Über Gänge

Mit Adson von Melk die Welt erkunden

von Andreas Mertin

aus: Bernhard Dressler (Hg.), Religion zeigen.
Zeichendidaktische Entwürfe, Loccum 2002, S. 19-30

Die Grundlage: "Der Name der Rose" - ein Film und sein Roman

"Wovon man nicht theoretisch sprechen kann, darüber muss man erzählen" lautet der abschließende Satz auf der Umschlagklappe der italienischen Ausgabe des Romans "Der Name der Rose".[1] Man kann diesen Satz so interpretieren, dass der Autor des Romans, Umberto Eco, schriftstellerisch tätig geworden sei, weil es Grenzen der Explikation des semiotischen Diskurses gebe.[2] Und diese Einsicht wird jeder teilen, der einmal versucht hat, die Produktivität und pädagogische Tragweite semiotischen Denkens jenen plausibel zu machen, die Tag für Tag vor der Aufgabe stehen, Jugendliche zu Semiosen, letztlich: zu eigenem Denken anzuleiten. Warum ist es so schwer, den Unterrichtenden einsichtig zu machen, dass die Preisgabe der scheinbaren Sicherheit etwa der Symboldidaktik, aber auch therapeutischer oder moralischer Interpretationen zugunsten der Thematisierung offener Zeichenprozesse einen gerade auch religionspädagogisch wünschbaren Fortschritt bedeutet? Vielleicht, weil man an einem bestimmten Punkt das Theoretisieren lassen und wirklich erzählen, Texturen begehen und ausgelegten Spuren folgen und sich damit zugleich einen eigenen neuen Weg erschließen muss.

Grundlage der folgenden Überlegungen und Vorschläge für die Arbeit im Religionsunterricht ist ein Film und das Buch, auf dem dieser basiert. Sie sollen freilich nicht im Unterricht umfassend erschlossen werden - 657 Seiten Romantext mit einer Fülle intertextueller Verwirrspiele und ein 130 Minuten langer Film sprengen jeden Religionsunterricht -, sondern sie sollen als Ausgangspunkt für eigene Erkundungs-Gänge der Schülerinnen und Schüler dienen. Worum geht es im Roman? Folgen wir der Kurzbeschreibung des Mediävisten Alfred Heit:

"Adson, Spross eines Vasallen des deutschen Königs Ludwig IV., wird als Benediktinernovize ... 'Schüler und Adlatus' des gelehrten Franziskanermönchs William von Baskerville, der in geheimer königlicher Mission in Italien unterwegs ist. Beide reisen gegen Ende November des Jahres 1327 aus der Nähe von Pisa in die westlichen Berge zu einem Benediktinerkloster, dessen diplomatisch-wendiger, prokaiserlich eingestellter Abt einem Treffen päpstlicher und franziskanisch-kaiserlicher Legaten, das William vorbereiten und zu einem guten Ende bringen soll, in seiner Abtei den örtlichen Rahmen bietet. William und Adson verbringen eine Woche und zwei Tage in diesem Kloster. Schon am ersten Tag wird William, der als erfolgreicher Inquisitor bekannt ist und dessen Ruf hervorragender Klugheit sich bei der Ankunft glänzend bestätigt, vom Abt mit der Aufklärung des mysteriösen Todes eines Mönches betraut. Eine Reihe weiterer Todesfälle tritt ein, ohne dass es William gelänge, Licht in diese Vorgänge zu bringen. Am Ende durchschaut er die kriminellen Zusammenhänge und ermittelt in der Person des erblindeten, fanatisch-schrulligen Mönches Jorge von Burgos einen Gesinnungstäter. Dieser hat in dem als verschollen geltenden zweiten Buch der Poetik des Aristoteles ein tödlich wirkendes Berührungsgift appliziert, weil er vom Geist dieses Buches schädliche Wirkungen für den christlichen Glauben und die christliche Weltordnung befürchtet: Im zunächst rhetorisch en, dann handgreiflichen Streit Jorge - William entsteht durch eine Verkettung unglücklicher Umstände in der Bibliothek - der größten der Christenheit - ein Brand, dem schließlich die ganze Abtei zum Opfer fällt. William und Adson verlassen die Stätte der Trümmer und des Todes und reisen nach Deutschland zurück, wo sie sich in München trennen. Adson schreibt gegen Ende seines Lebens über alles, was ihm damals begegnete, einen chronikalischen Bericht, den er mit erbaulich-frommen wie auch weltkritischen Betrachtungen einleitet und dessen Schluss offensichtlich durch Alterstrübsinn verdunkelt ist."[3] Faktisch handelt es sich um eine Kombination aus einem Krimi, einem historischen Roman, einer Schlüsselgeschichte und einer narrativen Einführung in die Semiotik.

Der Film "Der Name der Rose"[4] ist kein Film des Autors Umberto Eco, sondern eine filmische Interpretation des Romans durch den Regisseur Jean-Jaques Annaud.[5] Konsequenterweise wird der Film im Vorspann als Palimpsest des Romans von Umberto Eco bezeichnet. Ein Palimpsest ist ein zunächst geschriebener, dann ausradierter und danach überschriebener Text, bei dem man - mit etwas Glück - noch das ursprünglich Geschriebene erkennen kann. Der Film geht sozusagen seine eigenen Wege, er muss vieles weglassen (vor allem theoretische, theologische und semiotische Darlegungen des Romans), einiges hinzufügen (zum Beispiel in der Darstellung des namenlosen Mädchens), manches ändern (etwa die Ordenszugehörigkeit des Adson von Meld - aus optischen Gründen ist er Franziskaner statt Benediktiner).[6] Vor allem muss er natürlich nach den Gesetzen der Filmindustrie dramatisieren (und trivialisieren).[7] Worin der Film dem Roman treu bleibt, ist die Darstellung einer Kriminalgeschichte und die Verwendung der Wegmetapher.

