Leben als Fragment oder: Wer ist Rolando Trujillo?

Ein Baustein zum Thema Anthropologie im Religionsunterricht

von Andreas Mertin

[Braunschweiger Beiträge 2/2003; einschl. CD-ROM]

Die Bekleidungsfirma Benetton ist über Jahre mit ihrer so genannten Schockwerbung in der Öffentlichkeit präsent gewesen: fast jeder erinnert sich heute noch an das Bild von einem sterbenden Aids-Kranken im Stil einer christlichen Pieta, an das blutige Hemd eines Gefallenen aus dem Balkan-Krieg, an plakative Albinos in Afrika oder auch an archaische Krieger in Somalia mit einem Menschenknochen in der Hand. Alle diese großformatigen Bilder, die der seinerzeitige Werbechef von Benetton - Oliviero Toscani - für seine Kommunikationskampagnen zusammenstellte, waren immer ebenso spektakulär wie gesellschaftlich umstritten. Auf der anderen Seite gehörten die Bilder von Benetton zu den wenigen moralischen Interventionen im öffentlichen Raum, denen man nicht entgehen konnte. Sie fragten nach dem tabuisierten Sterben in unserer Gesellschaft, nach dem (Un-)Sinn des Krieges am Ende des 2. Jahrtausends, nach den fortbestehenden Konflikten in der globalisierten Welt und nach den individuellen wie gesellschaftlichen Perspektiven, mit all diesen Konfliktfeldern umzugehen.

Auch wenn Benetton sich zwischenzeitlich von Oliviero Toscani als Werbechef getrennt hat, so leitet dieser doch immer noch die so genannte fabrica, eine Kreativitäts- und Innovationsakademie, die herausragende Medienprodukte präsentiert und immer wieder mit interessanten und wegweisenden Ideen und Projekten an die Öffentlichkeit tritt.[1] So hat die fabrica etwa im Jahr 2000 mit Oliviero Toscani das besonders eindrucksvolle und mit einer vor allem in Amerika höchst faszinierenden Wirkungsgeschichte versehene Heft über die Todesstrafe produziert, in dem auf 100 Seiten Todeskandidaten in amerikanischen Gefängnissen porträtiert wurden. Noch heute kann man durch Eingabe der Worte deathpenalty oder deathrow und Benetton in einer Internetsuchmaschine dem weltweiten Nachhall dieser Aktion nachspüren. Besonders die enthusiastischen Verteidiger der Todesstrafe fühlten sich zu aggressiven Entgegnungen herausgefordert.

Regelmäßig erscheint COLORS, die Zeitschrift, die über die Welt der United Colors von Benetton Auskunft gibt. Sie widmet sich jeweils einem ausgewählten und besonders herausgestellten, aufwendig und kreativ bearbeiteten Thema. Unumstritten waren und sind diese thematischen Hefte selten. Für die religionspädagogische Arbeit lohnt es sich fast immer, auf die aktuelle oder auch zurückliegende Ausgaben einen Blick zu werfen, denn hier werden regelmäßig Fragen des menschlichen Miteinanders aufgegriffen und zeitgemäß interpretiert.

Hingewiesen sei auf die zum Teil explizit mit besonderen Webseiten verknüpften COLORS-Ausgaben 31 - Wasser, 37 - Gebete, 40 - Trash, 41 - Flüchtlinge, 45 - Zukunft, 47 - Verrücktheit, 48 - Schule, 50 - Gefängnis, 53 - Sklaverei und ganz aktuell Heft 56 - Gewalt.

Natürlich kann im Religionsunterricht auch der Frage nachgegangen werden, was sich eine Firma, die eigentlich Kleidung verkauft, von derartigen Kommunikationskampagnen verspricht. Konventionelle Werbetreibende pflegen jedenfalls die Art der Werbung, die Benetton betreibt, strikt und empört abzulehnen, während insbesondere im Bereich der zeitgenössischen Kunst sich die Arbeit von Toscani höchster Wertschätzung erfreut. Im Vordergrund dieses Unterrichtsimpulses steht aber nicht die Frage nach der Werbung und ihrer Bearbeitung im Unterricht.[2] Dass das zu erschließende Material einem Werbeheft entstammt, ist für die Durchführung des Unterrichts in diesem Fall nahezu gleichgültig.


