Sinnstiftende Architektur

Meinhard von Gerkans "Geometrie der Stille"

von Andreas Mertin

aus: Kunst und Kirche 4/2002

Am 14. November 2003 wurde dem Hamburger Architekten Meinhard von Gerkan von der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg die Ehrendoktorwürde verliehen. Dass ein Architekt einen theologischen Ehrendoktor bekommt, mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, ist es aber nicht, wenn man, wie dies Horst Schwebel anlässlich seiner Laudatio auf Meinhard von Gerkan getan hat, in der Geschichte derartiger akademischer Auszeichnungen blättert. Schon 1924 wurde eine theologische Ehrendoktorwürde durch die Albertus-Universität in Königsberg an Otto Bartning verliehen, 1933 von der Erlanger Theologischen Fakultät an German Bestelmeyer und schließlich 1968 von der theologischen Fakultät in Hamburg an Gerhard Langmaack. Es hat also eine gute Tradition, dass theologische Fakultäten den Blick auch auf jene Personen richten, die in einem ganz elementaren Sinn zur Gestaltwerdung des Christentums beitragen.

Anlässlich der Verleihung und des gleichzeitigen 40-jährigen Bestehens des Marburger Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart wurde im Marburger Universitätsmuseum eine Ausstellung unter dem Titel "Geometrie der Stille" präsentiert, die einen fokussierten Blick auf das Oeuvre Meinhard von Gerkans warf.

Geometrie der Stille

Unter der Überschrift "Geometrie als Entwurfsgrammatik" bot ein lang gestreckter Ausstellungsraum zahlreiche kleine quadratische Fotos mit einem Querschnitt durch die Arbeiten Gerkans seit 1965. Der Besucher konnte so die Handschrift von Gerkans verfolgen, von den Flughäfen Berlin-Tegel, Stuttgart, Hamburg über Stadt- bzw. Kongresshallen und Parkhäuser bis hin zum Lehrter Bahnhof in Berlin und dem Entwurf einer ganzen Stadt in der VR China (Luchao Harbour City).

So eingestimmt konnte man in den benachbarten Räumen an einigen Beispielen exemplarisch die religiösen bzw. in von Gerkans Worten: sinnstiftenden Konnotationen seines Schaffens studieren.

Im Zentrum stand dabei natürlich der Christus-Pavillon auf der EXPO 2000, bei dem Meinhard von Gerkan "beispielhaft vorführte, wie Religion in einem säkularen Kontext glaubwürdig zum Ausdruck gebracht werden kann", wie Horst Schwebel in der Laudatio hervorhob. Modelle, Skizzen, Entwürfe, Fotos dokumentieren das Ansinnen von Gerkans, mit dem Pavillon einen architektonischen Gegenentwurf zur Reizüberflutungsarchitektur der sonstigen Expo-Pavillons zu schaffen. Dazu sollte, wie Gerkan betonte, die über Jahrhunderte entwickelte Semantik der Kirchen und des Kirchenbaus aufgenommen werden. Der Bau sollte sakralen Charakter haben und doch "strukturell einfach und sinnfällig, reduziert auf wenige Materialien, unverwechselbar in der Anmutung und Raumstimmung" sein. En Detail kann der Besucher die Konzeption und Umsetzung dieser Ideen verfolgen. Dazu gehört dann auch die Zerlegung des Baus nach der Expo und der Wiederaufbau in der Klosteranlage Volkenroda in Thüringen.

Dass der Christuspavillon kein isolierter Solitär im Werk von Gerkans darstellt, zeigten andere Projekte und Modelle in weiteren Räumen der Ausstellung, wie etwa das noch unrealisierte Projekt einer Fischerkapelle für Heiligenhafen, für die sich Meinhard von Gerkan besonders eingesetzt hat. Im Rahmen einer wechselvollen Geschichte steht dort ein Neubau der Kapelle an. Von Gerkan hat dazu den Topos vom Kirchenschiff orts- und kontextbezogen in abgewandelter Form aufgegriffen und in Analogie eines umgedrehten aufgeständerten Bootes eine Kapelle entworfen, die einen "gerahmten Blick" über Altar und Kreuz hinaus auf die Ostsee und den Leuchtturm der Insel Fehmarn eröffnet. Dieses Modell weicht vielleicht am stärksten von den übrigen Modellen von Gerkans ab, bildet es doch im Rahmen seiner "Geometrie als Entwurfsgrammatik" eher eine Ausnahme.