Die Hauptfiguren im Film sind mit Sean Connery[8] und Christian Slater hochrangig besetzt, gerühmt werden aber auch die unkonventionell-charaktervollen Darsteller der Mönchsgemeinde (u.a. Helmut Qualtinger).[9] Drehort war unter anderem auch das deutsche Kloster Eberbach.


Die These: "Denken heißt, nach dem Weg zu tasten"[10]

Am Anfang des Films blickt der Betrachter auf eine schwarze Leinwand, während er eine Stimme hört, welche ihn rückblickend auf die kommenden Schilderungen einstimmt. Noch weiß man nicht, wohin der Weg führt und welche vielgestaltige Welt einen erwartet, aber man bekommt schon erste Richtungsimpulse: die Stimme spricht von so ungeheuerlichen Verbrechen in einer Abtei, dass man am besten ihren Namen verschweigen sollte. Die verwendeten Worte verweisen auf Biographisches (Am Ende meines Lebens angekommen), auf Religiöses (ich armer Sünder), auf die Welt des Mittelalters (im Jahre 1327 unseres Herrn), das Genre des Kriminalromans (schreckliche Ereignisse). Das erste Bild des Films zeigt dann die Titelhelden auf ihrem einsamen Weg durchs unwirtliche Gebirge hin zur erwähnten Abtei. Der Film zeichnet (darin dem Roman folgend) Wege nach: von historisch belegten und von fiktionalen Personen, von exemplarischen Existenzen und Randfiguren.

Film wie Roman stellen paradigmatisch verwickelte Wegnetze vor: ein trotz aller Logik unübersichtliches Kloster und mittendrin eine - wie sich erweisen wird: verwirrend mörderische - Bibliothek als Labyrinth.

Am Ende des Films trennen sich die Pfade der beteiligten Helden. Das abschließende Bild zeigt sie wieder auf ihrem Weg durch das unwirtliche Gebirge weg von der Abtei des Verbrechens und mehr oder weniger ratlos über die Beurteilung des Geschehenen. Die nachfolgende schwarze Leinwand ist nun nicht mehr leer, sondern trägt in roten Lettern den Schriftzug: Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus (Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen.)

Zwischen diesen beiden schwarzen Leinwänden liegen filmisch/erzählerisch 7 Tage, die Auskunft geben über verschiedene Arten, mit der Welt umzugehen. Dieser Aspekt der zu begehenden Wege, die sich je und je realisieren, bildet die Ausgangsidee der Bearbeitung im Religionsunterricht. Nahegelegt wird diese Herangehensweise durch Umberto Eco selbst, der die Verschiedenartigkeit der Wege als Allegorie verschiedener Haltungen zur Welt und zur Wahrheit entworfen hat. "Denken heißt, nach dem Weg zu tasten" schreibt Eco und verweist auf Überlegungen der Enzyklopädisten: "Das allgemeine System der Wissenschaften und Künste ist wie ein Labyrinth, wie ein Weg mit vielen Windungen, den der Verstand beschreitet, ohne zu wissen, in welcher Richtung er sich halten muss".[11]

Einige dieser überlieferten Wege abendländischen Denkens Umberto stellt Eco im Namen der Rose vor. Da ist zum einen die Figur des Ubertin Casale, der den mystischen Weg repräsentiert. "Ziel menschlicher Aktivitäten ist die unmittelbare Verbindung mit Gott, an dem zu zweifeln der Mystiker keinen Anlass hat, wenn er auch die tradierten Formen der Vermittlung göttlichen Heilswirkens glaubt hinter sich lassen zu können."[12] Wenn auch in gewandelter Erscheinungsform, so dürfte dieser Weg - Ablehnung der Institution Kirche, aber Anerkennung und Pflege von Spiritualität und Mystik - bei Jugendlichen sehr aktuell sein. Einen weiteren Denkweg repräsentiert im Roman natürlich der fanatische Bibliothekar Jorge von Burgos. Für ihn gilt: "Der Wahrheitsanspruch wird festgehalten und in eindeutig fragloser Weise der jeweiligen Gegenwart fordernd entgegengestellt ... Jede Frage nach der Sinndimension der tradierten Wahrheit bleibt ebenso ausgeklammert wie der Versuch, sie mit der jeweiligen Gegenwart angemessen zu vermitteln."[13] In den Augen nicht weniger Schülerinnen und Schüler lässt sich so kritisch die Position der Kirchen und ihrer institutionellen Vertreter beschreiben. Die dritte und im Roman am positivsten dargestellte Position ist die des William von Baskerville. Nach ihm kommt es darauf an, "die Menschen über die Verhältnisse zum Lachen zu bringen, um sie aus diesen Verhältnissen zu befreien, also das alte sophistische Mittel, mit dem Ernst des Gegners fertig zu werden. Der Gegner ist klar bezeichnet: eine machthungrige Institution mit fanatischem Wahrheitsanspruch, die ihre Ziele ohne Rücksicht auf das, was Menschen denken, fühlen und hoffen mögen, durchzusetzen sucht ... (Lachen) ist so etwas wie das letzte Mittel humaner Selbstbehauptung gegenüber menschenverachtenden Institutionen."[14] Dies gibt ebenfalls eine unter Schülerinnen und Schülern verbreitete Einstellung wieder, zumal dann, wenn man mit "Lachen" assoziativ auch "Spaß haben" verknüpft. Daneben gibt es im Roman natürlich noch andere Wege, wenn auch nicht so detailliert ausgeführt.[15] Es fällt jedoch auf, dass veritable theologische Wege nicht skizziert werden.[16] Das wird im Religionsunterricht explizit thematisiert werden müssen. Jede der skizzierten Denktraditionen lässt sich - mehr oder weniger genau - einem bestimmten Bild des Labyrinths zuordnen, wie Umberto in der Nachschrift des Romans darstellt: das klassisch-griechische, das barock-manieristische und das Labyrinth als rhizomatisches Netzwerk.[17]


