Schlangenhaut

Eine kleine Apologie der posthumanen Pop-Ikonen

von Andreas Mertin

[Vortrag auf dem Forum GottesMenschenBilder
des 1. Ökumenischen Kirchentags in Berlin 2003]

Idole und Vorbilder in der populären Kultur aufzusuchen, ist sicher kein Phänomen der neueren Zeit. Fügen wir den Idolen und Vorbildern die Legende hinzu, verstanden im Sinne der Darstellung der Lebensgeschichte eines Helden, Heiligen oder Märtyrers, dann wird klar, dass die Geschichte populärer Gestalten vielleicht mit dem listigen Odysseus beginnt, der trickreich alle Hindernisse überwindet. Oder denken wir an den jungen Krieger David der Bibel, dem es gelingt, den übermächtigen Riesen Goliath zur Strecke zu bringen. Und denken wir auch an die legendäre Gestalt eines Robin Hood, der aus dem 11. bzw. 12. Jahrhundert stammend, über diverse Medialisierungen bis in die Gegenwart präsent geblieben ist. Idole und Vorbilder sind ein Charakteristikum der gesamten Menschheitsgeschichte.

Wenn wir in der Bibel die Beschreibung des jungen David lesen, er sei "des Saitenspiels kundig, ein tapferer Mann und tüchtig zum Kampf, verständig in seinen Reden und schön gestaltet, und der Herr ist mit ihm" (1. Samuel 16, 18), dann sind gewisse schwärmerische Züge nicht zu verkennen. Nur würden wir es heute vermutlich anders formulieren: Ein Popmusiker mit coolem Auftritt, von durchtrainierter muskulöser Gestalt, poetisch und melancholisch zugleich - ein biblischer Robbie Williams also.

Aber man muss auch sagen: gerade Helden und Idole standen seit jeher im Verdacht der Vertreter der Hochkultur, etwas Schlechtes, Minderwertiges, eben: nur etwas für die breite Masse zu sein. Auch dieses Vorurteil ist so alt wie die Populärkultur selbst.

Andererseits: In der Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen ist die Orientierung an Vor-Bildern und Idolen überhaupt nichts Ungewöhnliches, sondern etwas durchaus ganz Normales und entwicklungspsychologisch auch Notwendiges.

In diesem Sinne definiert der Brockhaus:

"Idol, meist eine Person, seltener eine Sache oder eine bestimmte Weltanschauung, die (meist von Jugendlichen) schwärmerisch verehrt und als Wunschbild oder Ideal und somit als Leitbild für die eigene Lebensgestaltung, das Aussehen oder das Verhalten angestrebt wird. Als Idole dienen in der Regel erfolgreiche Sänger beziehungsweise Sängerinnen in der Popmusik, Filmschauspieler, Models oder Sportler, manchmal auch Schriftsteller, Künstler und (recht selten) Politiker.

Die zeitweilige Identifizierung mit einem Idol ist eine häufig in der Pubertät auftretende, im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung durchaus ‚normale' Erscheinung. Ein Ideal oder Leitbild zu haben, kann die eigene Entwicklung sehr fördern. Häufig sind umschwärmte Idole jedoch Trugbilder, die nach außen hin das verkörpern, was sich gut ‚verkaufen' lässt. Man kann auch für ein Trugbild schwärmen, das schadet niemandem, wenn klar ist, dass es sich um ein Trugbild handelt. Bevor man jedoch jemanden zum Leitbild für die eigene Lebensgestaltung erhebt, ist es sinnvoll, zu hinterfragen, was einem gefällt und warum und wie es sich auf das eigene Leben auswirken kann."

Vermutlich jede Generation hat im Sinne dieser Beschreibung des Brockhaus ihre für die Zeit charakteristischen Idole gesucht und gefunden und nichts ist falscher und vor allem peinlicher als die pädagogische Bemühung, ihnen diese auszureden, um nicht zu sagen "auszutreiben".

Wenn wir heute von "Kultbildern: Ikonen und Idolen" sprechen, dann oft nicht mehr im überlieferten Sinne der pubertären Begeisterung für menschliche Vorbilder und Idole. Wir sprechen vielmehr über ein Phänomen, dass man die Angleichung der Idole an Ikonen nennen könnte. Und wie beim historischen Bilderstreit in Byzanz streiten Ikonodule (Bilderfreunde) mit Ikonoklasten (Bilderstürmern) um die Bedeutung der Pop-Ikonen in der Gegenwart. Beten wir diese etwa an, vergötzen wir sie, oder sind sie nur Zeichen, die auf etwas anderes hinweisen?

Die post-human zu nennenden Ikonen der populären Kultur der letzten 20 Jahre sind keine menschlichen Leitfiguren im Sinne früherer Idole mehr – auch wenn es derartige Idole immer noch gibt. Die h(ä/e)utigen posthumanen Ikonen sind vielmehr Oberflächen, Staffagen oder Bilder, die man sich nach Bedarf zulegen und sie ebenso wieder ablegen kann. So wie man sich in der Computerwelt die Programme nach ästhetischen Vorlieben durch so genannte Skins (Häute/ Oberflächen) verschönern kann, so kann man auch nach der Ikonologie der populären Kulturen seine Identitäten – und wir haben ja heutzutage nicht nur eine Identität - mit verschiedenen jeweils passend erscheinenden Oberflächen versehen.

