Alles Lüge, Truman!

Lesarten der Welt im Spiegel der Truman-Show

von Andreas Mertin

[Religionspädagogik Rundbrief.
Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer im Bistum Hildesheim I/03, S. 18f.]

"Er ist der Star der Show, aber er weiß es nicht. Jim Carrey begeistert als ahnungsloser Truman Burbank sowohl Kritiker als auch Publikum in gleichem Maße - in diesem großartigen Film von Regisseur Peter Weir über einen Mann, dessen Leben eine ununterbrochene TV Show ist. Truman realisiert nicht, dass seine idyllische Kleinstadt ein gigantisches Studio darstellt, das von einem visionären Produzenten / Regisseur / Kreativen (Ed Harris) entwickelt wurde, dass die Leute, die dort leben und arbeiten, Hollywood-Schauspieler sind und dass auch seine unaufhörlich plappernde Ehefrau ein vertraglich gebundener Mitspieler ist. Nach und nach kommt Truman dahinter. Und was er nach seiner Entdeckung macht, wird Sie zum Lachen, Weinen und zum Jubeln bringen wie kaum ein anderer Film zuvor." [Klappentext der VHS-Kaufkassette]

Das Hollywood-Gleichnis vom Eingeborenen einer medial erzeugten künstlichen Welt bzw. Höhle, der nach und nach seinen wahren Zustand erkennt und seine Freiheit sucht, ist ironisch und spannend zugleich erzählt, mit vielen intertextuellen Anspielungen nicht zuletzt auf religiöse Texte garniert und lohnt dementsprechend die religionspädagogische Bearbeitung. Der Film ist 1998 entstanden, 103 Minuten lang und liegt bei vielen Medienstellen als VHS-Kassette und DVD vor. Die Regie des Films führte der Australier Peter Weir, der auch für Filme wie "Der Club der toten Dichter" (1989), "Green Card" (1991) und "Jenseits der Angst" (1993) verantwortlich war.

Lesarten

Wie in vielen symbolisch angelegten Hollywoodfilmen bezeichnen die Eigennamen der Akteure zugleich ihren symbolischen Stellenwert, so dass Truman durchaus als "True Man" gelesen werden kann, sein Nachname Burbank als Hinweis auf das Disney-Imperium, das im gleichnamigen Ort seinen Sitz hat, und Christof, der Produzent der Show, als Christopherus, der den True-Man zu schultern versucht.[1]

Jeder Text - sei es nun ein Buch, ein Bild oder wie in diesem Fall ein Film - setzt zahlreiche unterschiedliche Lesarten in Gang. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Hollywood-Films der letzten zehn Jahre, möglichst viele Lesarten zu produzieren und damit ein möglichst differenziertes Publikum anzusprechen. Daher bieten sich auch für die Truman-Show verschiedene derartige Lesarten an. So gibt es naive Lesarten, die die Truman-Show nur als aktuelle Medienkritik verstehen, es gibt theologische, philosophische und religionspädagogische Lesarten.[2]

Matthias Wörther hat in seiner religionspädagogischen Analyse nicht nur den Film erschlossen, sondern auch zahlreiche mögliche Anknüpfungspunkte für den Religionsunterricht benannt: "Die Truman Show versteht sich von Anfang an als eine Parabel, als eine große filmische Metapher, als ein bewegtes 'Denkbild', mit dessen Unterstützung und Hilfe der Zuschauer oder die Zuschauerin auf unterhaltende und erhellende Weise mit einer Reihe von Themen und Fragen konfrontiert wird, die in anderen Zusammenhängen vielleicht eher akademisch daherkämen." Und Wörther fährt fort: "Die Truman Show ...

  • reflektiert gegenwärtige Medienerscheinungen und die Entwicklung der Medienkultur
  • sie erzählt von der Identitätsfindung eines Menschen und von der Befreiung aus einer Gefangenschaft
  • sie ist ein Traktat über die Wahrnehmung von Wirklichkeit und das Wirklichkeitsverständnis überhaupt
  • Sie stellt ihre Überlegungen in den theologischen Zusammenhang von Schöpfung, Schöpfer und Geschöpf".