Ein vieldeutiges Paradigma: Orientierung im Labyrinth des Lebens

Für viele Schülerinnen und Schüler in der Gegenwart ist das Labyrinth "ein Symbol der Gefangenschaft, der Ausweglosigkeit, der Unbegreiflichkeit und Undurchsichtigkeit der Welt" heißt es in der symboldidaktischen Erschließung des Weges bei Peter Biehl.[18] Vielleicht sind es aber gerade auch die Unterrichtenden selbst, denen gradlinige Lernwege wesentlich angenehmer sind, als komplexe und in der Regel unüberschaubare labyrinthische Systeme. Und doch kann das Labyrinth - folgt man den Überlegungen Umberto Ecos - als zentrales Paradigma der Orientierung in unserer Zeit begriffen werden:

"Ein abstraktes Modell der Vermutung ist das Labyrinth. Allerdings gibt es drei Arten von Labyrinthen.

Erstens das klassisch-griechische, das des Theseus. In diesem Labyrinth kann sich niemand verirren: Man tritt ein und gelangt irgendwann ins Zentrum und vom Zentrum wieder zum Ausgang. Darum sitzt im Zentrum der Minotaurus, andernfalls hätte die Sache gar keinen Reiz und wäre ein simpler Spaziergang. Spannend wird sie, wenn überhaupt, nur dadurch, dass man nicht weiß, wohin man gelangt und was der Minotaurus dann tut. Aber wenn man das klassische Labyrinth auseinanderzieht, hat man einen Faden in der Hand, den Faden der Ariadne. Das klassische Labyrinth ist der Ariadne-Faden seiner selbst.

Zweitens gibt es das barock-manieristische Labyrinth, den Irrgarten. Wenn man es auseinanderzieht, erhält man eine Art Baum, ein Gebilde mit zahlreichen Ästen und Zweigen aus toten Seitengängen. Es hat einen Ausgang, aber der ist nicht leicht zu finden. Man braucht einen Faden der Ariadne, um sich nicht zu verirren. Dieses Labyrinth ist ein Modell des trial-anderror-Verfahrens.

Drittens schließlich gibt es das Labyrinth als Netzwerk oder, um den Begriff von Deleuze und Guattari aufzunehmen, als Rhizom. Das Rhizom-Labyrinth ist so vieldimensional vernetzt, dass jeder Gang sich unmittelbar mit jedem anderen verbinden kann. Es hat weder ein Zentrum noch eine Peripherie, auch keinen Ausgang mehr, da es potentiell unendlich ist. Der Raum der Mutmaßung ist ein Raum in Rhizomform."[19]

Das erste Modell geht - übertragen auf die Frage des Lebensweges - von einem definierten und nicht variablen Lebensweg aus, es trägt sozusagen trivialisierte Züge der Prädestinationslehre. Spannend ist nur, dass man nicht weiß, welchen Lebensweg Gott für einen bestimmt hat, also: was einen letztendlich erwartet. Das zweite Modell geht von einem klaren Ziel gelingenden Lebens aus, nur ist der Weg dorthin nicht eindeutig, sondern voller Abzweigungen und Fehlwege, die es zu meiden gilt. Irgendwie muss man den rechten Weg (in der Regel den Mittelweg) finden - auch wenn die bösen Buben locken. Dieses Modell dürfte der biblischen Verwendung der Wegmetapher am nächsten kommen und auch heute noch als regulative Idee in Kraft sein. Das dritte Modell gibt die Idee eines Zieles auf, verzichtet auf alle Eindeutigkeiten - diese ergeben sich nur rückblickend - und geht von je und je sich realisierenden Verbindungen aus, die eigene Plausibilität haben. Am nächsten kommt diesem Modell vielleicht die Struktur des Internet.


Die Wege: Wegnetze, Irrwege, Wahrheitssuche und viele Leitfäden

Ein vieldeutiges Bild mit der Einladung, verschiedene Lesarten zu produzieren:

  • Der Schüler Adson mit der Lampe in der Hand auf der Suche nach der Wahrheit in der Bibliothek. Auf der Suche nach Wahrheit kann man freilich verschiedene Wege gehen (und auch der Unterrichtende des Faches Religion kann sie nur skizzieren).
  • Ein der Orientierung bedürftiger junger Mensch am Scheideweg und der Hilfestellung (s)eines Lehrers bedürftig? Aber wer leuchtet hier wem?

