2003

Sinn fürs Unendliche

Medienkunst im Religionsunterricht

von Andreas Mertin

erschienen in: Religionspädagogik Rundbrief.
Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer im Bistum Hildesheim Juli/2003

„Es gibt kein Gefühl, das dem Verlangen nach dem Unendlichen, dem Sehnen, in das Unendliche überzufließen, so homogen wäre, als das Verlangen, sich in einer Wasserfläche zu begraben; der Hineinstürzende hat ein Fremdes vor sich, das ihn sogleich ganz umfließt, an jedem Punkte seines Körpers sich zu fühlen gibt; er ist der Welt genommen, sie ihm; er ist nur gefühltes Wasser, das ihn berührt, wo er ist, und er ist nur, wo er es fühlt; es ist in der Wasserfülle keine Lücke, keine Beschränkung, keine Mannigfaltigkeit oder Bestimmung; das Gefühl derselben ist das Unzerstreuteste, Einfachste; der Untergetauchte steigt wieder in die Luft empor, trennt sich vom Wasserkörper, ist von ihm schon geschieden, aber er trieft noch allenthalben von ihm; sowie es ihn verlässt, nimmt die Welt um ihn wieder Bestimmtheit an, und er tritt gestärkt in die Mannigfaltigkeit des Bewusstseins zurück.“ Was der Philosoph GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL so beschreibt, könnte als relativ präzise Einführung in einige der Kunstwerke des zur Zeit weltweit wohl berühmtesten Videokünstlers verstanden werden.

Wasser spielt im Werk des 1951 geborenen amerikanischen Medienkünstlers BILL VIOLA eine ganz besondere Rolle. Kolportiert wird, dass dies nicht zuletzt darauf zurückzuführen sei, dass er als Zehnjähriger unglücklich ins Wasser stürzte und dabei nur knapp dem Tod entgangen ist. Die dabei gemachten Nahtoderfahrungen sollen einige seiner Arbeiten beeinflusst haben. Wie dem auch sei, jedenfalls zeichnen sich die Videos von BILL VIOLA durch eine besondere atmosphärische Dichte und auch durch einen nicht zu verkennenden Hang zu metaphysischen und religiösen Fragen aus. So schreibt der Philosoph HARTMUT BÖHME: „Jenseits der Religionen bearbeitet VIOLA die Themen, die einst der Religion reserviert waren und heute durch alle kulturellen Sektoren zirkulieren: die großen Existenzialien, die Geburt, das leidenschaftliche Leben, das Sterben, der Tod. Es ist eine einfache Bildsprache, eine auf Wiedererkennung setzende Anleihe an Sakralformen, eine an elementare Gefühle appellierende Figuration. Geistliche und Agnostiker können sich gemeinsam auf derartige Werke beziehen, die eine pathetische Synthese des sonst Widersprüchlichen inszenieren.“

In den letzten 25 Jahren hat Bill Viola mehr als 125 Videoarbeiten geschaffen und ist mit mehreren spektakulären Arbeiten auch in Deutschland zu sehen gewesen: Im Jahr 2003 zeigt er im Oberhausener Gasometer die Video-Installation „Five Angels for the Millenium“, 2002 im Berliner Guggenheim-Museum die Arbeit „Going Forth by Day“, 1992 in der Frankfurter Dominikanerkirche das „Nantes Triptych“. Unter der Homepage des Künstlers http://www.billviola.com finden sich weiterführende Hinweise, auch auf aktuelle Ausstellungen in Deutschland sowie einiges an Bildmaterial.

Im Folgenden greife ich für die religionspädagogische Bearbeitung ein Werk aus den späten 70er-Jahren heraus und zwar aus dem einfachen Grund, weil es auf einer Kauf-Videokassette erhältlich und daher auch für den Religionsunterricht verfügbar ist. Das Video „Selected Works“ enthält die Arbeiten „Migration“ (1976), „The Reflecting Pool“ (1977-79), „Ancient of Days“ (1979-1981) und „Chatt el-Djerid. A Portrait in Light and Heat“ (1979). Ich habe von diesen vier Arbeiten das 7-minütige THE REFLECTING POOL ausgewählt, nicht, weil es zu den religiös inspirierten Videos von Viola gehört, sondern vor allem, weil es etwas mit den Erfahrungen und dem Lebensgefühl junger Menschen zu tun hat. Zugleich ist es eine Wahrnehmungsschulung, eine Herausforderung an die Sinne, weil es zur Reflexion dessen zwingt, was wir sehen, was wir zu sehen glauben, welche (Medien-) Erfahrungen wir machen und wie wir sie deuten.