Religion und Biografie

Die folgenden Überlegungen, die um das COLORS-Heft 52 kreisen, ordnen sich in das Thema "Mensch, Biografie, Lebensdeutung" ein. Zunächst ist daher zu überlegen, inwiefern die Frage nach der Biografie eines Menschen eine religiöse bzw. theologische sein kann. Dazu greife ich auf Überlegungen des Praktischen Theologen Henning Luther zurück, die dieser in einem Aufsatz zum Thema "Theologie und Biographie" geäußert hat. Zunächst stellt Luther fest: "Dass 'Biographie' für Theologie und Kirche überhaupt eine ernstzunehmende Rolle spielt, ist nicht selbstverständlich, im Gegenteil. Lange Zeit galt das Eingehen auf persönliche Lebensgeschichten und Erfahrungen der Menschen entweder als unwichtig gegenüber dem ‚Wesentlichen' des christlichen Glaubens oder gar als gefährlich. Wenn es im Glauben gerade um das ‚Ganz Andere' Gottes geht, dann ist die Berücksichtigung konkreter menschlicher Erfahrungen und Lebensverhältnisse, in denen der Glaube entsteht und sich entwickelt, dann ist die Lebensgeschichte des einzelnen für das, was den Glauben angeht, im besten Fall gleichgültig."[3] Dabei muss man theologisch nicht stehen bleiben. So benennt Luther als theologisches Gegenargument: "Die autobiographische Besinnung des einzelnen auf ‚sein Leben' ist prinzipiell theologisch nicht verwerflich, sondern theologisch gerechtfertigt. Sie liegt auf der Spur jener christlichen Einsicht, dass jeder einzelne Mensch vor Gott unendlichen Wert hat. Die Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte ist gedeckt durch den Glauben, dass vor Gott mein Leben nicht gleichgültig und sinnlos ist. - Im Lichte dieser Verheißung darf es keine theologische Missachtung der je besonderen Lebensgeschichten einzelner Individuen geben."[4] Und Luther fährt fort: "Diese Beobachtung trifft sich mit theologisch-hermeneutischen Überlegungen zum Glaubensverständnis, wie sie vor allem Rudolf Bultmann herausgearbeitet hat. Danach ist Glaube nie abstrahiert vom je eigenen Leben, sondern immer existenzbezogen. Im Glauben trifft der 'Ruf Gottes' auf den fragenden Menschen; auf den einzelnen, der angesichts seines Lebens - unvertretbar - vor die Frage nach der 'Eigentlichkeit' seines Lebens gestellt ist. "Denn jeder Mensch ist voll von Fragen, ja im Grunde von einer Frage; ja mehr: der Mensch ist Frage, bewusst oder unbewusst. Er ist das deshalb, weil sein eigentliches Sein immer als ein künftiges vor ihm steht. Menschliches Leben ist, bewusst oder unbewusst, bewegt von dem Verlangen, der Sehnsucht nach 'Wahrheit', nach 'Wirklichkeit', nach 'sinnvoller', nach verwirklichter Existenz." Die Biographie kann also in besonderer Weise der Ort sein oder das Medium, in dem der einzelne sich selbst als fragendem begegnet. Hier kann das Bewußtsein dafür wach werden, dass unser Leben nicht aufgeht in dem, was wir leisten. Hier können wir auch unserer ungestillten Sehnsüchte innewerden."[5] Nun kann man nicht nur im Blick auf eigene, sondern auch im Blick auf die Biografie eines Anderen derartige Überlegungen anstellen. Wie Bultmann schreibt, ist jeder Mensch eine Frage nach der menschlichen Existenz. Es geht nicht darum, vordefinierte Sollbruchstellen des Religiösen in die menschliche Existenz einzutragen, sondern Lebensdeutungen als unentrinnbare menschliche Aufgabe zu erkennen.