In der dargestellten Situation des Films haben sich der Schüler Adson und sein Lehrer William bei der ersten Begehung des Labyrinths der Bibliothek aus den Augen verloren. Nach längerer angstvoller Suche finden sie zueinander. Und sie finden im Film - anders als im Roman - aus dem Labyrinth nur heraus, weil sich der Schüler der alten Überlieferung des Ariadnefadens erinnerte und einen Faden quer durch das Labyrinth gezogen hat.[20]

"Wie schön ist die Welt, und wie grässlich sind Labyrinthe!" ruft Adson nach der ersten Begehung des Labyrinths aus und sein Meister antwortet ihm: "Wie schön wäre die Welt, wenn es eine Regel für die Begehung von Labyrinthen gäbe!" Die Begehungen des Labyrinths im Roman folgen jeweils einer eigenen Logik und unterschiedlichen Leitfäden: Versuch und Irrtum (S. 215-226), rein theoretisch (272-280), planmäßig, aber ohne Erreichung des Ziels (397-417) und schließlich das Ziel erreichend, aber mit apokalyptischem Ende (581-...). Wahrheit wird entweder nur theoretisch erreicht oder im Vollzug aufgelöst. Und so lautet das Fazit des Romans: "Ich habe nie an der Wahrheit der Zeichen gezweifelt, Adson, sie sind das einzige, was der Mensch hat, um sich in der Welt zurechtzufinden. Was ich nicht verstanden hatte, war die Wechselbeziehung zwischen den Zeichen. Ich bin zu Jorge gelangt, indem ich einem apokalyptischen Muster folgte, das den Verbrechen zu unterliegen schien, und dabei war es ein Zufall. Ich bin zu Jorge gelangt, indem ich einen Urheber aller Verbrechen suchte, und dabei haben wir nun entdeckt, dass im Grunde jedes Verbrechen einen anderen Urheber hatte, beziehungsweise keinen. Ich bin zu Jorge gelangt, indem ich dem Plan eines perversen, wahnhaften, aber methodisch denkenden Hirns nachging, und dabei gab es gar keinen Plan, beziehungsweise Jorges ursprünglicher Plan hatte sich selbständig gemacht und eine Verkettung von Ursachen eingeleitet, von Haupt- und Neben- und Gegenursachen, die sich auf eigene Rechnung weiterentwickelten, indem sie Wechselbeziehungen eingingen, denen keinerlei Plan unterlag. Wo ist da meine ganze Klugheit? Ich bin wie ein Besessener hinter einem Anschein von Ordnung hergelaufen, während ich doch hätte wissen müssen, dass es in der Welt keine Ordnung gibt." - "Aber indem Ihr Euch falsche Ordnungen vorgestellt habt, habt Ihr schließlich etwas gefunden ..." - "Da hast du etwas sehr Schönes gesagt, Adson, ich danke dir. Die Ordnung, die unser Geist sich vorstellt, ist wie ein Netz oder eine Leiter, die er sich zusammenbastelt, um irgendwo hinaufzugelangen. Aber wenn er dann hinaufgelangt ist, muß er sie wegwerfen, denn es zeigt sich, dass sie zwar nützlich, aber unsinnig war." (625)


Biblische Lehrpfade: "Eines jeden Wege liegen offen"

Weg

1. Eigentliche Wege sind durch den Verkehr entstanden, wurden erst später angelegt oder zu Straßen ausgebaut.
a) Die Völker des Alten Orients begnügten sich mit den natürlichen Verkehrs-Wegen, die über Ebenen, durch Schneisen, Wädis und Täler, an Berghängen und Flussufern entlang allmählich ausgetreten wurden und durch Wegräumen von Hindernissen, Auffüllen von Senken und Löchern, Umleitung zu Furten und Stege über Bäche verbessert werden konnten. Wege waren für Fußgänger, Reit- und Lasttiere gangbar. In Flachländern und Flusstälern entstanden, oft durch Karawanen, immer neue Wege neben den alten, wenn diese zertreten oder aufgeweicht waren. Häufig wurden solche sehr breiten Wege zu Grundrissen für Straßen, namentlich wenn weitere Verbreiterung aus praktischen Gründen oder wegen Abgrenzung von anliegendem Grundeigentum nicht in Frage kam.
b) In den gr. Kleinstaaten im westlichen Hellenismus waren ebenfalls Wege das Normale; die bedeutenderen Wege führten zu Tempeln und wurden gelegentlich zu Straßen verbreitert und ausgebaut.
c) Erst im Römerreich wurden systematisch Straßen gebaut.

2. Bildlich und übertragen wurde vom "Wege" wohl in allen Religionen gesprochen, am häufigsten im Taoismus, Buddhismus und Mandäismus. Die Bedeutung von "Wege" hängt von dem Sinn der Erlösung oder Verwerfung ab, der die Menschen als dem Ziel ihres Lebens entgegengehen.
a) Im AT ist die sehr häufige Bedeutung 'Wandel, Verhalten, Lebensweise' noch oft auf den wirklichen Weg des Volkes Israel ins gelobte Land zurückprojizierbar, daneben kann von den Wegen gesprochen werden, die Gott selbst (immer mit den und für die Menschen) geht.
b) Der einfach übertragene Sprachgebrauch lebte im Judentum und Christentum in vielen Nuancen fort, darüber hinaus spiritualisiert. In letzter Konsequenz ist Jesus als Wahrheit und Leben selbst der Weg zum Heil. Abgeleitet und enteschatologisiert steht dann die christliche Lehre dafür.
c) Da die von Gott gebotenen Wege sich alle antithetisch zu den eigenen Wegen des Menschen verstehen lassen, liegt das Bild von den zwei Wegen nahe. Für die Entscheidung zwischen Bosheit und Tugend begegnet es schon in der Fabel von Herakles am Scheidewege, theologisch ausgeführt ist es im jüdischen und christlichen Bereich.

