2002
Auf der documenta11
Kunstkommentare
von Andreas Mertin
aus: Magazin für Theologie und Ästhetik, Ausgabe 18, documenta11
Georges Adéagbo Chantal Akerman Asymptote Architecture The Atlas Group (Walid Ra'ad) Ecke Bonk Stanley Brouwn Luis Camnitzer Hanne Darboven William Eggleston Feng Mengbo Leon Golub Le Groupe Amos Candida Höfer Ben Kinmont Ivan Kozaric Andreja Kuluncic Cildo Meireles Shirin Neshat Andreas Siekmann David Small Pascale Marthine Tayou Tsunamii.net Jeff Wall Nari Ward
Adéagbo, Georges
Der Mensch als Sammler, der im Gesammelten seine Identität reflektiert, seiner Biografie und der Geschichte nachspürt, ihre fragmentarische Verbindung zur eigenen Identität herausarbeitet - das könnte als Kurzcharakterisierung über der Arbeit von Georges Adéagbo stehen. In der Binding-Brauerei eröffnet sich ein Raum, der gefüllt ist mit Dokumenten der verschiedensten Art: Bildern, Texten, Büchern, Objekten.
Ausgehend vom Zentrum des Raumes wird eine Fülle von Spuren gelegt, denn beim Rundgang merkt man, dass hier nicht nur einfach "gesammelt" wurde, sondern dass Adéagbo seine Installation sorgfältig auf Ort und Anlass bezogen hat. Der Besucher ist so herausgefordert, den Referenzen nachzugehen und (s)eine mögliche Erzählung zu (re)konstruieren. So findet sich z.B. immer wieder die Referenz auf Joseph Beuys und James Lee Byars, aber auch Hinweise auf die Religion und das Christentum.
Ob die Arbeit wirklich quer zum "gängigen Begriff der zeitgenössischen Kunst" liegt, wie der Kurzführer zur d11 anmerkt, kann doch bezweifelt werden. Zwar erscheint der Raum gegenüber manchen formstrengen Arbeiten der europäischen Moderne zunächst eher ungewöhnlich, weist dann in seinem intertextuellen System aber doch eine große Nähe zu ähnlich enzyklopädischen europäischen Verwandten auf.
Zur Inszenierung sei nur angemerkt, dass die notwendige Zeit für die Erschließung des Kunstwerks dadurch eingeschränkt ist, dass nur eine kleine Anzahl von Besuchern sich im Raum aufhalten darf. Der so entstehende Druck durch die anderen wartenden Besucher, den Raum schnellstmöglichst wieder zu verlassen, verhindert, sich auf die Kompilation wirklich einzulassen.
Akerman, Chantal
Wer den Raum mit der Arbeit von Chantal Akerman im Fridericianum betritt, wird durch eine Miniatur-Labyrinth aus Räumen, Leinwänden und Fernseh-Bildschirmen geführt. Die Arbeit reflektiert die Grenze zwischen den USA und Mexiko, die tagtäglich Schauplatz von zahlreichen Flüchtlingsdramen ist. Mit allen möglichen technischen Mitteln versuchen Grenzer, Menschen am Überqueren dieser Grenze zu hindern. Auf den Bildschirmen und Leinwänden, die Akerman einsetzt, sieht man die Grenzlinie, sprechen Menschen über ihr Schicksal, verfolgt man den Bilderstrom der Kontrollmonitore.
Nachdenken kann man anhand dieser Installation über den Satz von Vilém Flusser, den dieser in seinem Buch "Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus geschrieben hat, und der die Irritation über das Gesehene offen hält: "Daher ist vielleicht das Folgende zu sagen: Die Vertriebenen, so wie sie gelegentlich auf unseren Fernsehschirmen ersichtlich sind, führen uns vor Augen, was zu sein wir eigentlich trachten müssten."
Die Installation auf der d11 selbst hat sich Chantal Akerman wohl als eine Art fingierten Kontrollraum eines Grenzpostens und als Labyrinth zugleich vorgestellt. Dieser Effekt wird aber nur zur Hälfte erzeugt, denn die Aufmerksamkeit wird konsequent vom Inhalt der Arbeit auf das Gedränge vor den Bildschirmen verlagert. Ab einer bestimmten Besuchermenge, so lässt sich vor Ort beobachten, gerät jeder Besucher selbst in eine heillose Verwirrung über den Ort, an dem er sich gerade befindet, die Wege vor und zurück scheinen versperrt, Eingang und Ausgang aus dem Monitorlabyrinth werden problematisch. Eine Konzentration auf das Einzelbild ist dabei kaum möglich, was man mitnimmt, ist eine Art Gesamteindruck simultan ablaufender Bilderfluchten.
Asymptote Architecture
Es ist inzwischen schon gängig geworden, den Gang ins Kino mit Platons Höhlengleichnis in Verbindung zu bringen. Aber auch virtuelle Welten und elektronische Projektionen erzeugen dieses Gefühl der nicht ganz echten Schattenwelten. In der Binding-Brauerei hat Asymptote Architektur eine platonische Höhle aus Datenströmen und Spiegelungen errichtet, die einen fragen lässt, was noch real und was virtuell ist.
"Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. - Ich sehe, sagte er. - Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. - Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene. - Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? - Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten! - Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses? - Was sonst? - Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? - Notwendig. - Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? - Nein, beim Zeus, sagte er. - Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? - Ganz unmöglich. -" [Platon, Höhlengleichnis]
Atlas Group, The (Walid Ra'ad): Geheimnisse auf offener See
Rätselhafte Bilder, die konkrete Ereignisse und Geschichte(n) andeuten, präsentiert die Atlas Group im Kulturbahnhof auf der d11. Man sieht mehrere großformatige blau-monochrome Bilder mit einem kleinen angedeuteten SW-Bild in der rechten unteren Ecke. Schaut man sich das kleine Bild unten jeweils genauer an, meint man, ein Gruppenporträt entdecken zu können. Zwischen monochromem Bild und angedeutetem Foto scheint zunächst kein Zusammenhang zu bestehen. Das wird anders, wenn man den Text an der Wand liest:
"Geheimnisse auf offener See besteht aus 29 Fotografien, die man 1992 während der Abrissarbeiten in dem im Krieg zerstörten Einkaufsviertel von Beirut unter den Trümmern entdeckte. Die Abzüge zeigten verschiedene Abstufungen von Blau und maßen jeweils 112 x 175 cm. Sie wurden 1994 der Atlas Group zur Aufbewahrung und Untersuchung anvertraut. 1996 schickte die Atlas Group sechs dieser Fotografien an Labors in Frankreich, um dort eine technische Analyse vornehmen zu lassen. Erstaunlicherweise entdeckten die Labors auf den Blaupausen kleine Schwarzweiß-Bilder, die sie sichtbar machen konnten. Sie zeigen Gruppenporträts von Männern und Frauen. Der Atlas Group gelang es, sämtliche auf den kleinen Schwarzweiß-Bildern abgebildeten Personen zu identifizieren und es stellte sich heraus, dass sie alle zwischen 1975 und 1984 ertrunken oder auf andere Weise ums Leben gekommen und tot im Mittelmeer aufgefunden worden waren."
Die von Walid Ra'ad gegründete Stiftung "Atlas Group" zur Erforschung libanesischer Gegenwartsgeschichte jongliert mit Fiktionalität und Realität, deren jeweilige Schrecken ununterscheidbar werden. Der Kurzführer durch die documenta11 verweist in diesem Kontext zu Recht auf die imaginären Enzyklopädien eines Jorge Luis Borges. Populärkulturell könnte man an diverse Fernsehserien denken, die sich der scheinbaren Aufklärung mysteriöser Ereignisse gewidmet haben. Das Faszinierende der Arbeiten der Atlas Group ist es, dass Fiktionalität eine Gedächtnisspur zu legen vermag, die auch noch das reale Geschehen im Libanon inkorporiert.
Bonk, Ecke
"Deutsches Wörterbuch, Abkürzung DWB, von J. und W.Grimm begonnene Sammlung aller neuhochdeutschen Wörter. Das 16 Bände umfassende Werk, dessen erster Band 1854 erschien (Beginn der Arbeiten war 1838), wurde 1960 mit 32 Bänden abgeschlossen" - so skizziert der Brockhaus, was der Besucher im Fridericianum mit eigenen Augen an drei Wänden studieren kann. Langsam gleiten dort einzelne Stichworte mit ihren schier unendlichen Belegen aus dem Grimmschen Wörterbuch die Wände hinab und erschließen so ein eigenes Universum der Sprache und der Literatur. Ob man nun zufällig zum Stichwort "Ecken" hinzustößt oder zu einem der zahlreichen anderen Worte - das so beschriebene Diskursuniversum bleibt unüberschaubar und ist nur bedingt im Rahmen der 100 Tage Documenta11 zu erschließen.
Ecke Bonk, der sich selbst als "Typosoph" bezeichnet [er ist auf für den documenta11 Schriftzug verantwortlich], macht mit seiner durchaus poetischen Installation - wie schon das Grimmsche Wörterbuch selbst - auf die Konstitution von Sprache, ihrer Interdependenz mit Kultur und Literatur aufmerksam. Aber es fragt sich natürlich, was denn - außer der gelungenen Visualisierung - der künstlerische Beitrag des Werkes ist. Für die Mehrzahl der Betrachter dürfte sich der Erkenntniswert auf die Leistung der Gebrüder Grimm und ihrer akademischen Nachfolger beschränken - Ecke Bonk leistet nicht mehr und nicht weniger als einen nachdrücklichen optischen Fingerzeig. Und ob die "Dominanz des sprachideologisch ausgerichteten Grimmschen Wörterbuchs", von der Hermann Glaser einmal sprach, durch die Inszenierung von Bonk tatsächlich transparent und gebrochen oder nicht vielmehr sogar mythologisch festgeschrieben wird, ist eine offene Frage.
Brouwn, Stanley
Ausgerechnet der vielleicht kongenialste Beitrag zur documenta11 ist zugleich der für den Besucher am schwersten zu entdeckende. Er ist kaum, vielleicht sogar gar nicht wahrzunehmen. Und dennoch dürfte ein nicht so kleiner Teil der documenta-Besucher immer - per definitionem - irgendwie in seiner Nähe sein, aber dennoch ebenso konsequent daran vorbeilaufen.
Der punctum saliens von Stanley Brouwns Beitrag zur aktuellen documenta liegt in seiner klaren (Nicht)Verortbarkeit. Simultan von vielen gelesen, ändert sich die Relation mit jeder Lektüre, wird das so geknüpfte Netz als ästhetisches System mit jedem die documenta11 sich auch lesend erschließenden Besucher komplexer.
