Bild eingetragen: „Erst durch die Einbindung dieser umrisshaften Figuren in die Grundrisspläne und die Gegenüberstellung zu den großen Figuren werden die Blätter les- und deutbar.“
Dass Brodwolf seine Körperfiguren gerade der Zisterzienserarchitektur gegenüberstellt bzw. in sie einzeichnet, hat nun historisch seinen eigenen Reiz, ist doch, wie Georges Duby in seinem Buch über die Kunst der Zisterzienser hervorhebt, die Formstrenge der Zisterzienser geradezu bewusst gegen die Bildende Kunst, den Körper und die Fleischlichkeit gesetzt: „Durch das Aneinanderfügen der Steine und die Ausrichtung der Mauern will er [Bernhard von Clairvaux; A.M.] den Menschen aus einer Trägheit wecken, seinen Geist anregen und reizen, ihn erhellen. Durch Bilder, Harmonien, ein Spiel von Entsprechungen will er dazu beitragen, die Erinnerung an die Ursprünge heraufzubeschwören, die Sieg über das Fleisch, über die Sünde, über die Nacht ist.“[4] Aber Brodwolf ist den Zisterziensern darin nahe, dass auch er alles Überflüssige aus seinem Werk verbannt und alles auf das Wesentliche reduziert, auf die Form, denn „die Form ist dem Sein wesentlich“. Räume, so wird bei Brodwolf wie auch in der Kunst der Zisterzienser deutlich, sind dem Körper nicht äußerlich und auch nicht belanglos, sie sind in die Körper eingeschrieben, sie umfangen sie, begraben sie, leiten sie. Brodwolf macht dies in seinen Transparentblättern auf eindringliche und überzeugende Art deutlich.
Im Religionsunterricht geht es neben der Erschließung des Bildes darum, der Körperbezogenheit des Bildes von Brodwolf wie des religiösen Raumes nachzugehen. Dazu sollte man den Schritten des Werkes folgen: Von der großen Orantenfigur über den Grundriss zur kleinen Figur und damit zur Körper-Raum-Konstellation. Das heißt zugleich einen Beitrag zur aisthesis der Religion und ihrer „Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum“ (Hermann Schmitz) zu leisten. Die Kunst von Jürgen Brodwolf verhilft dazu, den Raum bewusst leiblich wahrzunehmen und seine körperhaften Bedeutungsgehalt und seine religiösen, ästhetischen und anthropologischen Implikationen zu reflektieren. Den religiösen Raum mittels der bildenden Künste zu erschließen, heißt zugleich, ihn als notwendig fremd bleibend wahrzunehmen und zu akzeptieren, so dass er bleibt, was er konstitutiv ist: ein zeichenhaft verdichteter Raum, ein wie es bei dem französischen Philosophen Michel Foucault treffend heißt - Heterotop.
Andreas Mertin
- http://www.henze-ketterer.ch/kuenstler/brodwolf02.html
- Jürgen Brodwolf: Zwanzig Transparentblätter / Peter Härtling: Briefe von drinnen und draußen. Fünfzehn Gedichte, Stuttgart 1989.
- Fr. M.-Anselme Dimier, Recueil de plans d'églises cisterciennes, 1949
- Georges Duby: Der Heilige Bernhard und die Kunst der Zisterzienser. Stuttgart 1981, S. 91.
Zuletzt bearbeitet 10.07.2006
© Andreas Mertin
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