Biblisch-Historisches Handwörterbuch. Göttingen 1962ff.

Das biblische Denken über Wege wird vom zitierten Artikel des Biblisch Historischen Handwörterbuchs gut beschrieben. Seine Erarbeitung im Unterricht ist wichtig, um nicht die heutigen Assoziationen des Weges (im Sinne städteplanerischer Maßnahmen) in die Lektüre biblischer Texte einzutragen. Für die konkrete Arbeit am biblischen Text wird aus der Fülle des Materials ein Abschnitt aus den sog. Sprüchen Salomos vorgeschlagen. Die alttestamentliche Weisheit pflegt die Wegmetapher besonders intensiv. Dabei bezieht sie sich weniger auf das Volk, als vielmehr auf den einzelnen und war nicht nur bei Hofe, sondern auch in der Familie beheimatet.

Sprüche 4, 11-19.
Ich will dich den Weg der Weisheit führen; ich will dich auf rechter Bahn leiten, dass, wenn du gehst, dein Gang dir nicht sauer werde, und wenn du läufst, du nicht strauchelst. Bleibe in der Unterweisung, lass nicht ab davon; bewahre sie, denn sie ist dein Leben. Komm nicht auf den Pfad der Gottlosen und tritt nicht auf den Weg der Bösen. Lass ihn liegen und geh nicht darauf; weiche von ihm und geh vorüber. Denn jene können nicht schlafen, wenn sie nicht übel getan, und sie ruhen nicht, wenn sie nicht Schaden getan. Sie nähren sich vom Brot des Frevels und trinken vom Wein der Gewalttat. - Der Gerechten Pfad glänzt wie das Licht am Morgen, das immer heller leuchtet bis zum vollen Tag. Der Gottlosen Weg aber ist wie das Dunkel; sie wissen nicht, wodurch sie zu Fall kommen werden. Mein Sohn, merke auf meine Rede und neige dein Ohr zu meinen Worten. Lass sie dir nicht aus den Augen kommen; behalte sie in deinem Herzen, denn sie sind das Leben denen, die sie finden, und heilsam ihrem ganzen Leibe. Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben. Tu von dir die Falschheit des Mundes und sei kein Lästermaul. Lass deine Augen stracks vor sich sehen und deinen Blick geradeaus gerichtet sein. Lass deinen Fuß auf ebener Bahn gehen, und alle deine Wege seien gewiss. Weiche weder zur Rechten noch zur Linken; wende deinen Fuß vom Bösen.

Sprüche 5,21:
Denn eines jeden Wege liegen offen vor dem HERRN, und er hat Acht auf aller Menschen Gänge.

Sprüche 16,9:
Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein lenkt seinen Schritt. 

Die Schülerinnen und Schüler können den Textabschnitt und die ergänzenden Verse auf die Art der Verwendung der Wegmetapher untersuchen. Welcher Gebrauch liegt vor, welche Vorstellungen werden damit abgebildet und nicht zuletzt: Welche Vorstellungen des Weges und der Orientierung kommen nicht vor?


Eine mögliche Verknüpfung: Reflexionen über Gänge

Die konkrete Verknüpfung des vorstehend Beschriebenen im Unterricht könnte mit den folgenden Schritten geschehen:

Impuls A

Filmsequenz (Eröffnung [0:00-04:30] + erste Erkundung des Labyrinths [1:07- 1:19]) - anschließend Vorstellung des Films. Ergänzend weitere Filmausschnitte betrachten.

Impuls B

Textabschnitt (z.B. S. 215 - 226 des Romans [erste Erkundung des Labyrinths] + Abbildung S. 411) - anschließend Einführung in den Roman "Der Name der Rose" als exemplarischen Text, der von Wegen und Lebenseinstellungen handelt. Informationen über Autor, Entstehungszeit, Aufbau etc.

Kon-Figurationen

Vorstellung einzelner Personen (weniger als historische, sondern als exemplarische Figuren). Wofür stehen: Adson von Melk * Ubertin Casale * Jorge von Burgos * William von Baskerville

Diskussion

Inwiefern referenzieren diese Figuren heute noch aktuelle Einstellungen und Lebensauffassungen? Welche Haltung ist nachvollziehbar? Welche grundsätzlichen Haltungen sind so noch nicht beschrieben?

Ein vieldeutiges Paradigma

Das Labyrinth (im Roman). Was für Typen von Labyrinthen gibt es und wie funktionieren sie jeweils? Welcher Zusammenhang könnte zwischen den verschiedenen Labyrinthformen (die Umberto Eco beschreibt) und den Lebenswegen bzw. Lebenshaltungen (der Romanfiguren) bestehen?

Lesarten

Es gibt verschiedene Metaphern für das Leben, für die Sicht der Welt und für die Art, sich in ihr zu orientieren. Als eine exemplarische Metapher kann die des Weges und der ihr verwandten gelten: Pfade, Irrwege, Gänge, Labyrinthe, Straßen. Sammeln der Denotationen und Konnotationen zur Metapher Weg und ihren Derivaten.

Wenn die Welt / das Leben ein Labyrinth wäre. Was heißt es, sich im Labyrinth zu orientieren? Irrwege, Wahrheitssuche und viele Leitfäden. Wenn das Labyrinth als Netz gedacht werden muss: wo bleiben Wahrheit und Ziele? Was ist das Positive an der "Labyrinth-als-Netz"-Lesart, was das Verstörende?