Einerseits erweist sich Stanley Brouwns Arbeit so geradezu als ubiquistische Lebensform, andererseits bleibt die Realisation seines Werkes an die Wahrnehmung der Besucher gebunden. In der so stattfindenden ästhetischen Kommunikation erfahren die Rezipienten - nach einem Satz von S. J. Schmidt - Wirklichkeit als eine von ihnen abhängige Verfasstheit, als revidierbare und beeinflussbare Größe, deren Geschichtlichkeit die Veränderbarkeit von Wirklichkeit überhaupt zeigt; sie erfahren die Bedingtheit jedes Sinns und jeder Bedeutung.
Camnitzer, Luis
Rätselhaft, formal anspruchsvoll und engagiert zugleich ist Luis Camnitzers Arbeit im Kulturbahnhof, so dass man sich fast fragt, wie sie denn gerade auf der documenta11 Platz finden konnte. (Natürlich deshalb, weil es sich ausweislich des Kurzführers um Konzeptkunst handelt.)
Zunächst stößt der Besucher auf eine Gruppe von 35 Fotogravuren aus den Jahren 1983/84, die mit handschriftlichen Kommentartiteln versehen sind. Jede einzelne setzt sich im Kopf des Betrachters zu einer eigenständigen schrecklichen Erzählung oder Handlung zusammen.
Den Bildern gegenüber befindet sich eine unscheinbare Tür, durch die man in ein Kabinett des Schreckens tritt. Dabei ist der Schrecken nicht sensualistischer Art, also mit groben Mitteln gezeichnet, vielmehr ist er geradezu subtil und sparsam angedeutet.
In einem dunklen Raum befindet sich ein Bettgestell über einem schwarzen Grund, zwei Lampen, zwei mit Büchern vermauerte Fenster, eine weitere verschlossene Tür und ein Raumdurchgang. Dieser führt in einen hell erleuchteten weiteren Raum, in dem ein altertümlicher Ventilator geräuschvoll bläst, ein olivgrünes Handtuch über der Leine hängt (und eigentümlicherweise vom Gebläse nicht bewegt wird) und eine angedeutete Tür eine himmlische Wolkenperspektive bietet. So wie es Bilder gibt, deren Idylle einen wahren Horror erzeugen, gibt es Schrecken, der nahezu idyllisch anmutet. In dieser Ambiguität ereignet sich die Installation von Luis Camnitzer.
Darboven, Hanne
"In der Reaktion auf die Dominanz der Pop Art bildet sich in den ausgehenden sechziger Jahren neben Minimal Art und Land Art die konzeptuelle Kunst heraus, die weniger bildliche Anschaulichkeit sein will als vielmehr Vergegenwärtigung methodischer Übung im Anschluss an philosophische, technologische und soziokulturelle Erkenntnisse und die das puristische Erscheinungsbild der bildenden Kunst in den siebziger Jahren prägt." (Karin Thomas) Zu den herausragenden Vertretern der konzeptuellen Kunst gehört neben Joseph Kosuth auch On Kawara und Hanne Darboven. Letztere soll, so kolportiert die Kunstzeitschrift ART, von Okwui Enwezor zur "Königin der Documenta11" gekrönt worden sein. Jedenfalls krönen ihre Arbeiten "Wunschkonzert" (1984), Sextett für Streicher, opus 44" (1998/99) und "Kontrabassolo, opus 45" (1998-2000) die berühmte Halbrunde des Fridericianums über alle drei Etagen. "Hanne Darboven benutzt als künstlerisches Mittel vor allem das Schreiben, Abschreiben, Kopieren, Abzählen, Aufrechnen. Tag für Tag legt sie in einer Art Logbuch ihre Aufzeichnungen nieder... eine Reflexion über die Grenzen unserer Vorstellungskraft in Bezug auf die täglich mehr oder weniger gleichgültig von uns registrierten Informationen und Nachrichten." (Marie Luise Syring) Ob man Hanne Darboven allerdings mit dieser überbordenden Präsentation einen Gefallen getan hat, kann bezweifelt werden. Weniger wäre hier sicher mehr gewesen.
Eggleston, William
Der erste Eindruck: der der Unzeitgemäßheit. Was sollen diese Fotografien auf einer Ausstellung von zeitgenössischer Kunst, welche Perspektive bieten sie für die Entwicklung der Kunstform "Fotografie"?
Dann der Blick in den Kurzführer, der Auskunft gibt, dass Eggleston "ein Pionier der Farbfotografie der ausgehenden sechziger und frühen siebziger Jahre" ist. Das ist eine ganze Generation her. Die documenta11 zeigt sich hier wieder einmal als Dokumentar-Ausstellung, in der das einzelne Werk hinter dem dokumentarischen Charakter der Ausstellung zurücktritt.
"Seitdem die Fotografie erfunden wurde, ist es möglich geworden, nicht bloß im Medium der Wörter, sondern auch der Fotografien zu philosophieren. Der Grund dafür ist, dass die Geste des Fotografierens eine Geste des Sehens, also dessen ist, was die antiken Denker 'theoria' nannten, und dass daraus ein Bild hervorgeht, das von diesen Denkern 'idea' genannt wurde." (Vilém Flusser, Die Geste des Fotografierens) Wer einen Fotografen bei der Arbeit beobachtet, wer mit anderen Worten seine Geste reflektiert, wird feststellen, dass eine komplexe Operation vollzieht. Diese kann man mit Vilém Flusser in drei Aspekte untergliedern: "Der erste Aspekt ist die Suche nach einem Standort, nach einer Position, von der aus die Situation zu betrachten ist. Einen zweiten Aspekt bildet die Manipulation der Situation, um sie dem gewählten Standort anzupassen. Der dritte Aspekt betrifft die kritische Distanz, die den Erfolg oder das Scheitern dieser Anpassung zu sehen gestattet."
