„Nimmst du auch wahr, was du siehst?“

Eine kleine Sehschule am Beispiel des Isenheimer Altars

von Andreas Mertin

[Religion unterrichten. Informationen für Reliugionslehrerinnen und -lehrer im Bistum Hildesheim, 2/2005]

Es gibt Bilder, die machen einem das Betrachten schwer. Bilder etwa, die uns so bekannt sind, dass wir schon gar nicht mehr hinschauen, wenn sie wieder einmal ins Blickfeld geraten. In diesen Fällen brauchen wir Seh-Hilfen, die unsere Wahrnehmung leiten, umlenken oder verfremden. Zu den Künstler, die der ästhetischen Konstruktion berühmter Kollegen aus der Kunstgeschichte nachgegangen sind, gehört der Berliner Günter Scharein. [Näheres zum Künstler und zum hier besprochenen Werk unter http://www.scharein.de/]

Ein gewaltiges Triptychon öffnet sich vor dem Betrachter: das Werk misst knapp 5 Meter in der Breite und 2 Meter in der Höhe. Die Seitentafeln sind halb so groß wie die Mitteltafel, sodass sie zusammengeklappt diese verdecken würden. Insoweit ist das Werk ganz altmeisterlich als Altarbild aufgebaut. Das Mittelteil ist von einem kräftigen Blau erfüllt, das vor den Betrachter einen weiten Raum eröffnet. Nach oben hin dunkler werden und fast ins Schwarze übergehend, wird es zum Boden hin immer lichter und leichter und geht schließlich in ein warmes Gelbrot über, das sich zu den Rändern hin verstärkt und eine Art feurige Grundlage bildet. Die Bildtöne bilden eine klare Ordnung aus, die farblich akzentuierten Bildbegrenzungen nach oben und unten erzeugen im Zentrum ein rein-blaues Vakuum. Das Firmament steht wie ein drohendes Verhängnis darüber. Tritt man näher vor das Bild hin, wird deutlich, dass sich die Farbgebung in feinste gegeneinander gesetzte Farblinien auflöst. Strich für Strich hat der Künstler nebeneinander gesetzt. Durch diese Strichtechnik entsteht ein leicht textiler Eindruck in der Art eines Vorhangs. Obwohl auf dem Bild nichts Figuratives zu entdecken ist, ist das Bild nicht leer, es ist eigentümlich narrativ und kommunikativ, vielmehr erzeugt die Farbstruktur die Andeutung eines vor den Augen ablaufenden Geschehens. Der Blick wandert durch die Farblandschaft auf eine Weise, die der Augen-Wanderung auf Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ nicht unähnlich ist. Die beiden Seitenteile erhöhen die Dramatik beträchtlich und bringen zugleich das ganze Werk in eine Art schwebendes Gleichgewicht. Auf der linken Seite wird ein zum Teil ins Schwarze reichendes dunkles Blau durch ein kräftiges Rot mit irisierenden Einschlägen aus gelber Farbe ergänzt, das sich nach unten hin verdünnt und nach oben hin fast die gesamte Breite des Seitenteils ausfüllt. Durch die Farbverteilung hat das Bild einen Gewichtsschwerpunkt im unteren Teil, während es nach oben hin leicht und licht wird. Die Dynamik ist zunächst nicht eindeutig zu bestimmen, das Rote könnte ebenso ephemer nach oben entschwinden wie auch sich erleuchtend in das Blau einsenken. Der rechte Seitenteil scheint zunächst die Bewegung des linken nur in einer anderen Farbvariante zu wiederholen, aber der Schein trügt. Im Gegenüber beider Seitenteile wird deutlich, dass im linken Teil das Rot wie ein Blitz auf die Erde strömt, während im rechten Teil das lichte Gelb der Erde sich entzieht und aus dem Bild nach oben entschwindet. Hier wächst das tiefe Blau, das auf der rechten Seite dem kräftigen Rot weichen musst, wieder an und wird nur in unmittelbarer Nähe des gelben Lichts ins Hellblaue erleuchtet und bildet damit eine Art Korona.