Die Schüler sollen sich äußern, welche Metapher sie für ihr eigenes Leben auswählen würden. Und welche konkrete Form würden sie im Rahmen der verschiedenen Lesarten der Metapher "Weg" für sich selbst als charakteristisch ansehen?

Vertiefung

Biblische Lehr- und Irrwege am Beispiel von Prediger 4. Erstellen eines Enzyklopädie-Eintrages zu den biblischen Stichworten "Weg, Straße, Pfad, Gänge, Irrweg". Warum gibt es in der Bibel keine Labyrinthe?

Conclusio

Mein Paradigma - kein Paradigma? Über Gänge im Netz - oder wie orientiere ich mich? Wie interpretiere / lese ich die Welt?



Ergänzende Notizen:

Natürlich wäre es am besten, die jeweilige Lerngruppe könnte sich den Film zunächst komplett anschauen. So erschließt sich nicht nur die Thematik am Besten, sondern man tritt zugleich in eine bestimmte Stimmung ein und zudem muss man nicht verkürzend - und das heißt ja auch: Denkwege verkürzend - in ein Film-Kunstwerk eingreifen. Wo die Voraussetzungen für einen kompletten Filmdurchgang nicht gegeben sind, sollte man mit der schwarzen Eröffnungsleinwand und der Vorstellung der Hauptcharaktere einsetzen, also mit den ersten 4 ½ Minuten des Films. Danach kann nach den so produzierten Erwartungshaltungen der Schülerinnen und Schüler gefragt werden. Wovon handelt das Ganze, welche Richtungen könnte der Film einschlagen? Welchen Eindruck hat man von den beteiligten Personen, was beeindruckt am meisten, was erscheint als unstimmig, worüber möchte man mehr erfahren?

Danach sollte die erste Erkundung des Labyrinths gezeigt werden, weil sie die sich anschließende ausschnittweise Lektüre des Romantextes sinnlich erfahrbarer werden lässt. Die Vorstellung des Films (im Rahmen eines Einzel- oder Gruppenreferats) sollte dann folgen. Der nächste Schritt könnte die Lektüre der ersten Begehung des Labyrinths im Roman sein, wobei die später erstellte Skizze des Adson (auf Seite 411) für das Verständnis hilfreich ist. Im Unterricht sollten die auffälligen Differenzen zwischen Film und Text erörtert werden. Der Film macht Adson schlauer (Ariadnefaden) und lässt den Zufall als Lösung weg.

Die Kon-Figurationen setzen eine genaue Lektüre des Romans voraus. Hilfestellungen geben verschiedene Leitfäden,[21] welche die einzelnen Figuren des Romans und ihre historischen Vorlagen vorstellen. Es geht dabei vor allem um die Art und Weise, wie die vier vorgeschlagenen Figuren ihre Orientierung suchen, wie sie ihre Lebenspfade gestalten.

Im Blick auf das Labyrinth ist im konkreten Unterrichtsvollzug darauf zu achten, dass nicht die reduktive Lesart (Suche nach der Mitte, nach dem Ausgang) die Diskussion dominiert. Das Interessante der Intervention Umberto Ecos ist es ja gerade, dass er diese verkürzenden Lesarten unterminiert, zugunsten einer vernetzten Struktur, in der man sich zeitlebens mit immer neuen Verknüpfungs- und Zielpunkten bewegt. Im Unterricht sollte auf Ecos Unterscheidung der drei Arten des Verständnisses von Labyrinthen zurückgegriffen werden.

Die subjektive Aneignung der Weg-Labyrinth-Netz-Metapher sollte auch mit Erfahrungen verknüpft werden, die sich z.B. aus den Surfgewohnheiten des Internets ergeben. Das Internet dürfte am ehesten jener Labyrinth- bzw. Netzstruktur entsprechen, die Umberto Eco vorschwebt. Damit kann aber zugleich auch die Wahrheitsfrage und die Frage nach Orientierungspunkten gestellt werden.

Bei der biblischen Vertiefung wurde auf den Text aus den Sprüchen zugegriffen, weil er sich in einer längeren Ausführung mit der Weg-Metaphorik beschäftigt.[22] Dabei sollte unbedingt der Text des Biblisch-historischen Handwörterbuchs mit herangezogen werden, weil er zeigt, auf welche empirische Erfahrungen sich die Metaphorik bezieht.

Für die abschließende Erörterung könnten die resignierenden Schlussfolgerungen William von Baskervilles am Ende des Romans (S. 625) als Impulstext verwendet werden.


Die Literatur: "Was du siehst, das schreibe in ein Buch!"