Authentizität

Vielleicht kann man die Kultur der Authentizität als eines der Charakteristika unserer Zeit ansehen. Besser als der Begriff des "Individualismus" mit seinen ambivalenten Konnotationen ist bei der Authentizität sofort deutlich, dass es hier auch um ein Ideal geht. Man ist herausgefordert, sich selbst zu bestimmen, denn: "Jeder Mensch hat ein eignes Maß, gleichsam eine eigne Stimmung aller sinnlichen Gefühle zu einander".[6] Das ist ein moralisches Ideal, das heute außerordentlich bedeutsam geworden ist. "Sich selbst treu sein heißt nichts anderes als: der eigenen Originalität treu sein, und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst."[7] Die aktuell verbreitete Erscheinungsform folgt allerdings diesem Ideal weniger, um das Ich auszubilden, sondern um andere Ansprüche abzuwehren. Charles Taylor beschreibt diese Mentalität so: "Jeder habe das Recht, seine eigene Lebensweise zu gestalten und sich dabei auf sein eigenes Gefühl für das wirklich Wichtige oder Wertvolle zu stützen. Man sei aufgefordert, sich selbst treu zu bleiben und nach Selbstverwirklichung zu streben. Worin diese Selbstverwirklichung besteht, müsse jeder einzelne in letzter Instanz eigenständig herausbekommen. Kein anderer könne oder solle Vorschriften über den Inhalt der Selbstverwirklichung machen."[8] Jedem Unterrichtenden sind derartige Bestreitungen der Begründungspflicht der eigenen Lebensform vertraut. Aber in der Authentizitätskultur steckt mehr als der sich so äußernde milde Relativismus, letztlich geht es darum, "'wer' wir sind und 'woher wir kommen' ... Sobald wir begreifen, was es heißt, sich selbst zu definieren und zu bestimmen, worin die eigene Originalität besteht, erkennen wir, dass wir ein Gefühl für das, was Bedeutung hat, im Hintergrund voraussetzen müssen."[9] Taylor nennt dies den unentrinnbaren Horizont: "Wollte ich ... die Geschichte, die Natur, die Gesellschaft, die Forderungen der Solidarität und überhaupt alles ausklammern, was ich nicht in meinem eigenen Inneren vorfinde, so würde ich alles ausschließen, worauf es möglicherweise ankommen könnte. Nur wenn ich in einer Welt lebe, in der die Geschichte, die Forderungen der Natur, die Bedürfnisse meiner Mitmenschen, die Pflichten des Staatsbürgers, der Ruf Gottes oder sonst etwas von ähnlichem Rang eine ausschlaggebende Rolle spielt, kann ich die eigene Identität in einer Weise definieren, die nicht trivial ist. Die Authentizität ist keine Widersacherin der Forderungen aus dem Bereich jenseits des eigenen Selbst, sondern sie setzt solche Forderungen voraus."[10] In diesem Sinne wird deutlich, dass auch die Religion und die religiöse Tradition zum unentrinnbaren Horizont moderner Selbstdefinition gehört. Freilich begegnet man den religiösen Überlieferungen nur noch als Folien der Selbstbestimmung und lehnt institutionelle Bindungen, wie sie von den großen Kirchen eingefordert werden, zunehmend ab. Das heißt aber nicht, dass die religiöse Frage als solche beiseite geschoben wird. Die Herausforderung besteht letztlich darin, die Religion der Authentizitätskultur in eine sinnvolle Konstellation zu ihrem unentrinnbarem Horizont zu bringen, d.h. auch die religiöse Selbstbestimmung mit Forderungen jenseits des Selbst zu konfrontieren.

Biografie, Authentizität, Religionsunterricht

In der spiralcurricularen Ausrichtung der Mehrzahl der Lehrpläne durchzieht die Frage nach dem Sinn und der Deutung der menschlichen Existenz viele Jahrgangsthemen. Das beginnt in der Regel schon im fünften Schuljahr unter dem Aspekt "Wer bin ich?" und endet in der gymnasialen Oberstufe bei der theologischen Anthropologie "Was ist der Mensch?". Dementsprechend könnte mit dem im folgenden vorgestellten Material in verschiedenen Jahrgangsstufen gearbeitet werden, grundsätzlich empfiehlt es sich aber für die spätere Sekundarstufe I oder auch die Sekundarstufe II. Eine Begrenzung auf den Gymnasialbereich ist nicht erforderlich, von Benetton ist das Material ja auch von der Zielgruppenorientierung her nicht auf diese Gruppe eingeschränkt.

