Speck für ästhetische Mäuse

Eine Rezension

von Andreas Mertin

aus: Zeitzeichen, 8/02.

"Irren wir uns nur nicht: mögen wir noch soviel Speck für die intellektuellen und ästhetischen Mäuse in die Falle tun, wir fangen sie doch nicht; sicher gehen diese Nascher bald wieder hindurch. Jedenfalls wollen wir uns hüten, unser Kirchenvolk, das singen, beten und eine gute Predigt hören will, auch noch zu verlieren, indem wir ihm - Kaviar vorsetzen, wo es Brot will ... Freilich wenn es Kaviar gibt, warum soll man ihn nicht anbieten? Wir wollen in kleineren Kreisen das Bedürfnis nach schönen Feiern befriedigen, die die Gaben Gottes im Gewand der Kunst anbieten. Nur dass es nicht eine Anbetung von schönen Hüllen ohne Inhalt werde!" Diese Sätze von D. Fr. Niebergall zur "Klärung des evangelischen Kultusproblems" aus dem Jahr 1925 skizzieren entlarvend-ironisch das Problem, vor dem jede Begegnung mit zeitgenössischer Kunst im Raum der Kirche auch heute - mehr als 75 Jahre später - noch steht. Auf der einen Seite das offenkundige Interesse an der Begegnung mit zeitgenössischer Kunst, der Wunsch nach der Auseinandersetzung mit dem, was sich in der Gegenwartskultur abspielt. Auf der anderen Seite die permanente Rückbindung an die kirchlichen Interessen, die Klientel, mit der man es in der Gemeinde zu tun zu haben meint. Kunst bleibt innerkirchlich nur allzu oft bloß "Speck für ästhetische Mäuse" und könnte doch so viel mehr sein.

Dem abzuhelfen, haben das Zentrum für Medien Kunst Kultur im Amt für Gemeindedienst der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers und der Kunstdienst der Evangelischen Kirche Berlin ein Handbuch herausgegeben, das unter dem Titel "Kirchenräume - Kunsträume" Praxisanleitungen für den Umgang mit zeitgenössischer Kunst in Kirchen vermitteln will. In sechs Abschnitten - vom gebauten Kirchenraum über die Künste im Kirchenraum und Handlungskonzepte bis hin zu Finanzierungsmodellen und praktischen Hinweisen - werden hier Grundlegungen für die Begegnung mit der Gegenwartskultur geboten. Ausgesprochen gut gelungen ist dabei das Kapitel über Tanz und Theater, ausgewogen und informativ auch das über Bildende Kunst. Ein wenig knapp ist der Abschnitt über die zeitgenössische Musik in der Kirche, hier fehlt etwa die jahrelange Arbeit an St. Martin in Kassel. Auch zur Literatur und Predigtkunst gibt es mehr zu sagen - zu letzterer hätte Gerhard Marcel Martin Klärendes beitragen können.

Im Handbuch steht der pragmatische Duktus im Vordergrund - manchmal allzu sehr, etwa wenn auch noch Empfehlungen für die Hängung von Bildern gegeben werden. Die Mehrzahl der Texte kann sich zudem leider nicht freimachen von einer - zumindest rhetorischen - Funktionalisierung der Künste. Immer noch muss begründet werden, warum interesseloses Wohlgefallen in den Räumen der Kirche einen Ort haben sollte. Andauernd ist daher von Interessen, Zwecken, Zielgruppen oder Gemeindeaufbau die Rede - das schmerzt. Charakteristisch vielleicht auch die Selbstüberschätzung der Bedeutung der Begegnung von Kunst und Kirche für das kulturelle Gegenwartsbewusstsein. In den autonomen kulturellen Diskursen der Gegenwart spielt die Kirche auf absehbare Zeit keine Rolle. Nur an wenigen Stellen blickt das Buch über die Darstellung der eigenen Arbeit kritisch hinaus. Dennoch kann das Handbuch gerade für den, der in die Begegnung von Kirche und Kultur - Bildende Kunst, Musik, Literatur, Tanz, Theater, Film - einsteigen will, durchaus empfohlen werden. Wer an exemplarischen Anregungen und konkreten Hilfestellungen interessiert ist, findet eine Fülle von Informationen und Impulsen.


© Andreas Mertin, Hagen 2002