Da Wörther den Film umfassend erschlossen und zudem im Internet zugänglich gemacht hat,[3] kann an dieser Stelle auf eine genauere Skizze verzichtet und statt dessen auf weitere Lesarten verwiesen werden.

Im Rahmen des Wettbewerbs "Kultur - Religion - Jugend" der Ev. Kirche Hannover haben Schülerinnen und Schüler der Marienschule Hildesheim die Truman-Show unter dem Aspekt des Höhlengleichnisses von Platon, vor allem aber unter dem Aspekt gnostischen Gedankenguts analysiert.[4] Entsprechend sehen sie in dem Film vor allem das betonte Gegenüber von Scheinwelt und realer Welt, während sie die Figur des Christof als gnostischen Demiurgen deuten. Gut gnostisch sei nicht zuletzt auch die (Selbst-) Befreiung aus der Scheinwelt durch Erkenntnis.

Und schließlich hat der Systematische Theologe und Schriftsteller Klaas Huizing im Rahmen seiner jüngst erschienenen "Ästhetischen Theologie" auch eine Lektüre der "Legende vom True Man" und dessen Ausbruch aus dem Schein-Paradies vorgelegt.[5] Huizing vertritt die Ansicht, dass sich in den heutigen Medienheiligen wie Madonna, Forrest Gump oder eben Truman Burbank die Tradition christlicher Heiligenlegenden in neuer Gestalt fortsetzt. In dieser Perspektive stellt sich dann die im Religionsunterricht zu bearbeitende Frage, welche Geschichte uns der Heilige Truman Burbank erzählt, welche Gesten er pflegt und gegen wen er sich wendet. Huizing sieht viele biblische Anspielungen (u.a. auf das erste öffentliche Auftreten Jesu, das Gleichnis vom verlorenen Sohn, die Hiob-Geschichte). Vor allem aber liest er den Film als "Kippfigur der Paradiesgeschichte": Was ist, wenn das Paradies sich als falsch erweist?

You can't cross the border

Im Folgenden möchte ich die Liste der bisherigen Lesarten weniger um eine weitere ergänzen, als vielmehr die bestehenden in einer Perspektive noch etwas akzentuieren. Viele der großen Kino-Filme der letzten Jahre kreisen ja darum, ob wir nur in einer Schein-Welt leben, und ob es eine Möglichkeit gibt, aus ihr auszubrechen. Alle machen uns letztlich in der einen oder anderen Weise Hoffnung auf jene Tür in die Realität, mit der die Truman-Show buchstäblich endet. Ob in den 70er-Jahren Fassbinders "Welt am Draht", Ende der 90er-Jahre "Matrix", Cronenbergs "Existenz" oder Weirs "Truman-Show" - immer geht es darum, einer als Schein erfahrenen Welt zu entkommen. Alle diese Filme bearbeiten letztlich eine der elementaren Kränkungen des Menschen in der Neuzeit, nämlich die Einsicht, dass wir entgegen allem äußeren Anschein die Wirklichkeit nicht wirklich erkennen können: "Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt" (Immanuel Kant).

Und so könnte man die Truman-Show auch lesen als Sinnbild der menschlichen Suche nach dem Ding an sich, nach der Wahrheit, die nicht subjektiv, sondern objektiv ist, nach dem Leben, das nicht Schein oder bloße Deutung, sondern wahre Wirklichkeit ist. Fast jeder dieser Filme sinnt uns allerdings an, es gäbe eine Alternative zur Oberfläche, es gäbe Authentizität in einem elementaren Sinne jenseits allen Scheins. Das klingt religionspädagogisch gut. Auch die Truman-Show legt mit ihrem Show-Down (im wörtlichen Sinne) diese Lösung nahe - auch wenn sie sie aus dramaturgischen Gründen nicht weiter ausmalt. Jene Welt allerdings, die uns die Truman-Show als die vor dem Bildschirm vorführt, ist so irreal wie die auf dem Bildschirm. Nichts garantiert, dass nicht auch diese Welt ihrerseits - den genialen Regisseur Christof eingeschlossen - nur eine mediale (oder erkenntnistheoretische) Konstruktion ist. Die Suche nach der Wirklichkeit, das betont auch der Regisseur Peter Weir im Interview, ist eine "neverending story".[6] Vermutlich gehört es aber zu den religionspädagogisch wie auch philosophisch zu bearbeitenden Irreführungen des Films, wenn man seine Antwort darin liest, man müsse aus der (medialen) Schein-Welt einfach nur aussteigen: "Das Paradies und das Leben sind anderswo". Eine derartige Antwort als Ausweg anzunehmen wäre aber nicht nur naiv, sie wäre eine existentielle Selbstlüge, die uns wiederum nur in die Irre führt. Jenseits des schwarzen Rechtecks, durch das Truman am Ende abtritt, gibt es keine wahre Welt, sondern - in diesem Punkt war Rainer Werner Fassbinders "Welt am Draht" realistischer - es wartet (auf uns als angesonnenen Protagonisten) nur eine weitere Oberfläche, vor oder auf dem Bildschirm. Genau das zu bedenken, also nicht zu suggerieren, man könne erkenntnistheoretisch einfach aus unserer Welt aussteigen, macht eine besondere Herausforderung für einen realistisch grundierten Religionsunterricht aus.