Die religionspädagogische Idee lautet: Anhand des Menschen Rolando Trujillo, den Benetton in Heft 52 von COLORS vorstellt, eine "Biografie auf der Grenze" zu re-konstruieren. Und das soll so geschehen, dass es Frageprozesse in Gang setzt und offen hält. Es geht nicht vorrangig darum, Antworten zu finden ("Das ist nicht mein Weg" - "So möchte ich nicht leben" - "Da habe ich aber andere Vorstellungen/Ansprüche"), sondern im Sinne der leitenden Beschreibung von Rudolf Bultmann den Menschen als Frage zu entdecken und das heißt auch: "Menschliches Leben ist, bewusst oder unbewusst, bewegt von dem Verlangen, der Sehnsucht nach 'Wahrheit', nach 'Wirklichkeit', nach 'sinnvoller', nach verwirklichter Existenz." Die sich anschließenden offenen Fragen lauten: Was aber ist gelingendes Leben? Wann ist ein Leben stimmig? Wer kann das Urteil fällen, was der Sinn (m)eines Lebens, (m)einer Existenz ist? Es geht auch darum, nicht nur das Leben des Rolando Trujillo zu deuten, sondern seinen z.T. in Nebensätzen und Andeutungen geäußerten eigenen Lebensdeutungen nachzugehen. Offenkundig geschieht das im vorgelegten Material auf eine sehr realistische, pragmatische Weise, fernab jeglicher Beschönigungen. Der Lebensentwurf des Rolando Trujillo ist nicht der, den Albert Camus dem Sisyphos nahe legt, aber er kommt ihm nahe:

Der Stein rollt wieder. Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, dass alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Letztlich ist Benettons Rolando Trujillo ein Gegenentwurf zu Vorstellungen, die sich etwa in der Werbung von DIESEL artikulieren, wenn sie unter der Überschrift The meaning of life als das zentrale Motto shopping propagieren.[11] Während Diesel seine Werbung als Kritik einer kleinbürgerlichen Gesellschaft ausarbeitet, fragt Benetton auf einer existentiellen Ebene nach dem Sinn menschlicher Existenz in einer globalisierten Welt und bezieht dabei die Randbereiche ein.

Letztlich geht es darum, im Religionsunterricht das Fragen nicht zu verlernen, die Wahrnehmung zu schulen und fragmentarisches Leben nicht schon als scheiterndes Leben zu deuten.


COLORS 52

Die Ausgabe 52 von COLORS hat eine einfache Überschrift: Rolando Trujillo. Sie lässt sich im Sinne der vorstehenden Überlegungen gut in das Thema der theologischen Anthropologie und der allgemeinen religiösen Fragen im Sinne menschlicher Lebensdeutung einordnen: Wer ist dieser Mensch, was ist der Sinn seines Lebens?

Im Zentrum der Ausgabe 52 von COLORS steht eine Person am Rande der menschlichen Zivilisation: Rolando Trujillo, ein chilenischer Holzarbeiter, der ein einfaches, menschenfernes, entbehrungsreiches und fast archaisches Leben auf dem Feuerland-Archipel in Argentinien führt. Sein Leben wird von wenigen Faktoren bestimmt: seinem Können, der Umwelt, den wenigen Menschen, auf die er trifft, seinen Überzeugungen und Ängsten und natürlich vom Verlauf seines bisherigen Lebens. Nach und nach zeichnet sich vor dem Auge des Betrachters sein Leben ab: woher erkommt, was ihn in diese Gegend verschlagen hat, was ihn an den Ort bindet, wovon er träumt und wo und wie er begraben werden möchte. Die Fragen nach dem Sinn seines Lebens werden dabei zwischen den Zeilen und Bildern erörtert. Man erhält selten direkte Antworten, vieles ist deutungsbedürftig. Ist das ein gescheitertes, ein authentisches, ein stimmiges oder gar ein katastrophales Leben? Die Antwort darauf hängt davon ab, was der Betrachter selbst für gelingendes oder scheiterndes Leben hält. Die Einsicht, dass man vielleicht selbst nicht so leben möchte wie Rolando Trujillo, besagt aber noch nicht, dass man so wie er nicht sinnvoll leben kann.