Unter dieser Perspektive ist Eggleston dann wieder höchst interessant.
Feng Mengbo, Q4U
"Zutritt nur für Erwachsene" steht auf einem Schild vor dem Raum mit der Arbeit von Feng Mengbo. Das ist insofern von einer gewissen Ironie, als dass seine Arbeit neben der Skaterbahn von Simparch zu den wenigen explizit sich an ein jugendliches Publikum wendenden gehört. Wer den Raum betritt, stößt auf drei großformatige aneinanderstoßende Bildprojektionen, die jeweils Teil eines der bei Jugendlichen so beliebten Computerspiele sind. Im vorliegenden Fall handelt es sich um das indizierte Spiel Quake III Arena. Auf der Internetseite der documenta findet der Besucher folgende ergänzende Informationen:
- Q4U an online proiect; a pure server is running now at Kassel, Germany durring documenta 11 (June 8 - Seplember 15, 2002) anybody is welcome to connect to this server, to play online or to be a spectator
- server ip will be available here at June 5, 2002
- the server type is FFA (Free For All), maps queue enabled, rotate automatic, including all the classic q3dm maps, except q3tourney and Pro.
- the online players limited to 32, including: 3 players in the exhibition space of documenta 11, Kassel; 1 private reserved for the artist; 6 bots always enabled; so there are 22 online players can connect to the server.
Um von zu Hause aus wirklich mitzuspielen, muss der Kunstinteressierte freilich zwei Voraussetzungen erfüllen: Er muss das Spiel "Quake II Arena" in der neuesten Version auf dem Computer haben und er muss sich das Modell Q4U herunterladen. Und natürlich dürfen nicht mehr als 22 Interessenten für das Mitspielen vorhanden sein.
Insofern Kunst immer eine Grenzgängerin ist, dürfte die Arbeit von Feng Mengbo höchst interessante Reaktionen auslösen. Ob es Feng Mengbo allerdings wirklich gelingt, wie der Kurzführer zur documenta meint, "männliche Subjektivität durch simulierte Gewalt und Fantasiespiele zu konzeptualisieren" und damit das "Potenzial zur veränderten Wahrnehmung intersubjektiver Beziehungen" bietet, darf doch stark bezweifelt werden. Wenn Medienpädagogik so einfach wäre ... Vermutlich musste aber nur wieder einmal das Wort "Konzept", das auf dieser documenta ein Leitwort darstellt, im Begleittext untergebracht werden.
Golub, Leon
Als "Meister des geborgten Leids" könnte man in aller Ambivalenz Leon Golub bezeichnen. In den frühen 70er Jahren war es der Vietnamkrieg, später weitere Menschenrechtsverletzungen der USA in anderen Ländern wie etwa El Salvador.
Auf der documenta 8 im Jahr 1987 unter Manfred Schneckenburger wandte sich Golub dem Geschehen in Südafrika zu, der Apartheid und ihren Folgen. Auf drei großformatigen Werken ging es um Gewalt und Rassismus, um Folter und Unterdrückung. Im Unterschied zu anderen engagierten Künstlern gehört zu Golub eine überzeugende Verknüpfung formaler und Inhaltlicher Momente. Golub trägt Acrylfarben auf den Leinwand auf und schabt sie anschließend von der Leinwand wieder ab. So entsteht ein Bildeindruck, der in Korrespondenz zum Bildinhalt steht.
Auf der documenta11 im Jahr 2002 unter Okwui Enwezor sind es wieder großformatige Arbeiten in der bekannten Intensität, aber auch mit einer gewissermaßen erschöpften Geste. 38 Jahre nach der documenta 3, auf der Golub zum ersten Mal gezeigt wurde, 15 Jahre nach der documenta 8, auf der er ein zweites Mal zu sehen war, sagt uns Golub eindringlich: noch immer gibt es Leid auf der Welt, noch immer bedrohen Soldaten mit ihren Waffen Zivilisten, noch immer gilt es, zu widersprechen, zu intervenieren, zu helfen. Stefan Lüddemann hat in der Osnabrücker Zeitung über Golubs aktuelle documenta-Arbeiten geschrieben: "Nirgends Harmonie, keine Versöhnung - dieser Maler jenseits falscher Altersweisheit zeigt ein bitteres Diesseits. Der Mensch ist für Golub ein ewig Leidender, dem keine Erlösung zuteil wird. Also malt er auf zweimeterdreissig mal viermeterdreissig keinen Christus am Kreuz, sondern den gefesselten Prometheus und den Adler, der ihm jeden Tag die Leber zerfleischt. Das Gesicht im Schmerz verzerrt, die Haut wie verbrannt: Bei Golub hat die Qual kein Ende." Es gehört zur künstlerischen Ambivalenz der Arbeiten Golubs, dass sie eigentlich als Tafelbilder im White Cube inszeniert werden müssen, um ihre ganze Eindringlichkeit zu entfalten - hierin sind sie den Geschichten der griechischen Mythologie nicht unähnlich, die erst im Theater ihre besondere Intensität gewinnen. Ob Golubs Arbeiten heute noch dieselbe provozierende Kraft entfalten, wie vor 15 Jahren? Auch die Geste des "geborgten Leids" unterliegt der Gewöhnung.