Gut passt sich dagegen der Entwurf einer "deutschen Stadt" in der Volksrepublik China in dieses Konzept ein, zu dessen Vorgaben auch der Bau einer Kirche gehört. Nach von Gerkans Vorstellungen soll deren Entwurf sich "an den Archetypen im Stile Schinkels" orientieren, sie soll zudem einerseits Teil des zentralen Platzes sein, andererseits aber auch mit ihrer Apsis "im Wasser verankert" sein.

Insgesamt machte die Ausstellung viel von dem Anliegen von Gerkans deutlich, Architektur als direkte Form der Sinnstiftung zu verstehen und gerade seine Entwürfe für religiöse Bauten als Impuls "den Menschen eine Erfahrung zu ermöglichen, die sie heraushebt und auf das Andere verweist. Ob dies gelingt, weiß ich nicht. Wenn die Menschen erkennen, dass in einem solchen Raum ein Mehr zur Sprache kommt, das eine andere Dimension von Erfahrung möglich macht, die über das Alltägliche hinausgeht, dann wäre es gelungen." (Meinhard von Gerkan im Gespräch mit Horst Schwebel)

Phönix Kirchenbau

Vermutlich mehr Wunschtraum als Realität war dagegen die Titelgebung des die Ausstellung eröffnenden Symposions "Phönix Kirchenbau" mit Dr. Kerstin Englert, Prof. Dipl.-Ing. Meinhard von Gerkan, Prof. Dr. Dr. h.c. Horst Schwebel, Wolfgang Jean Stock, Prof. Dr. Bernard Reymond und Prof. Dr. Dietrich Korsch. So schön der Rekurs auf den aus der Asche neu erwachten Phönix in der Beschreibung des Physiologus auch ist, so erweist er sich doch nur bedingt als treffende Metapher für den aktuellen Kirchenbau. So begann Meinhard von Gerkan sein Statement auf dem Symposion auch mit einem Abgesang auf die Institutionen im Allgemeinen und die Kirche im Besonderen, die aktuell keine Kraft zur Gestaltung mehr hätten. Wo exzeptioneller Kirchenbau zustande käme (seine eigenen Entwürfe eingeschlossen), bezögen sie sich auf glückliche Konstellationen und persönliche Begegnungen.

Kerstin Englert beschwor dagegen die Rückkehr des Sakralen in der Kultur der Gegenwart, wobei die Sakralarchitektur eigentlich nur den sakralen Tendenzen der Profanarchitektur nachfolge. Der Architekturkritiker Wolfgang Jean Stock verwies darauf, dass weltweit in der christlichen Architektur gegenläufige Tendenzen zu beobachten seien, so dass die katholische Architektur eher puristischer, geradezu calvinistisch würde, während am protestantischen Kirchenbau nun eher die Abkehr vom Purismus zu beobachten seien. Gleichzeitig sei aber auch festzustellen, dass "Kirchenbau" für heutige Architekten ein Wunschthema sei, nahezu jeder Architekt, den man befrage, wünsche sich einen Kirchenbau als gestalterische Herausforderung.

Kontroversen gab es im Rahmen der Diskussion nur unterschwellig, etwa wenn Bernard Reymond darauf verwies, dass lange bevor man von einem "Phönix Kirchenbau" sprechen könne und dürfe, es eigentlich einen Phönix Kirchengemeinde geben müsse. Das von dem reformierten Theologen Reymond vorausgesetzte Modell – Kirchenbau als Spiegel der Gemeinde - ist aber dem des Architekten Meinhard von Gerkan geradezu entgegengesetzt, versteht dieser doch die Architektur weniger als Spiegel denn als aktive Sinnstiftung. So stellte sich abschließend verschärft die Frage nach dem "Auctor" des Kirchenbaus, also danach, wer heute gestalterischer Impulsgeber des Christentums sein könne. Meinhard von Gerkan hat mit seinen Modellen seinen Standpunkt dazu überzeugend vorgelegt.

Zur Ausstellung "Meinhard von Gerkan: Geometrie der Stille" ist im Verlag "Das Beispiel" ein mit zahlreichen Farbabbildungen versehener Katalog erschienen, in dem manches sich sogar noch eindringlicher erschließt als im konkreten Ausstellungsraum. Der Katalog kann zum Preis von 12 Euro beim Institut für Kirchenbau bezogen werden.

© Andreas Mertin