Annäherungswege

Für die Annäherung an die Person von Rolando Trujillo bietet Benetton verschiedene Wege: Im Internet gibt es eine (Shockwave-) animierte Bilderfolge, bei der sich der Betrachter von einem Bild zum nächsten klickt und Rolando Trujillo so nach und nach kennen lernt. Der Text ist in einem einfachen Englisch, das mit elementaren Sprachkenntnissen nachvollziehbar ist. In einer ebenfalls englischsprachigen PDF-Datei stellt Benetton noch einmal die harten Fakten zusammen, die sich über die Person des Rolando Trujillo zusammentragen lassen. Und es gibt einen Download für einen Fernseh-Film, der in knapp 5 Minuten vom Leben des Rolando Trujillo erzählt bzw. diesen selbst erzählen lässt (Download 11 Mbyte). Interessanterweise kann keines der verschiedenen Medien die anderen vollständig ersetzen. So treffend die verbale Umschreibung in der PDF-Datei auch ist, so wenig fängt sie auch nur annäherungsweise etwas von der kargen Atmosphäre ein. Und so atmosphärisch der Film auch sein mag, er reizt nicht zu jenen existentiell bedrängenden und nachdenklichen Fragen, die die animierten Bilder der Shockwave-Animation in Gang setzen. So empfiehlt sich zur Annäherung an die leitende Frage Wer ist Rolando Trujillo? die Kombination aller Medien.

Wer ist Rolando Trujillo?

Für die Erarbeitung der Frage nach "Rolando Trujillo" schlage ich drei Schritte vor, die nach und nach das Bild dieses den Schülerinnen und Schülern ja zunächst unbekannten Menschen ergänzen und ausgestalten.

  1. Zunächst soll der interaktiven Präsentation im Internet nachgegangen werden, weil sie die existentiellen Fragen auslöst, die den Kern der Bearbeitung im Religionsunterricht ausmachen. Zugleich ist sie eine Schule der Wahrnehmung, denn die spärlichen Bilder enthalten wesentlich mehr Informationen, als viele Schülerinnen und Schüler auf den ersten Blick vermuten. Es geht auch darum, sich nicht einfach durch die Bilderfolge zu klicken, sondern sich bei jedem Bild Zeit für Beobachtungen und Nach- und Vor-Fragen zu nehmen.
  2. Dann sollte der Film angeschaut werden, der wenig zusätzliche Informationen enthält, aber die Landschaft und das Leben anschaulich werden lässt. Überraschenderweise lassen sich gerade die religiösen Fragen nicht im Film einfangen.
  3. Und schließlich sollte der zusammenfassende "Steckbrief" betrachtet werden unter dem Aspekt, was er über das Leben des Rolando Trujillo aussagt.

Erste Annäherung - die interaktiven Bilder

Unter der Adresse http://www.benetton.com/colors/issues/rolando52/ kann zunächst die interaktive Bilderfolge aufgerufen werden. [Falls im Religionsunterricht kein Zugang zum Internet besteht, empfehle ich, eine Folge von Screenshots zusammenzustellen, die dann ausgedruckt werden bzw. auf Overheadfolie gezeigt werden können.]

Die Bilderfolge eröffnet mit einem Körperabdruck auf einer Schneefläche und dem Eigennamen Rolando Trujillo. Der Abdruck im Schnee lässt den Betrachter gerade einmal die Körpergröße feststellen, der daneben gesetzte Name verweist auf das Geschlecht. Alles Weitere ist unbekannt bzw. spekulativ. Anders als bei einer Totenmaske, die Individuelles festhält oder einer unter Vulkanasche erstarrten Figur, die eine beklemmende Identität darstellt, gibt der Abdruck im Schnee nur begrenzt Auskunft.

Dies ist Rolando Trujillo verkündet das nächste Bild. Der Abdruck hat ein Gesicht bekommen und diesem Gesicht kann ein Eigenname zugeordnet werden. Auch das ist im Lichte von Jesaja 43, 1 nicht belanglos. Darüber hinaus deutet der statuarische Satz an, dass auch die im Hintergrund erscheinende Landschaft mit dem Mann verbunden ist, dass er nicht gerade seinen Urlaub hier verbringt, sondern in seiner Lebenswelt gezeigt wird. Demnach handelt es sich also um einen kleinen, kräftigen Mann mittleren Alters mit verschlissener Kleidung in kalter Umgebung.

Das nächste Bild zeigt eine primitive Holzhütte am Rande eines spärlichen Waldes, sie ist zunächst erleuchtet und von daher wohl auch bewohnt. Der Text daneben sagt: Rolando Trujillo ist ein kleiner chilenischer Holzfäller, der im argentinischen Tierra del Fuego lebt, einer unwirtlichen kalten und strengen Insel, näher der Antarktis als der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Zwischen der winzigen Ranch und der nächsten Stadt, Rio Grande - 150 Kilometer entfernt -, befindet sich nur Schnee, Wind, Millionen von Bäumen und eine Handvoll größerer Farmen - Estanzias - und Sägewerke. Der Betrachter wird so eingestimmt auf exotische Verhältnisse, auf ein Leben in einer menschenfeindlichen Umgebung. Wie lebt man am Rande der bewohnten Welt?