Anmerkungen

  1. Christophorus: Die Legende berichtet von einem hundsköpfigen (lateinisch genere canineo) Menschenfresser Reprobus, der in der Taufe den Namen Christophorus und dabei die Sprache erhält. Im Abendland wird daraus der Riese aus Kanaan (Cananeus), der zunächst in den Dienst eines Königs, dann des Teufels, dann Christi tritt. Nachdem er dem Teufel gedient hatte, wurde er von einem Einsiedler im christlichen Glauben unterwiesen und erhielt den Auftrag, fortan Pilger über einen Fluss zu tragen. Ein Kind, unter dessen Last er fast zusammenbrach, gibt sich ihm als Christus zu erkennen, tauft ihn und gibt ihm den Namen Christophorus. (Brockhaus 2002)
  2. Wer bei der Suchmaschine die Stichworte "Truman Show Unterricht" eingibt, stößt auf eine Fülle von Anregungen für die Beschäftigung mit dem Film im Unterricht. Unter anderen finden sich:
    http://www.wdr-schulfernsehen.de/dyn/96468.htm
    http://www.wdr-schulfernsehen.de/dyn/96472.htm
    http://www.entwurf-online.de/Medien/highlights-wirklichkeit.htm
    Herausragend ist aber ein Filmheft des Instituts für Kino und Filmkultur (IKF), in dem Holger Twele die Truman-Show umfassend vorstellt. Das Heft kann als PDF-Datei heruntergeladen werden:
    http://www.lernort-kino.de/filme/28_truman_show/filmheft.pdf
  3. Im Internet unter der Adresse http://members.tripod.de/woerther/arbeitshilfen/kfwtruman.html abrufbar.
  4. Nachzulesen unter http://www.rpi-loccum.de/wett/beitr/truman.html
  5. Klaas Huizing, Ästhetische Theologie Band II: Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie, Stuttgart 2002, S. 166ff.
  6. Und im Vorwort zum Drehbuch des Films schreibt der Autor Andrew Niccol: "Mir wird am häufigsten die Frage gestellt, wie ich auf die Idee kam, die 'Truman Show' zu schreiben. Wahrscheinlich, weil ich den Verdacht habe, dass sie wahr ist. Wer von uns hat nicht schon das Gefühl gehabt, dass Freunde, Bekannte oder sogar bestimmte Familienangehörige 'schauspielern'? Und nach meiner Erfahrung übertreiben es viele ... Und die immer gleichen Fehler in dieser Langzeitproduktion, genannt 'Leben', sind nur zu offensichtlich. Immer wieder tauchen dieselben Nebendarsteller auf, dieselben Autos im Straßenverkehr. Oder du gehst z.B. in ein beliebiges Geschäft und entdeckst, dass die Darsteller dort auf dein Kommen nicht vorbereitet sind und fast nichts von dem verstehen, was du gerne kaufen wolltest ... Mein gewichtigster Einwand gegen das Bühnenstück, das die Leute beharrlich 'richtiges Leben' nennen, ist das Drehbuch, das von irdisch vorhersehbar bis zu völlig unwahrscheinlich variiert. Wer schreibt diesen Kram?" - diese Aussage bezieht aber auf das, was der Zuschauer das wahre Leben nennt.

© Andreas Mertin, Hagen 2003