Das Werk ist keine Farbspielerei, vielmehr handelt es sich um einen anspruchsvollen Dialog mit der Kunstgeschichte. „Hommage an Meister Mathis“ heißt dieses Werk und gibt damit einen Hinweis auf seine Bezugsgröße. In diesem künstlerischen Dialog mit dem Isenheimer Altar wird mit den Farbvalenzen des Werkes gearbeitet und die die narrative Struktur des historischen Vorbilds in eine Narrativität der Farbe umgesetzt. Scharein hat die Verkündigung, die Kreuzigung und die Auferstehung des Herrn des Isenheimer Altars, die dort auf verschiedenen Ansichten sind, in einem Bild zusammengestellt. Die konkreten Bildinhalte scheinen ganz zurückgetreten, sie sind als Zitate im Kopf des Betrachters vorausgesetzt und müssen von diesem eigenständig in die Auseinandersetzung mit eingebracht werden. Die zuvor beschriebene farbliche Bewegung wird nun anhand der historischen Vorlage einsichtig. Auf der linken Seite sehen wir die Verkündigung, wobei die farbliche Dynamik nicht dem verkündigendem Engel, sondern dem auffälligen roten Vorhang und der Struktur der Kapelle im Hintergrund entnommen ist. Auf der rechten Seite hat der Künstler die Aureole des Auferstehenden leicht nach links gerückt und so die Vorlage noch dramatisiert. Der Blick auf den Mittelteil der Vorlage zeigt, wie stark bereits Grünewald das dramatische Geschehen der Kreuzigung durch die farbliche Gestaltung des Hintergrunds aufgefangen und verstärkt hat. Schareins Bild ist wirklich eine „hommage an meister mathis“, es ehrt ihn, indem er ihn als Zeitgenossen versteht. Eberhard Roter schreibt zur Religiosität der Arbeit: „Schareins Bild spricht nicht die Menge einer Gemeinde an, sondern den Einzelnen, denjenigen, der mit sich und dem Bild allein sein will. Auch dieser Zug zur Individualisierung ist ein Charakteristikum der spezifischen Religiosität in der Kunst unserer Zeit. Daraus, dass er sich nicht mehr als unmittelbarer Teilnehmer innerhalb der Szenen des Heilsgeschehens imaginieren kann, ist zu erklären, dass der Künstler das Bild in seiner Auseinandersetzung mit dem Isenheimer Altar defiguriert.“ Damit entspricht das Werk sowohl einem Zug der neuzeitlichen Religionsgeschichte wie auch der modernen Verlagerung religiöser Momente in die Kunst.

In welcher Weise kann dieses zeitgenössische Bild von Verkündigung, Kreuzigung und Auferstehung im Religionsunterricht eingesetzt werden? Losgelöst vom Bezug auf das historische Vor-Bild ist das Werk eine konzentrierte Seh-Schule. Es bedarf einer sorgfältigen und unvoreingenommenen Beobachtung, wie hier Farben, Farbübergänge, Irisierungen erzeugt werden, wie sich ganz unterschiedliche Abgrenzungen und Überlagerungen ergeben. Dann lässt sich über die Farbgestaltung auch Bewegung im Bild wahrnehmen, es gibt Zonen der Ruhe, des Aufstrebens und des Niederfahrens, es gibt flimmernde Partien und fast monochrome, deren Wechsel das Auge bewegt und lenkt. Das Hauptinteresse wird aber das beziehungsreiche Spiel mit dem Isenheimer Altar sein. So ergibt sich eine gute Gelegenheit, anhand der Kunstwerks auch einen neuen Blick auf den Isenheimer Altar zu werfen. Günter Schareins Arbeit verdeutlicht uns so neben der künstlerischen Arbeit, die Grünewalds Altarbild auszeichnet, auch etwas von deren theologischen Konzeption. In Grünewalds Werk atmet noch der Geist des Mittelalters. Scharein dagegen hat der historisch gewandelten Religiosität Ausdruck verliehen, einer Religiosität, die mit dem konkreten Geschehen immer weniger, der zugrunde liegenden Spiritualität aber umso mehr anfangen kann.

Zuletzt bearbeitet 08.11.2008
© Andreas Mertin