Das nächste Bild zeigt das Innere der Hütte des Holzfällers, 12 Quadratmeter groß, spartanisch eingerichtet mit einem Bett, einem Holzofen und einem Regal. Trujillo lebt dort allein - mit seinem Pferd wie uns der Text zum nächsten Bild informiert.

Sein wesentliches Werkzeug ist eine Axt, mit der er einen Baum in 90 Sekunden fällen kann. Eine Schneelandschaft mit Baumstümpfen kündet vom Erfolg seines Vermögens. Trujillo arbeitet allein. Im Winter geht er in die noch nicht bearbeiteten Zonen des umgebenden Waldes und fällt monatelang Bäume. Dazu trinkt er einfachen Wein um sich warm zu halten, gleichgültig ob Rot- oder Weißwein: er will ja schließlich nicht damit malen, wie er süffisant bemerkt.

Geboren wurde Rolando Trujillo in der chilenischen Kleinstadt Llanquihue. Mit 15 musste er die Schule verlassen um seine Familie zu unterstützen. Er muss Schafställe reinigen und kauft sein seinen Lohn Mehl für seine Mutter. Später wird er Fischer, wobei er mit dem Aberglauben kämpfen muss, der seit seiner Kindheit mit dem Meer verbunden ist, wonach auf dem Boden des Meers die teuflischsten Kreaturen hausen. Auf einer der Touren bekommt er eine Panikattacke, taucht zu schnell auf und zerstört sich so die Lunge. Nach der Genesung beschließt er, seine Heimat zu verlassen und nie wieder heimzukehren. Er nimmt nach und nach verschiedene Jobs an und wird aber immer wieder gefeuert. So gelangt er am Ende schließlich nach Tierra del Fuego.

Die nächsten Bilder stellen uns seinen besten Freund Velasquez und den alten Mann Mismia, seinen tödlichen Feind, vor. Auch am Rande der Welt verteilen sich Gut und Böse offensichtlich nach der Gaußschen Normalverteilung. Warum der eine sein bester Freund und der andere sein schlimmster Feind ist, erfahren wir nicht.

Statt dessen sehen wir einen anderen Chilenen, Luis, und seine Hütte. Luis erträgt die Einsamkeit nicht und dreht allmählich durch. Er wird wohl nicht über den Winter kommen. Ebenfalls durchgedreht ist der brotaustragende Pedro. Es gibt offenkundig kein leichtes Leben in der Einsamkeit des Feuerlandes.

Seine eigene Philosophie des Überlebens erläutert Rolando Trujillo neben dem folgenden Bild:

Celebrate solitude to survive this sort of life! Die Einsamkeit / Verlassenheit / Öde zu feiern, sie bewusst aufzusuchen, mag für viele heutzutage eine merkwürdige, exotische (und gerade darin vielleicht pittoreske) Herausforderung sein, der man sich allenfalls angesichts eines stressigen, hektischen Alltags bewusst stellt. Dabei gehörte das Leben des Einsiedlers (des Eremiten bzw. Anachoreten) zu den traditionellen christlichen Lebensformen. Auf der anderen Seite ist die Vorstellung, den "Spin" der Landschaft nach reichlichem Alkoholkonsum zu erleben, auch Jugendlichen sicher keine unvertraute; ebenso wenig wie der wilde Tanz zur Radiomusik. Auch hier kann man natürlich auf die biblischen Propheten verweisen, die Nabis, die der Ruach Jahwes packt.[12]

Wie ein biblischer Prophet hat auch Rolando Trujillo Erfahrungen mit Traumgesichtern und ihren Deutungen: Wer von der Farbe Weiß träumt, welche eigentlich Schwarz bedeutet, erahnt den Tod eines Familienangehörigen. Wer von einem wilden schwarzen Bullen träumt, bekommt Besuch von der Polizei. Ironisch fügt er hinzu: Und wenn Du von einer Frau träumst, die sich vor Jahren geweigert hat, mit dir zu schlafen, dann ejakulierst Du im Schlaf. Aber Traumgesichter haben auch existenziell bedrohliche Seiten, wenn Trujillo etwa träumt, er lege seine Hand direkt auf sein pochendes Herz. Als er danach erwachte, so erzählt er, befand er sich bei minus 15 Grad nackt auf dem Feld und hatte für den Rest der Nacht Mühe sich zu beruhigen und dachte an seine Heimat in Chile.