Die Grundkonstellation des Videos ist einfach und in ihrem parabelartigen Aufbau schnell beschrieben. Der Betrachter blickt auf einen Swimmingpool, ein Wasser-Bassin in einem kleinen, leicht verwilderten Waldstück, das seine genaue Lokalität nicht verrät. Es könnte überall und nirgends sein. Das Wasser des Pools hat nicht die klinisch-reine hellblaue Farbe heutiger Swimmingpools, sondern ist eher dunkel wie in einem normalen Teich in einem Wald. Man hört im Hintergrund das Surren der aufgestellten Kamera sowie diffuse, nicht genau zu identifizierende Geräusche. Die Kamera blickt starr auf den Pool und das dahinter liegende Waldstück, wie eine Webcam aus dem Internet notiert sie scheinbar objektiv das Geschehen vor der Linse. Das Wasser plätschert vor sich hin, spiegelt vor allem den umgebenden Wald. Dann bewegt sich im Hintergrund schemenhaft eine männliche Gestalt durch den Wald auf den leicht von der Sonne beschienenen Teich zu. Sie gerät kurz aus dem Blick des Betrachters, klettert dann auf den Rand des Teiches und stellt sich vor Kopf auf. Ihre Silhouette spiegelt sich im weiterhin leicht bewegten Wasser. Im Hintergrund hört man Geräusche eines vorbeifliegenden Flugzeugs, offensichtlich ereignet sich das Geschehen nicht fernab jeglicher Zivilisation. Der sommerlich bekleidete Mann verharrt fast eine Minute in aufrechter Pose vor dem Beckenrand.

Dann federt er kurz nach unten und springt mit einem lauten Ton und angezogenen Beinen in die Höhe, um von dort – wie Augen und Verstand zunächst meinen – ins Becken zu fallen. Statt dessen gefriert die Figur in der oberen Hälfte des Bildes, der Mann erstarrt in gekrümmter Haltung auf dem Zenit der Sprungkurve mitten in der Luft, während das Wasser des Pools geradezu widernatürlich weiter leicht bewegt vor sich hin plätschert. Das verwirrte Auge sucht den Widerschein des Körpers im Wasser, aber „The Reflecting Pool“ spiegelt nur die umgebende Natur. Man braucht Zeit, um sich an die paradoxe Situation des zeitlich gespaltenen Bildes zu gewöhnen. Von einem malerischen Stillleben, mit dem es verglichen wurde, trennt das Videobild die Unnatürlichkeit der gezeigten Situation. Unwillkürlich wird der Betrachter vom Geschehen weg auf die „Machart“ verwiesen. Wieso erfüllen weder Pool noch Videobild ihre Spiegelfunktion? Was ist echt, was ist konstruiert und wie ist es konstruiert? Mit anderen Worten, was nehme ich eigentlich wahr, das heißt in dieser Situation: für wahr an?

Der Betrachter sieht die Sonne über das Wasser wandern, während sich der darüber verharrende Körper in leichter Diffusion zu befinden scheint. Nach und nach kommt das Wasser zur Ruhe. Die Konzentration des Betrachters ist nun auf einem Höhepunkt, weil er sich ja bewusst ist, dass er verschiedene Bildebenen – den erstarrten Körper, den Pool, den Beckenrand, den Wald – zeitgleich mit den Augen verfolgen muss. Plötzlich fällt ein Tropfen von der Figur ins Wasser und zieht dort ihre Kreise, es verbinden sich also zwei gerade mühsam im Kopf getrennte Bildebenen wieder miteinander. Gleichzeitig löst sich die erstarrte Figur zunehmend auf, sie wird auf einen hellen Widerschein reduziert, wird zum Fleck auf dem Videobild. Nach und nach fallen weitere Tropfen ins Becken und ziehen ihre Kreise, während sich die Figur wie bei einem Fadingeffekt weiter auflöst. Kurz vor dem gänzlichen Verschwinden der Figur (es sind nun etwa vier Minuten des Videos abgelaufen) spiegelt sich im Wasser eine sonst nicht sichtbare Figur vom Beckenrand, es ist wie ein verspäteter Spiegelreflex auf die Anfangssituation, so als ob der Teich ein Bild nachtragen müsste. Dieser Bildreflex bewegt sich am Beckenrand entlang, während die gekrümmte Figur über dem Wasser sich endgültig auflöst. Nun sind zwei Figuren als schemenhafte Reflexe im Wasser zu erkennen, werden aber von diesem aufgesogen (wobei Viola hier offensichtlich das Video rückwärts laufen lässt). Für den Betrachter ergibt sich eine Art umgekehrter Peter-Schlemihl-Effekt: nicht mehr einen Menschen ohne Schatten, sondern Schatten ohne Menschen nimmt er wahr.