Le Groupe Amos
Konkrete Aufklärungsarbeit vor Ort über Frauenschicksale, Gewalt und Sexualität leistet die Gruppe Amos und die documenta bietet einen Reflex dieser Arbeit. 1989 in Kinshasa, Demokratische Republik Kongo, gegründet, arbeitet die Gruppe mit Videos, Theaterstücken, Radiosendungen und Publikationen über soziale Notlagen. In der documenta-Halle kann der Besucher einige der Videodokumentationen sehen oder sich Radiosendungen anhören.
Das bleibt leider sehr unanschaulich und abstrakt und man fragt sich, warum ausgerechnet an dieser Stelle von einer Videoprojektion abgesehen wurde. So verkommt der kleine Raum am Rande der Halle leider zu einem kleinen, spröden Info-Center.
Postskript: Wer im documenta-Kurzführer bei der Gruppe Amos nachschlägt, kann etwas von den Fallen der Übersetzungsarbeit kennen lernen. Der von Thierry N'Landu, einem Mitglied der Gruppe, geschriebene Originatext lautet: "Le Groupe Amos took its name from the Old Testament prophet Amos, who is known to have struggled for social justice." Die deutsche Übersetzung macht daraus kurzerhand: "Le Groupe Amos nennt sich nach dem alttestamentarischen Propheten Amos, der der Legende nach für die soziale Gerechtigkeit kämpfte." Da hat jemand schnell mal seine ganzen Vorurteile gegenüber der Religion abgeladen. "Alttestamentarisch" - und nicht wie es korrekt heißt: alttestamentlich -, das klingt so schön veraltet und überholt und ist zudem fein antijudaistisch; "der Legende nach" - und nicht "bekannt für seinen Kampf für soziale Gerechtigkeit" -, das macht alles fein mythisch und kaum noch wahr. Und natürlich übernimmt die schreibende Zunft derartigen Unsinn ungeprüft für ihre eigene Berichterstattung: nachzulesen etwa in Thomas Wulffens Kommentar zur Gruppe in der Zeitschrift "Kunstforum". Und weil die im Text sich findende Formulierung "unterschiedlicher christlicher Glaubensrichtungen" Wulffen nicht schmeckt, macht er schnell mal "unterschiedlichen Glaubens" der Gruppenmitglieder daraus. Das klingt ja auch viel offener. Dazu passt, dass in der Berichterstattung der TAZ die Kommentatorin es gar nicht fassen konnte, dass eine christliche Gruppe über Frauenrechte und Sexualität aufklärt. O sancta simplicitas!
Höfer, Candida
Als enttäuschend empfinde ich die Arbeiten von Candida Höfer in der Binding-Brauerei auf der documenta11 - und zwar eigentlich nicht die Arbeiten selbst, sondern die Prätention, mit der sie präsentiert werden. Zu sehen sind verschiedene Fotografien verschiedener Ausgaben der von Auguste Rodin geschaffenen Bronzeskulptur "Die Bürger von Calais": "Höfer fotografierte die insgesamt zwölf Abgüsse an ihren Aufstellungsorten in Museen oder auf öffentlichen Plätzen weltweit. Mit der Dokumentation dieses Kunstwerks in seinen unterschiedlichen Umgebungen thematisiert Höfer Umgang und Rezeption einer Skulptur für den öffentlichen Raum. Dabei wird deutlich, welchen Einfluss die spezifischen Orte auf die Maßstäblichkeit und Wirkung der Skulpturengruppe besitzen" (Kurzführer documenta11). Und zur Arbeitsweise schreibt derselbe Kurzführer: "Alle Motive werden gleich behandelt: Die Künstlerin fotografiert in den herrschenden Lichtverhältnissen aus Augenhöhe eine vorgefundene Situation, ohne die Orte zu verändern oder Dinge zu arrangieren. Der jeweils gewählte Blickwinkel ist unspezifisch. Oftmals erschließt sich der abgebildete Raumausschnitt mit seinen Details nur langsam und erfordert ein konzentriertes und intensives Sehen. Die Raumfotografien von Höfer sind fragmentarisch und dienen nicht als Dokumente für eine mögliche Identifikation oder Rekonstruktion. Die Systematik der Fotografien wird erst als Teil einer Serie und im Vergleich mit den anderen Raumbildern deutlich. Der Zusammenhang der Bildreihen ergibt sich aus dem abgebildeten normativen Einrichtungsstil, der die Funktion der Räume spiegelt." Nun zeigt ein Blick auf die "Geste des Fotografierens", dass genau das nicht möglicht ist: zu fotografieren, ohne zu inszenieren und zu manipulieren. "Der erste Aspekt ist die Suche nach einem Standort, nach einer Position, von der aus die Situation zu betrachten ist. Einen zweiten Aspekt bildet die Manipulation der Situation, um sie dem gewählten Standort anzupassen. Der dritte Aspekt betrifft die kritische Distanz, die den Erfolg oder das Scheitern dieser Anpassung zu sehen gestattet." (Vilém Flusser) Wie inszeniert die Arbeiten von Candida Höfer sind, kann man etwa an nicht künstlerischen Aufnahmen wahrnehmen. Dazu kann man ihre Arbeiten zum Beispiel mit folgenden Fotos aus dem Internet vergleichen.