Beiläufig erzählt Trujillo, dass er eine vierjährige Tochter mit Namen Nazarena Elsa Del Carmen hat, für die er für den Fall seines Todes wie auch für seine Mutter eine Lebensversicherung abgeschlossen hat. Seine Tochter erscheint ihm als Garantie, dass, wenn er einmal stirbt, mehr von ihm bleibt, als nur seine Geschichten. Das zu dieser Äußerung gezeigt Bild ist ein Blick in den Nachthimmel voller Schneeflocken.

Und wenn er wirklich stirbt, möchte er in einem gefrorenen See begraben werden. Der Umgang mit dem Tod ist für ihn nicht beiläufig, wie das nächste Bild zeigt. Dazu erzählt Trujillo die Geschichte eines Indianerschädels, der vielleicht von seinen Mördern zwischen zwei Bäumen eingeklemmt wurde und mit diesen in die Höhe gewachsen ist. Trujillo fragt sich, warum er nicht mit einem Kreuz begraben wurde, denn Indianer seien Menschen wie alle anderen auch und ihre Körper müssten ebenso respektiert werden.

Die Reden über die letzten Dinge, so heißt es im Text, haben Trujillo aufgeregt. Er spürt die Einsamkeit seiner Existenz, die Tatsache, dass vielleicht schon in 20 Jahren nichts mehr an ihn erinnert. Er hinterlässt eine Lebensversicherung und Anweisungen über seine Beerdigung: Auf dem Boden eines Sees, weil er es liebt, über einen gefrorenen See zu laufen, oder in einem Stück Torf, weil er dessen "Textur" mag. Was er wirklich hinterlässt, sind, wie es die letzten und die ersten Bilder andeuten, vielleicht nur Spuren im Schnee.

Es folgt der Nachspann, Trujillo hat von den ersten bis zu den letzten Dingen seine Geschichte erzählt. Vieles hat er nicht erzählt, aber manches, worüber viele Menschen sich gar keine Gedanken machen.


Zweite Annäherung - der Film

Der Film über Rolando Trujillo bringt weit über die animierten Bilder der Website hinaus Leben in die Wahrnehmung der Existenz des Holzfällers. Man sieht ihn sich bewegen, hört ihn sprechen, nimmt die Atmosphäre wahr. Nach einem einminütigen Trailer von BenettonTV sieht man eine Schneelandschaft mit gefällten Bäumen, den Holzfäller mit seiner Motorsäge durch den Wald stapfend, einzelne Bäume prüfend und sie anschließend fällend. Der eingeblendete Text stellt Trujillo als 48-jährigen Chilenen vor. Man blickt auf eine geradezu romantische Landschaft[13], dann zersägt Trujillo einen Baum in Stücke. Man sieht den mächtigen Berg hinter seiner Hütte aufragen. In der Hütte stellt Trujillo eine neue Axt her. Die Kamera folgt ihm beim Zubereiten des Essens, beim Kartoffelschälen, Gemüsekochen und Fleischbraten. Zugleich erfahren wir etwas über den monatlichen Fleischkonsum des Holzfällers. Es gibt ein längeres Gespräch in die Kamera, wieder Blicke auf die Umgebung, das Innere der Hütte bis sich schließlich alles in Nebel auflöst. Einige der Szenenbilder kennt man aus der animierten Bilderfolge, was vollständig fehlt ist der Blick auf die anderen Wesen (seien es Menschen oder Tiere) um Trujillo herum. Die Kamera bleibt hautnah bei der Hauptperson.


