Neue Medien im Religionsunterricht?

von Andreas Mertin

[aus: forum religion, Stuttgart 2/2003, S. 2]

Seit einigen Jahren wird verstärkt eine intensivere Auseinandersetzung mit Neuen Medien in der Schule gefordert. Nach den Vorstellungen der Kultusminister sollen alle Fächer im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Ausbildung von Medienkompetenz beitragen. Diese vor allem unter dem Druck der Wirtschaft und politischer Interessensverbände zustande gekommene Zielsetzung soll die SchülerInnen natürlich auch für die neuen Medienbranchen kompetent machen. Daneben gibt es aber weiterhin die medienpädagogische Forderung, SchülerInnen in die Lage zu versetzen, kritisch und kompetent mit Medien umzugehen und das nicht zuletzt im Medienvergleich. Bei der Beschäftigung mit Medienpädagogik lässt sich eine klare Trennung von Theorie und Praxis feststellen. Während die medienpädagogische Diskussion weit fortgeschritten ist, sieht es religionspädagogisch noch nicht gut aus. Vor allem aber gibt es ein Defizit in der Bereitschaft mancher Unterrichtender, überhaupt auf neue Medien zuzugehen, sie erweisen sich als traditionelle Medienskeptiker. Und dabei finden sie gewichtige Unterstützung. Die Massenmedien, so meint der Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß, "bedrohen mit dem Vorrang des Zeichens über das Wort, mit der Schockwirkung und Überflutung durch aufzunehmende Reize, mit der manipulativen Gewalt von Informationen, die sich nur noch speichern, kaum mehr in persönliche Erinnerung integrieren lassen, zugleich die Bildung von ästhetischer Erfahrung im traditionellen Sinn." Und der Symboldidaktiker Peter Biehl vermutet, dass "die allegorischen Figuren der Comic-Strips, TV-Serien und Video-Clips, die zu Kultfiguren werden können, in ihrer Oberflächlichkeit wie eine Sperre gegen die 'Tiefe' religiöser Symbole wirken".

Vor einiger Zeit hielt ich vor Berufschullehrern einen Vortrag zum Einsatz neuer Medien im Religionsunterricht und nach einiger Zeit fragte einer der anwesenden Lehrer: "Und wann sagen Sie mal was Kritisches?" Das ist die Erwartung an Theologen, die sich zu Medien äußern. Kritisch muss es sein, die Gefahren des Medienumgangs bedenken und möglichst noch die Jugendlichen vor zu viel Medienkonsum bewahrend. Diese Einstellung karikiert der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch in seiner höchst lesenswerten Mediengeschichte "Der Sinn und die Sinne": "Kultur und Hochkultur zumal definiert sich nicht zuletzt über ihre Verachtung von Medien. Und wenn ihr zu schwanen beginnt, dass es ohne Medien auch keine Hochkultur geben kann, definiert sie sich eben über ihre Verwerfung von Massenmedien. Hochkulturell ist, wer Journalisten verachtet, wer nicht ins proletarische Kino geht, wer mit schlechtem Gewissen fernsieht, wer Computerspiele für verderblich hält und wer sich entschuldigt, wenn er nur eine E-mail und nicht einen handgeschriebenen Brief verfasst."

Und so begegne ich bei Lehrerfortbildungen weiterhin jenen Pädagogen, die ostentativ auf die Nutzung der Massenmedien verzichten, dies als programmatisch und pädagogisch sinnvollen Akt verstehen und deshalb kulturelle Phänomene wie den Fernsehsender MTV und seine Geschichte oder den Kino-Kultfilm Matrix nicht wahrnehmen wollen und können. Ihr Urteil über die Massenmedien scheint unveränderlich festzustehen. Damit verlieren sie jedoch auch einen Teil der Alltagsrealität der Jugendlichen aus dem Blick. Worum es geht, ist im schulischen Kontext den gar nicht so "geheimen Miterziehern" über die Schulter zu gucken, zum Beispiel im Blick darauf, was sie als religiöse oder ethische Werte vorstellen, welche Deutungsrahmen für gelingendes oder scheiterndes Leben sie präsentieren oder welche Bilder sie für das Verständnis der Welt liefern. Wahrzunehmen ist, wie Religion heute in den kulturellen Massen-Medien Gestalt gewinnt, wie sie ästhetisch verarbeitet wird, wie ihr Formen- und Ausdrucksmaterial recycelt wird, wie popkulturell das Erbe der Religion (nicht nur in säkularisierter Gestalt) wiederauftaucht.

"Erziehung ist derjenige aktive Vorgang, in dem die ältere Generation die nachwachsende in die Kulturtechniken einweist, Sach-, Sinn-, Wert- und soziales Wissen vermittelt und so einerseits die Gesellschaft sich regeneriert, andererseits das Kind in seinem Wachstums- und Reifeprozess mit Hilfe der Erwachsenen in die Gesellschaft sich eingliedert." Dieser zunächst so einfache und sicher zutreffende Satz von Hans-Jürgen Fraas aus der theologischen Diskussion des Bildungs- und Erziehungsbegriffs verliert seine Selbstverständlichkeit, wenn man die Neuen Medien mit in die Überlegungen einbezieht. Wenn Erziehung jener aktive Vorgang ist, in dem die ältere Generation die nachwachsende in die Kulturtechniken einweist und sich die jüngste Kulturtechnik zwar über 100 Jahre ankündigt, sich dann aber innerhalb von nur sieben Jahren durchsetzt, dann ist es für die ältere Generation gar nicht so einfach, die nachfolgende in eine Kulturtechnik einzuweisen, in der sie selbst im Besten Fall Lernende ist, zum Teil aber auch diese neue Entwicklung noch gar nicht als solche zur Kenntnis genommen hat oder sie skeptisch beäugt. Und wenn zudem die neue Kulturtechnik die Organisation des tradierten Wissens umformt, die Ordnung der Diskurse neu strukturiert, wenn gewohnte Lernwege verändert oder sogar unterminiert werden, dann bildet das eine Herausforderung, die angenommen werden will. Erste Ansätze dazu zeichnen sich ab: Wilhelm Gräbs "Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft" und Klaas Huizings "Ästhetische Theologie II: Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie", beide im letzten Jahr erschienen, bieten - leider noch ohne religionspädagogische Akzentuierung - theologische Perspektiven der Annäherung an die religiösen Implikationen der Medienwelten.


© Andreas Mertin, Hagen 2003