Kinmont, Ben, Moveable type no documenta
Was ist Kunst? Wie verhalten sich Kunst und Leben? Ist das Leben eine soziale Plastik? Und was für Ansichten vertreten die Bürger Kassels bei diesen Fragen? Während Enwezor mit Ausnahme des Kunstwerks von Thomas Hirschhorn die Stadt Kassel selbst ja eher stiefväterlich behandelt hat, interessiert sich Ben Kinmont im Rahmen seiner "Moveable type no documenta" durchaus für die Blicke der Kasseler auf die Kunst und das Leben. Im Vorfeld der documenta hat er eine Reihe von Gesprächen geführt, und seine Gesprächspartner danach gefragt, ob sie ihr Leben, ihre berufliche und private Tätigkeit als Kunstform betrachten könnten. Die Ergebnisse sind jenseits aller Oberflächlichkeit, hoch interessant und nachdenkenswert. Wer die Statements nachlesen will, kann dies über eine PDF-Datei, die Kinmot auf der ihm gewidmeten Seite der documenta-Website zur Verfügung stellt.
Kozaric, Ivan
Den Kommentar im documenta-Kurzführer zu dieser Koje in der Binding-Brauerei muss man schon mehrfach lesen, um ihn dann doch nur als Form der Komik interpretieren zu können:
"Schon in den Anfängen seiner künstlerischen Arbeit hinterfragt Kozaric die Traditionen der modernen Plastik aktiv und unvoreingenommen. Mit den Fluxus-Künstlern teilt er eine anti-transzendentale, zutiefst kritische Einstellung, die seinem Werk ungewöhnliche Dynamik und Innovationsfähigkeit verleiht. Stets bestrebt, die Distanz zwischen Kunstobjekt und Publikum zu beseitigen und die sakralisierte 'hohe Kunst' zu entsublimieren, vertritt Kozaric fraglos eine der konsequentesten und radikalsten künstlerischen Positionen der Nachkriegsplastik."
Das ist nun wirklich das rasende Gefasel der Gegenaufklärung und in seiner Sinnlosigkeit entlarvend.
Tatsächlich erweist sich der Besuch der Koje als Variante der berüchtigten Kaffeefahrten, nur dass es diesmal keinen Bio-Bauernhof, sondern ein Künstleratelier zu bestaunen gibt. Verteilt über den Raum Objekte und Plastiken, Müll und Skizzen, Schrott und Notizen. Und wie bei der Kaffeefahrt ist alles nur simuliert und unecht und das Angebotene den Preis nicht wert, für den es verkauft wird. Wie sagte schon Napoleon: Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas!
Kuluncic, Andreja: Ausgleichende Gerechtigkeit
Unter dem Titel "Distributive Justice - Ausgleichende Gerechtigkeit" hat Andreja Kuluncic in der documenta-Halle ihr Internet-Projekt ausgestellt, das auch schon Thema eines documenta-Symposions war. Es gehört zu den wenigen Projekten, an denen man die über die documenta vor Ort hinaus teilhaben kann.
Wie der Titel der Arbeit schon erkennen lässt, geht es um die weltweite Gerechtigkeit, um Gerechtigkeitsvorstellungen und -theorien, um die Meinung, die der einzelne in diesen existenziellen Fragen hat.
Wer möchte, kann sich zunächst über die grundlegenden Theorien der Gerechtigkeit informieren (John Rawls, Ronald Dworkin, linker Libertinismus, Utilitarismus, strikter Egalitarismus, Pluralismus, rechter Libertinismus).
Deutlich sinnvoller ist es aber, vorher anhand eines kleinen Fragebogens das eigene distributive Modell zu beschreiben und zu entdecken. Wer sich daran beteiligt, wird zugleich Teil der Statistik der gesellschaftlichen Ansichten über die verschiedenen distributiven Modelle.
Über dem Kunstcharakter des Projekts lässt sich natürlich streiten, unbezweifelbar kommt es aber der Idee dieser documenta so nahe, wie kaum ein anderes Werk.
Wer mitmachen und mitspielen und so zugleich etwas über seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen lernen möchte, kann dies von hier aus tun.
Meireles, Cildo: Disappearing Element / Disappeared Element
Die vermutlich unfreiwillige Nähe dieser documenta zu einem evangelischen oder katholischen Kirchentag dokumentiert Cildo Meireles' Arbeit.
Wo immer man sich in der Nähe eines der Ausstellungsorte aufhält, trifft man auf einen der zahlreichen Menschen mit einem kleinen Eiswagen im Schlepptau. Meireles Beitrag zur d11 besteht "ganz einfach darin, Wasser-Speiseeis am Stiel zu produzieren und zu verkaufen. Die Idee ist, dass Leute mit bescheidenen Mitteln Eis herstellen und verkaufen. Die Verkäufer erhalten eine prozentuale Umsatzbeteiligung, und mit dem Rest werden die Maschinen bezahlt, die für die Eisherstellung, den Vertrieb und den Verkauf nötig sind."
Hingewiesen werden soll durch die Aktion auf die drohende Wasserverknappung auf der Erde, auf die zunehmende Kommerzialisierung von Überlebensmitteln, aber auch auf die Kommerzialisierung der Kunst. Das ist alles so naiv unreflektiert vorgetragen, dass es schon wieder seinen eigenen Reiz hat. Jedenfalls hat dieses "autonome Produktionssystem im kleinen Maßstab" gute Exportchancen. Neben den erwähnten Kirchentagen bietet es sich für Volksfeste, Parteitage und natürlich auch Techno-Partys als Modell subtiler Aufklärung an.
Neshat, Shirin
Sicher zu den beeindruckendsten künstlerischen Videoarbeiten auf dieser Documenta11 gehört die Arbeit von Shirin Neshat. Man muss sich allerdings schon die Zeit nehmen, eine Aufführung komplett anzuschauen, um dem subtilen metaphorischen Spiel von künstlerischen, religiösen und erotischen Andeutungen und den impliziten Erwartungsenttäuschungen folgen zu können.