Dritte Annäherung - der zusammenfassende Text

Der die Identität von Rolando Trujillo auf einem Blatt zusammenfassende Text vermittelt wiederum einige Informationen, die man mittels der animierten Bilder und des Films nicht erlangen konnte. Etwa der Umstand, dass Trujillo einen Zettel an der Tür hängen hat, der Besucher ausdrücklich als nicht willkommen bezeichnet. Oder dass er nicht nur mit einem Pferd, sondern auch mit einem Schaf und einem Kaninchen zusammenlebt; dass er seit 18 Jahren keine Früchte gegessen hat und seine Mutter seit 28 Jahren nicht gesehen hat. Alle weiteren Informationen sind bekannt. Für eine Zusammenfassung einer Existenz ist der Text aber doch spärlich: er erfasst äußere Bedingungen, aber wenig Wesentliches.

Interessant und überraschend ist, was man in den drei Annäherungen alles nicht über Rolando Trujillo erfährt. Über die Mutter seiner Tochter verliert er kein einziges Wort, ebenso wenig über die eigene Mutter - obwohl er ihr doch sehr verbunden sein muss. Lebt sein Vater nicht mehr? Und woher weiß er, dass seine Mutter und seine Tochter noch leben? Warum will er den Ort, an dem er lebt, nicht mehr verlassen, was bindet ihn an Tierra del Fuego bzw. was hindert ihn, in die Heimat zurückzukehren? Auch die genaueren Lebensumstände bleiben merkwürdig unscharf. Baut er das Gemüse selbst an, woher bekommt er das Fleisch, wie weit wohnt der nächste Nachbar entfernt und warum hat er einen tödlichen Feind?

Dennoch ergibt sich aus den vorhandenen Informationen ein aussagekräftiges Bild einer menschlichen Existenz, die von der nomadischen Existenz eines biblischen Menschen gar nicht so weit entfernt sein dürfte. Grell beleuchtet wird die (doch offensichtlich selbst gewählte) Einsamkeit seines Lebens: He cherishes the time he was out here, alone.

Die Melancholie, die die Schilderungen des Holzfällers durchzieht, ist keine Depression. Es ist eher eine "von Schmerzlichkeit, Wehmut, Traurigkeit oder Nachdenklichkeit geprägte Gemütsstimmung". Trujillo akzeptiert die Rahmenbedingungen seiner kargen Existenz. Weit davon entfernt, Trujillo wie Camus den Sisyphus als glücklichen Menschen vorzustellen, gibt es dennoch eine Form der Stimmigkeit, der Authentizität. Die "nicht erledigten Fragen" (Ernst Bloch) bedrängen aber auch Rolando Trujillo. Sie sind mit einer Lebensversicherung und einem Begräbniswunsch nicht abgetan. "Denn jeder Mensch ist voll von Fragen, ja im Grunde von einer Frage; ja mehr: der Mensch ist Frage, bewusst oder unbewusst. Er ist das deshalb, weil sein eigentliches Sein immer als ein künftiges vor ihm steht. Menschliches Leben ist, bewusst oder unbewusst, bewegt von dem Verlangen, der Sehnsucht nach 'Wahrheit', nach 'Wirklichkeit', nach 'sinnvoller', nach verwirklichter Existenz." [Rudolf Bultmann]

Anmerkungen

  1. Lesenswert auf jeden Fall das Buch von Oliviero Toscani: Die Werbung ist ein lächelndes Aas. Mannheim 1996.
  2. Vgl. dazu Mertin/Futterlieb, Werbung als Thema des Religionsunterrichts, Göttingen 2001
  3. Henning Luther, Theologie und Biographie, in: ders., Religion und Alltag. Stuttgart 1992, S. 37-44, hier S. 37
  4. Ebd., S. 43f.
  5. Ebd.
  6. J. G. Herder, Ideen, 8. Buch, I, in: Herders Werke, Bd. 5, Berlin/Weimar 1978, S. 141.
  7. Charles Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt 1995, S. 39.
  8. ebd., S. 20f.
  9. ebd. S. 44f.
  10. ebd. S. 51.
  11. Vgl. Verf., Sinnvolles Leben oder: Was suchen Maria & Miguel? Ein Baustein zur Anthropologie im Religionsunterricht II (i. Vorb.)
  12. Vgl. dazu Klaus Koch, Die Profeten I, Stuttgart 2/1987, S. 34f.
  13. Die Landschaft ist ganz im Stil von Caspar David Friedrichs "Einsamer Baum" von 1823 aufgenommen, mit einer Ähnlichkeit, die für eine bewusste Komposition des Regisseurs spricht.

Zuletzt bearbeitet 13.12.2003
© Andreas Mertin