  • Eco, Umberto Der Name der Rose. Deutsch von Burkhart Kroeber. München 1986.
  • Eco, Umberto Nachschrift zum 'Namen der Rose'. München 1986
  • Eco, Umberto Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen. 2. Auflage. Leipzig 1990.
    darin: Die Enzyklopädie als Labyrinth, S. 104-112
  • Eco, Umberto Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München 1990.
  • Eco, Umberto Zwischen Autor und Text. Interpretationen und Überinterpretationen. Mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini. München 1996.
  • Martini/Eco Woran glaubt, wer nicht glaubt? Wien 1998
  • -.- Umbruch. Zeitschrift für Kultur. H. 4, 1986. Thema: Eco!
  • Biehl, Peter Symbole geben zu lernen: Einführung in die Symboldidaktik anhand der Symbole Haus, Hand und Weg. Neukirchen-Vluyn 1989
  • Gehring, Hans-Ulrich "Textbegängnis als Kategorie biblischer Textrezeption." In: B. Heller (Hg.): Kulturtheologie heute? Hofgeismar 1997, S. 49-53.
  • Haverkamp / Heit (Hg.) Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium. München 1987.
    darin: Alfred Heit: "Die ungestillte Sehnsucht - Geschichte als Roman"; S. 152-184.
    darin: Georg Wieland: Gottes Schweigen und das Lachen der Menschen. S. 97-122
  • Huizing, Klaas "Und sie bewegt sich doch! Über die Auferstehung der Schrift im Körper"; In: Neuhaus/Mertin (Hg.) Wie in einem Spiegel ... Begegnungen von Kunst, Religion, Theologie und Ästhetik. Frankfurt 1999. S. 207-227.
  • Ickert / Schick Das Geheimnis der Rose entschlüsselt. Zu Umberto Ecos Weltbestseller 'Der Name der Rose'. München 2/1986.
  • Kerner, Max (Hg.): '... eine finstere und fast unglaubliche Geschichte'? Mediävistische Notizen zu Umberto Ecos Mönchsroman 'Der Name der Rose'. 2. Auflage. Darmstadt 1988.
  • Kroeber, Burkhart (Hg.) Zeichen in Umberto Ecos Roman 'Der Name der Rose'. Aufsätze aus Europa und Amerika. München/Wien 1987.
    darin: ders., Einleitung, S. 7-13.
    darin: Elena Kostjukovi?, Der unbegrenzte Zeichenprozess als Grundlage der Kultur, S. 55.
    darin: Raul Mordenti, Eine Sirene, ein Echo ... Wer war Adson von Meld?, S. 21-26
  • Nooteboom, Cees In Ecos Labyrinth, TAZ Nr. 2977, Seite 11-13 vom 02.12.1989
  • Ruch, A. http://www.TheModernWord.com/eco/
  • Urban, Cerstin Erläuterungen zu Umberto Eco: Der Name der Rose, Hollfeld 2/2000.
  • Wittgenstein, Ludwig Tractatus logico-philosophicus: Logisch-philosophische Abhandlung (1921). 12. Auflage. Frankfurt 1977.