Auf zwei gegenüberliegenden Leinwänden sieht man aus unterschiedlichen Perspektiven einerseits einen mit Mauern umgebenen Garten, in dem ein Baum wurzelt, vor dem eine Frau steht, die nach und nach mit ihm verschmilzt; andererseits sieht man die umgebende Landschaft, in der plötzlich eine Menge von Menschen auftaucht, die sich dem kleinen ummauerten Garten nähert und ihn schließlich erklettert/erstürmt.
Das Motiv des Hortus conclusus (Hohelied 4, 12), das in der Kunstgeschichte vor allem ein mariologisches ist, wird hier stärker in der Konnotation des Garten Edens zur Geltung gebracht. Die ganze Arbeit trägt einen stark mythologischen Zug.
Und doch vermag die Inszenierung nicht vollends zu überzeugen, so poetisch, faszinierend und narrativ sie auch ist. Zu viel verbleibt im konventionellen Erwartungshorizont, arbeitet auf die Sehkonventionen eines kulturell ambitionierten Publikums hin. Mehr Risse und Brüche, weniger Offensichtliches hätten der Arbeit gut getan.
Siekmann, Andreas
Ziemlich engagiert gibt sich Andreas Siekmann mit seiner Arbeit "Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung". Es handelt sich um eine Serie von 1996 bis 1999 entstandenen Zeichnungen, die sich damit auseinandersetzen, "wie sich die wirtschaftlichen Machtverhältnisse, die in den 90er Jahren eine neoliberale Reform und zugleich eine ideologische Konkurrenzlosigkeit erfuhren, auf den öffentlichen Raum auswirken." Dazu hat Siekmann eine verwinkelte Installation entwickelt, die einen ganzen Raum im Kulturbahnhof füllt: "Die Zeichnungen sind in einem Raster angeordnet, dessen Schnittpunkte sich - wie beim Kreuzworträtsel - aus den jeweiligen Argumentationsfolgen ergeben. Eine Art 'Brodway Boogie Woogie', der ... begehbar wird und in Details auf Gegebenheiten des Lebens in der Stadt zeigt". Der ausgelegte, sich über zwei engbedruckte Seiten erstreckende wortreiche Begleittext lässt aber auch fragen, ob der angezielte Zweck - über die neoliberale Wirtschaft aufzuklären - von der künstlerischen Arbeit selbst überhaupt erreicht wird, und daher einer verbalen Erläuterung bedarf. Dann wäre das Kunstwerk als soziale Intervention gescheitert. Dafür spricht manches. Neben seiner alltagsästhetischen Gefälligkeit (die bis zur Imitation der Überraschungs-Eier geht) ist es besonders die sozialpolitische Hybris, die meint, im Zeichnen der Mythologie des Neoliberalismus diesen widerlegen zu können.
Dabei ist, wie der Brockhaus zum Thema "Kulturelle Globalisierung" schreibt, die künstlerische Tätigkeit selbst ein Beitrag gegen die ökonomische Globalisierung der Welt: "Künstler, Literaten, Musiker und Poeten ... sind es zumeist, die nicht dabei mitspielen, den Menschen auf bloße Konsumhaltung oder lediglich optische Wahrnehmung zu beschränken, und die Ganzheiten entwickeln, die alle Sinne des Körpers beanspruchen. Multiperspektivität und Mannigfaltigkeit, die schon Marcel Proust in der Anfangszeit der massenhaften Technisierung forderte, sind Sache der Kulturschaffenden. Weltentwürfe entstehen als Alternativen zum Modell 'Globalisierung'. Daran beteiligen sich viele mit den unterschiedlichsten Mitteln ... Indem Künstler hierfür sorgen, sichern sie dem Individuum die Freiheit, ein Leben jenseits einer Existenz als bloßer Konsument weltweit vernetzter Wirtschaftsstrategien zu führen."
Small, David
In dem kleinen unteren Raum im Zwehrenturm des Fridericianums ist die interaktive Arbeit von David Small platziert. Der Raum ist dunkel und nur an seinem Kopfende leuchtet hell ein Buch auf einem Pult. An zwei Seiten ist das Pult von Bewegungssensoren umgeben, die jede Handlung am und über dem Buch kontrollieren. Der Besucher kann nun durch Bewegungen mit der Hand den Text des Buches lesbar machen, ihn verschieben, heranholen, verschwinden lassen. Je nachdem, wie er seine Hand bewegt, kann er so die jeweilige Seite des Buches variieren. Er kann aber auch eine Seite umschlagen und einen neuen Text hervorrufen. Die Seiten sind "leer" und werden von interaktiv gesteuerten Texten durch Projektion gefüllt.