Niemand wird eine virtuelle Figur wie Lara Croft aus dem Computerspiel Tomb Raider tatsächlich für ein reales Vorbild halten. Und dennoch zeigt ein Blick in das Internet, dass es eine Vielzahl von Lara Croft Identifikationen gibt, dass also unzählige Mädchen sich bis heute wie sie stilisiert, inszeniert und danach fotografiert haben. Sie präsentieren sich ironisch und selbstbewusst zugleich als Lara Crofts "Lookalike's". Sein und aussehen wie Lara Croft heißt, spielerisch ihre Gesten, Inszenierungen, Oberflächen, aber auch ihre Durchsetzungskraft, ihre Abenteuerlust, ihren Mut zu adaptieren.

Auch das ist übrigens nicht ganz neu: Der jüngst erschienenen digitalen Gesamtausgabe der Werke von Karl May sind Fotografien beigegeben, auf denen sich Bürger wie Old Shatterhand, Winnetou, jedenfalls aber wie Leute aus dem Wilden Westen inszenieren. Und in den Inszenierungen und Gesten sind sie meines Erachtens oftmals den Lookalike's von Lara Croft verblüffend ähnlich.


Madonna

Das Paradebeispiel vor-bildlicher Oberflächlichkeit in der Populärkultur der letzten 20 Jahre ist natürlich der Popstar Madonna. Madonna hat nicht die Idolisierung, sondern die Ikonisierung des Populärkulturellen im Laufe ihrer Karriere entschieden vorangetrieben. Das amerikanische Nachrichtenmagazin TIME urteilte schon 1990 über Madonnas Auftreten: "Madonna wechselt ihr Erscheinungsbild wie eine Schlangenhaut: Einmal ist sie das schlimme Mädchen, Spielzeug für große Jungs, dann die unausstehliche Feministin, dann wieder die lüsterne Sexbombe, dann erscheint sie als Marilyn Monroe, wiedergeboren als Geist aus einer Wasserstoff-Flasche, die sich an Dick Tracy anschmiegt ... Alle ihre Identitäten haben nur eins gemeinsam: Sie sind offensichtlich verführerisch künstlich. Sie dringen darauf, dass sie sorgfältig kalkuliert erscheinen. Darin schwelgen sie - und stiften das Publikum an, dasselbe zu tun". Madonna hat das so kommentiert: "Ich versuche nicht, jemanden zu einer Lebensweise zu bekehren, ich stelle sie nur dar. Und es bleibt dem Publikum überlassen, seine eigenen Entscheidungen und Urteile zu fällen."

Zu Madonnas eigenen Entscheidungen gehört es, selbst relativ konsequent als Simulakrum prominenter Vorbilder aufzutreten. So agier-te sie mehrfach als Lookalike früherer Pop-Ikonen wie etwa Marlene Dietrich oder Marilyn Monroe, so das man schließlich durchaus zu Recht fragen konnte: Who's that girl?

Das Neue an dieser Form der Pop-Ikonen ist ihre dezidierte Künstlichkeit. Sie sind einerseits keine Acheiropoieta, keine übernatürlich entstandenen Heiligenbilder, keine auratischen Gestalten, deren Magie und Einmaligkeit uns blenden soll. Sie sind zum anderen keine menschlichen Vorbilder im Sinne christlicher Nachfolge, also exemplarische Menschen, denen wir nacheifern und uns angleichen sollen - wie etwa Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Mutter Theresa, in denen Menschlichkeit exemplarisch inkorporiert ist. Post-human sind die heutigen Pop-Ikonen darin, dass sie durchweg konstruiertes und inszeniertes Menschenwerk sind und sich als solches auch den Jugendlichen kenntlich machen. Wie bei Ikonen dürfen wir sie nicht mit der Sache selbst verwechseln, aber anders als bei Ikonen gibt es den Kern der Sache, auf den verwiesen werden könnte, nicht. Alles ist im Fluss, wir sind dauerhaft Lookalike's, permanent im Prozess der Häutung befindlich.

Und trotzdem kann man sich die Frage stellen, ob man die populärkulturellen Ikonen der Gegenwart trotz ihrer Oberflächlichkeit nicht auch im Sinne der Vorbildhaftigkeit mittelalterlicher Heiliger deuten kann. Genau dies hat Klaas Huizing in seiner Ästhetischen Theologie getan. Nach ihm geht es darum, bei den Pop-Ikonen der Gegenwart auch Gesten der Güte aufzusuchen. Anhand der Pop-Ikonen kann man so christlich religiöse Erfahrungen machen, "wenn das biblisch archivierte Gestenvokabular von Toleranz und Solidarität in neuer Gestalt berührt und zu einer Lebenswende herausfordert ... Durch spezifische Gesten werden dabei leibkörperlich gespürte Atmosphären inszeniert, in denen die christlich-religiöse Wahrnehmungskultur und Lebensdeutung wiedererkannt und eigens als Motivation aufgenommen und im Lebensvollzug dargestellt wird." Mir leuchtet dieser Vorschlag ein.