Anmerkungen

  1. Umberto Eco: Der Name der Rose. Die Anspielung auf Wittgensteins "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen" aus dem "Tractatus logico philosophicus" ist natürlich unverkennbar.
  2. Raul Mordenti, Eine Sirene, ein Echo ... Wer war Adson von Meld? S. 21.
  3. Alfred Heit: "Die ungestillte Sehnsucht - Geschichte als Roman"; in: Heit/Haverkamp (Hg.): Ecos Rosenroman, S. 152-184. Der Klappentext der Taschenbuchausgabe des Romans skizziert den Inhalt etwas dramatischer so: "Dass er in den Mauern der prächtigen Benediktinerabtei an den Hängen des Apennin das Echo eines verschollenen Lachens hören würde, das hell und klassisch herüberklingt aus der Antike, damit hat der englische Franziskanermönch William von Baskerville nicht gerechnet. Zusammen mit Adson von Melk, seinem etwas tumben, jugendlichen Adlatus, ist er in einer höchst delikaten politischen Mission unterwegs. Doch in den sieben Tagen ihres Aufenthaltes werden die beiden mit kriminellen Ereignissen und drastischen Versuchungen konfrontiert: Ein Mönch ist im Schweineblutbottich ertrunken, ein anderer aus dem Fenster gesprungen, ein dritter wird tot im Badehaus gefunden. Aber nicht umsonst stand William lange Jahre im Dienste der Heiligen Inquisition. Das Untersuchungsfieber packt ihn. Er sammelt Indizien, entziffert magische Zeichen, entschlüsselt Manuskripte und dringt immer tiefer in ein geheimnisvolles Labyrinth vor, über dem der blinde Seher Jorge von Burgos wacht. Mehr sei hier nicht verraten."
  4. Der Name der Rose, Deutschland/Italien/Frankreich 1986, Regie Jean-Jaques Annaud, Produktion: Bernd Eichinger/Bernd Schaefers, Neue Constantin Film. VHS-Cassette Kinowelt 3059. Der Film ist von der FSK freigegeben ab einem Alter von 16 Jahren.
  5. Zu Jean-Jaques Annaud vgl. http://www.imdb.com/Name?Annaud,+Jean-Jacques
  6. Vgl. dazu den Abschnitt "Die Verfilmung" in: Cerstin Urban: Erläuterungen zu Umberto Eco: Der Name der Rose, S. 65f.
  7. So lautet die Ankündigungsschlagzeile des Films: "Sie glaubten an Gott und waren des Teufels".
  8. Zu Sean Connery vgl. http://www.imdb.com/Name?Connery,+Sean
  9. Weitere technische Informationen zum Film vgl. http://us.imdb.com/Title?0091605
  10. Umberto Eco, Die Enzyklopädie als Labyrinth, S. 107.
  11. Und er fügt hinzu: "Das Universum der Semiose, d. h. das Universum menschlicher Kultur, muss man sich (so) vorstellen: a) Es ist gemäß einem Netz von Interpretanten strukturiert. b) Es ist virtuell unendlich, weil es multiple Interpretationen berücksichtigt, die von verschiedenen Kulturen realisiert werden: ein gegebener Ausdruck kann so viele Male interpretiert werden und auf so viele Arten, wie er tatsächlich in einem gegebenen kulturellen Rahmen interpretiert worden ist; es ist unendlich, weil jeder Diskurs über die Enzyklopädie die vorherige Struktur der Enzyklopädie selbst in Zweifel zieht. c) Es registriert nicht nur "Wahrheiten", sondern vielmehr das, was über die Wahrheit gesagt wurde oder was für wahr gehalten wurde, genauso gut wie das, was für falsch oder imaginär oder legendär gehalten wurde, vorausgesetzt, dass eine gegebene Kultur überhaupt einen Diskurs über irgendein Thema ausgearbeitet hat; die Enzyklopädie registriert nicht nur die "historische" Wahrheit, dass Napoleon auf St. Helena starb, sondern auch die "literarische" Wahrheit, dass Julia in Verona starb. d) Eine solche semantische Enzyklopädie wird nie vollendet und existiert nur als regulative Idee; nur auf der Grundlage einer solchen regulativen Idee kann man einen gegebenen Teil der gesellschaftlichen Enzyklopädie auch wirklich isolieren, soweit es sinnvoll erscheint, um bestimmte Teile tatsächlicher Diskurse (und Texte) zu interpretieren. e) Ein solcher Begriff von Enzyklopädie leugnet nicht die Existenz strukturierten Wissens, er legt nur nahe, dass ein solches Wissen nicht als globales System erkannt und organisiert werden kann; er liefert nur "lokale" und vorübergehende Systeme des Wissens, denen von alternativen und gleichermaßen "lokalen" kulturellen Organisationen widersprochen werden kann; jeder Versuch, diese lokalen Organisationen als einzigartig und "global" zu erkennen - indem ihre Parteilichkeit ignoriert wird -, bringt ideologische Voreingenommenheit hervor." Ebd., S. 109.
  12. Georg Wieland: Gottes Schweigen und das Lachen der Menschen. In: Ecos Rosenroman. S. 97-122, S. 115.
  13. Ebd., S. 116.
  14. Ebd.
  15. Der Weg, den Eco selbst vorschlägt, ist ebenfalls ein dem Christentum in der überlieferten Form gegenüber kritischer. Denn es hieße Umberto Eco falsch einzuschätzen, ginge es im Roman nicht auch um aktuelle religiöse Fragen. (Vgl. auch Martini/Eco: Woran glaubt, wer nicht glaubt? Wien 1998.) Georg Wieland verweist in seiner Analyse des Romans auf entsprechende Überlegungen Heinz Robert Schlettes: Er "begreift die Erzählung als eine 'verschlüsselte Botschaft', die das unwiederbringliche Ende einer vom Christentum und seiner Wirklichkeitsauffassung geprägten Welt verkündet und auf eine Zukunft skeptisch-mystischer Prägung verweist, sieht also den Sinn des Buches nicht primär in der Abbildung einer farbenprächtigen, aber überwundenen Vergangenheit, sondern vor allem in der Eröffnung einer Perspektive mit 'religiös-humanistischem Verheißungspotential'. In dieser Deutung erscheint die Geschichte aus dem Mittelalter als das Medium der Verheißung einer besseren Welt, deren Konturen zwar erst im Umriss zu erkennen sind, von der man aber doch schon sagen kann, wer in ihr keinen Platz mehr hat: 'die Gestalt des ererbten Christentums' und jeder Anspruch einer affirmativen Erkenntnis Gottes. Die Wahrheit dieser Interpretation sehe ich vor allem darin, dass der Roman wirklich auf die Befreiung von den Traumata einer erschreckenden Kindheit hin gelesen werden kann und von daher einen 'Sinn' im Ganzen erhält. Nicht anzuschließen vermag ich mich dem Gedanken einer religiösen Kontinuität, die nur durch den Wandel von einer naiv affirmativen zu einer negativen Theologie variiert wird. Die aus der Erzählung erhebbaren Umrisse einer besseren Zukunft lassen keinen Raum für Gott." Georg Wieland: "Gottes Schweigen und das Lachen der Menschen", S. 98.
  16. Zur Möglichkeit, ohne Fanatismus und Dogmatismus an der Wahrheit Gottes und der Wahrheitsfähigkeit des Menschen festzuhalten, vgl. Georg Wieland: "Gottes Schweigen und das Lachen der Menschen", S. 121.
  17. Umberto Eco: Nachschrift zum 'Namen der Rose'. München 1986, S. 63ff. Das Kapitel trägt die Überschrift "Die Metaphysik des Kriminalromans".
  18. Peter Biehl: Symbole geben zu lernen: Einführung in die Symboldidaktik anhand der Symbole Haus, Hand und Weg. Neukirchen-Vluyn 1989, S. 111. Vgl. dort auch das sehr anschauliche Bild aus einer 9. Realschulklasse, das deutlich nach dem Konzept der Haupt- und Nebenwege aufgebaut ist.
  19. Umberto Eco: Nachschrift zum 'Namen der Rose'. S. 64f.
  20. Zum Verhältnis von Labyrinth, Wahrheit und Ariadnefaden vgl. Umberto Eco, Die Enzyklopädie als Labyrinth
  21. Ickert / Schick, Das Geheimnis der Rose entschlüsselt. Zu Umberto Ecos Weltbestseller 'Der Name der Rose'. München 2/1986. Cerstin Urban, Erläuterungen zu Umberto Eco: Der Name der Rose, Hollfeld 2/2000.
  22. Zugleich wurde auf die naheliegende Verknüpfung mit Johannes 14, 6 verzichtet. Das geschieht nicht nur, weil es dazu bereits verschiedene Erarbeitungen gibt, sondern auch, weil dieser Bezug häufig zu Reduktionen im Sinne vorgeblicher Eindeutigkeit missbraucht wird.

© Andreas Mertin