Plötzlich verdunkelt sich das Wasser im Pool dramatisch, es ist nun nahezu schwarz, während sich in ihm eine helle Lichtgestalt spiegelt. Das ganze wirkt fast wie eine Epiphanie im antiken Sinne, die Verdunkelung lässt die helle Spiegelung der Figur umso auffallender hervortreten. Das schwarze Wasser ist weiter bewegt, die Erscheinung der Gestalt durch die Wellen gebrochen. Nach kurzer Zeit wandert auch dieser epiphane Spiegelreflex am Beckenrand aus dem Bild heraus, während sich das Wasser rasch aufhellt. Es ist nun tatsächlich wieder die dem konventionellen Blick vertraute hellgrüne Spiegelung des umgebenden Waldes. „Normalität“ ist wieder eingekehrt. Wiederum unerwartet entsteigt dann aber dem Wasser plötzlich eine nackte Männergestalt und richtet sich am Beckenrand auf.

Es ist, als ob der Sprung ins Wasser, den wir am Anfang des Videos zu sehen meinten, faktisch doch vollzogen wurde und der Untergetauchte nun nach dem Bad das Becken verlässt. Dann wären die Zwischenszenen eher Traumsequenzen gewesen. Aber auch die dem Wasser entstiegene Figur löst sich wiederum auf, um nur wenige Momente später im Wald neu zu erscheinen und dann endgültig über einen Waldweg den Bildraum zu verlassen.


Was sich in der Beschreibung zunächst vielleicht ziemlich rätselhaft anhört, entfaltet doch seine unmittelbare Faszination: „Man wird hineingezogen in dieses Spiel von Spiegelungen und Reflexionen, Anwesenheit und Abwesenheit, Körperbildern und Phantomen - und soll in eine poetische Verzauberung und eine magische Vertauschung des Imaginären und Realen hineingeraten“ (Hartmut Böhme). Vor allem aber fordert das Video den Zuschauer zur Reflexion des Gesehenen und zu dessen Deutung heraus. Alle Spuren deuten darauf hin, dass hier von metaphorischen Bild-Aussagen Gebrauch gemacht wird. Was spiegelt der Pool? Offensichtlich ist es keine noch so gebrochene Widerspiegelung von Realität. Der Teich führt ein (visuelles) Eigenleben. Er zeigt Dinge, die wir in der Realität nicht sehen und verweigert Einblicke, die wir erwarten. Er verändert die Menschen, die in ihn eintauchen und auch die, die ihn betrachten.

Religionspädagogisch geht es zunächst einmal vor allem darum, über das Wahrgenommene zu sprechen: Was haben die Schüler gesehen, was war logisch, was war überraschend, was hat sie angesprochen? Was ist Realität, was ist Imagination, was ist medienabhängige Variation? Welche Assoziationen verbinden sie mit dem Wasser, dem Bad, der umgebenden Natur? Das leitet über zum zweiten Schritt, die visuellen Metaphorik des Gesehenen zu entschlüsseln. Hier können die Schüler zunächst kulturgeschichtlich dem Wasser nachgehen. Ein Blick in den kulturgeschichtlichen Abschnitt eines Lexikons zum Stichwort „Wasser“ bringt hier schnell zahlreiche Anknüpfungspunkte. Zu denken wäre an den Geist Gottes, der urgeschichtlich über den Wassern schwebt, während sich in der christlichen und islamischen Mystik das Bild des Tropfens findet, der die im Unendlichen (im Meer des Göttlichen) aufgehende menschliche Seele versinnbildlicht. Die Frage, die sich die Schülerinnen und Schüler natürlich auch stellen müssen, ist die, ob Viola das alles intendiert hat. Wenn das Video ein Gleichnis ist, was ist dann seine Botschaft? Medienkunst verweigert eindeutige Antworten, aber sie provoziert Antworten der Betrachter. In diesem Sinne bietet sie eine überraschend gewinnbringende Perspektive für den Religionsunterricht.


Hinweise

Die Videokassette ist neben drei weiteren Kassetten online bei der Buchhandlung Walther König bestellbar. http://buchhandlung-walther-koenig.de

Hartmut Böhme: Bill Viola - ein Klassiker der Videokunst; in: NZZ 13./14.03.1999, S. 81 online unter http://www.culture.hu-berlin.de/hb/volltexte/texte/viola.html

Zur aktuellen Ausstellung Fice Angels for the Millenium: http://www.fiveangels.de/deutsch.htm