Lara Croft wäre dann der Heiligen Jeanne d'Arc nicht unähnlich, gedacht werden könnte aber auch an den Heiligen Ferdinand, König von Kastilien und Leon, für beide ist der Gedenktag der (gestrige) 30. Mai und beide sind für ihre Kriegskunst und ihren Kampfesmut gegen übermächtige Feinde berühmt.

Wem ich freilich Madonna zuordnen soll, weiß ich nicht, vielleicht – wenn ich ihre neueste Entwicklung recht beobachte – der Heiligen Margareta von Cortona, einer Büßerin nach verlebter Jugend oder - weil der assoziative Klang so verführerisch ist - der Heiligen Opportuna. In ihren videoästhetischen Oberflächen aber hat Madonna eindrucksvoll und von manchen auch übersehen, den Hl. Franz von Assisi in der Nachfolge Jesu Christi samt seiner Stigmatisierung sowie auch den barmherzigen Samariter gespiegelt, welcher ja selbst eine jesuanische Kunstfigur ist.

Zusammenfassung

Was ich für die weitere Diskussion vorschlage [Anregungen Klaas Huizings aufgreifend], ist im Blick auf unsere Frage der Kultbilder in der Populärkultur der Gegenwart folgende Unterscheidungen zu treffen:

1. gibt es weiterhin und vermutlich dauerhaft jene Idole, denen sich Jugendliche und einige andere, die ihre Jugend nicht überwinden können, mit Leib und Seele verschreiben. Sie eifern ihnen nach und wenn ihr Idol sich die Brust vergrößern lässt, eine Abmagerungskur unternimmt oder ein Tattoo aufgetragen bekommt, dann tun sie das auch. Diese Frage nach den eher traditionellen Idolen und Vorbildern gehört aber meines Erachtens in das Feld der Entwicklungspsychologie und ist nicht mein Thema.

2. gibt es die zynische Produktion von Vor-Bildern, industriell gefertigte Ikonen, die die "Ikone" zu beerben suchen, ohne es wirklich zu können. Diese Art lässt sich in der Beschreibung des Dessousherstellers Palmers entdecken: "Naomi Campbell, Cindy Crawford, Nadja Auermann, ... Tatjana Patitz - die Models sind die Ikonen der Achtziger und Neunziger. Sie lösen die Filmdiven ab. Model ist Star und Kult. Palmers hat die Ikonostase der Models schon ganz früh entdeckt ... Die Heroisierung des Subjektes als Kernaussage: Statt der Venus von Botticelli Nadja Auermann, statt der Maja von Goya Tatjana Patitz, statt Tizian als Maler Herb Ritts als Fotograf." Das ist ebenso vollmundig wie unsinnig. Als ob sich in 100 Jahren noch jemand an Nadja Auermann oder Tatjana Patitz erinnern würde – ganz im Gegensatz zur Venus von Botticelli, der Maja von Goya oder dem Maler Tizian. Die Halbwertzeit der Mode-Ikonen tendiert gegen Null.

3. gibt es daneben aber das Phänomen der posthumanen Vorbilder und Ikonen, die sich bereits in ihrer Erscheinungsweise als künstlich darstellen und von den Fans wie an- und abzulegende Oberflächen wahr- und angenommen werden. Die posthumanen Vorbilder a la Madonna und Lara Croft befreien ihre Fans vom Zwang der Nachfolge, welche damit wieder anderen Vorbildern zukommen kann. "Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach." Die posthumanen Vorbilder verlangen diese Art der Selbstverleugnung für sich selbst gerade nicht, sie bleiben konsequent auf der Oberfläche. Wie sagte Madonna: "Es bleibt dem Publikum überlassen, seine eigenen Entscheidungen und Urteile zu fällen."

4. kann festgestellt werden, dass auch die posthumanen Vorbilder humane Wirkungen entfalten können. Sie können ebenso Gesten der Güte und Solidarität wie Gesten der Gewalt und Zerstörung verkörpern und in Gang setzen. Im Blick auf die religiöse Deutung unserer Kultur ist es daher plausibel, gerade im Blick auf die Ikonen des Populären auf Gesten der Güte, der Solidarität, des menschlichen Miteinanders zu achten und sie in der Rezeption stark zu machen.

5. und letztens gilt, dass die Pop-Ikonen der Gegenwart sich von den Diskussionen um die Menschen-Bilder, die ja vor dem Hintergrund der Aussagen der biblischen Urgeschichte immer auch religiöse sind, dadurch unterscheiden, dass ihr Grad der Verbindlichkeit ein deutlich geringerer ist. Sie sind keine letzten Bilder, sondern temporäre, vorläufige, austauschbare. Das unterscheidet sie auch von kultischer Praxis. Sie sind zwar Kult, aber keine Kultbilder. Ein Bildersturm ist daher überflüssig.


© Andreas Mertin, Hagen 2003