Meines Erachtens ist aber das eigentliche "Ergebnis" der Arbeit von David Small die nahezu unendlich wiederholte Erzeugung einer Geste aus der Kunstgeschichte, vielleicht aber auch präziser: einer göttlichen Geste. Natürlich assoziiert man mit dieser Geste kunstgeschichtlich auch den Finger des Johannes auf den Isenheimer Altar, vor allem aber Michelangelos Darstellung des Finger Gottes bei der Erschaffung Adams. Es ist aber nicht die Geste des Schreibens, die hier wahrnehmbar wird, sondern die Geste des Suchens, wie das nachfolgende Zitat von Vilém Flusser deutlich macht:
"Sich von den Problemen abzuwenden, die die Menschen interessieren, um sich uninteressanten Gegenständen zu widmen, ist die 'humanistische' Geste. Denn die Gegenstände, die nicht interessant sind (bei denen der Mensch nicht 'engagiert' ist), bleiben 'auf Distanz'. Sie sind nur Objekte und der Mensch ist ihr Subjekt. Er steht an dem Ort der 'Transzendenz' gegenüber diesen vorhandenen Objekten. So kann er sie 'objektiv' erkennen. Im Verhältnis zu Dingen wie den Steinen und Sternen ist der Mensch wie ein Gott. Er ist es nicht im Verhältnis zu Dingen wie den Kathedralen, Krankheiten und Kriegen, denn in diese Dinge ist er verwickelt: sie interessieren. Die 'objektive' Erkenntnis ist das Ziel des Humanismus. In dieser Erkenntnis nimmt der Mensch den Platz Gottes ein. Das ist die 'humanistische' Geste und auch die Geste des bürgerlichen Forschers. Aber das ist nicht die ganze Geste. Die Bewegungen unbelebter Gegenstände sind mathematisierbar, und die interessanten Probleme sind das nicht im gleichen Maße. Mathematisieren: das ist ein altes Ideal, kein bürgerliches. An seinem Beginn ist es an die Musikalisierung geknüpft, an Zauber und Magie. Mathematisieren ist anfänglich die Geste des Spielens der Leier und der Flöte. Doch diese Geste hat sich gewandelt. Sie ist zur Geste des Ablesens geworden. Für den Islam ist die Natur ein von Gott geschriebenes Buch, und es ist in Zahlen geschrieben (arabisch 'Maqtub' meint 'Schrift' und 'Schicksal'). Der Mensch kann es dank Gott entschlüsseln. Hinter den verworrenen Zahlen der Natur wird er einfache Algorithmen finden. Der revolutionäre Bourgeois sucht die Bewegungen unbelebter Gegenstände genau in so einer 'islamischen' Form zu mathematisieren. Seine Geste des Suchens ist auch die Geste des Entzifferns. Und eben dank dieses Aspekts ist seine Forschung 'exakt' geworden. " (Vilém Flusser, Gesten)
Tayou, Pascale Marthine
Eine ebenso poetische wie überaus verstörende Arbeit zeigt der 1961 in Jaunde/Kamerun geborene Pascale Marthine Tayou auf der documenta11. Leider versteckt sich diese gelungene Arbeit am hintersten Ende der documenta-Halle, so dass nicht alle Besucher der documenta auf sie stoßen werden.
Wer aber schließlich den Weg gefunden hat, betritt eine geräuschvolle "Höhle" mit zahlreichen anscheinend willkürlich aufgestellten und zusammengewürfelten Monitoren, auf denen parallel unterschiedliche Bilder aus Jaunde zu sehen sind. Die Informationen der Bilder überlagern sich und erzeugen ein weißes Rauschen, die Konzentration aufs Einzelbild, den einzelnen Filmbeitrag ist nicht oder doch nur eingeschränkt möglich. Auf dem Fußboden finden sich skizzenartige Hinweise für die Platzierung der Monitore. Von der Decke hängen lauter Kopfhörer herab, die Radio-Programme aus aller Welt übertragen.
Durch eine kleine Seitentür betritt man ein Miniaturhaus aus Holz, in dem schon wieder ein Fernseher plärrt. Während meines Besuches war es die Live-Übertragung von der Tour de France. Der Bildschirm ist allerdings so hoch platziert, dass man schon den Kopf stark zurücklehnen muss. Zudem ist der Raum der Hütte so klein, dass ein Aufenthalt eigentlich gar nicht möglich ist. Eine weitere Tür verspricht weitere Medienräume, führt dann allerdings nur vor eine platte Wand, die einen zur Umkehr zwingt.
Tsunamii.net, Alpha 3.4
Die Folgen, die das Internet und die damit einhergehende Virtualisierung des Lebens langfristig für unser Verständnis und unsere Wahrnehmung des eigenen Körpers haben, sind zur Zeit noch nicht absehbar. Jeder, der im Internet surft, kann jedoch die primären Wirkungen an sich selbst ablesen. Zeit und Raum treten in der Empfindung zurück, das eigene Ich (die Identität) lässt sich bequem hinter anonymisierten Kürzeln verbergen und virtuell nach den eigenen Vorstellungen modeln. Für eine gewisse Zeit kann man bestimmte Realitätserfahrungen unterbrechen und traditionelle Erfahrungen durch virtuelle anreichern. In der so genannten "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" von Perry Barlow heißt es, dies Welt des Internets "ist überall und nirgends; und sie ist nicht dort, wo Körper leben ... Es gibt im Cyberspace keine Materie".
Der Wunsch, derartige Überlegungen kritisch zu befragen, könnten der Anlass für die Arbeit von tsunamii.net gewesen sein. Sie entwickelten ein Konzept und ein Programm - den Welbwalker - das es notwendig macht, zum Ersurfen einer Seite sich physisch zum jeweiligen Serverstandort zu begeben. Um also die documenta virtuell unter www.documenta.de aufzusuchen, haben Sie sich in den ersten Wochen der d11 von der Binding-Brauerei zum Serverstandort in Kiel aufgemacht: "The only way to surf the net using webwalker 2.2 is to move one's physical body to the physical location of the computer in which the website is situated, i.e. to its web server. Hence, to surf to documenta.de, we have to move to the physical location of its web server ... tsunamii.net transformed a usual one-second click to surf a webpage to a 1-month click to surf a webpage." [Konzept] Zwischenzeitlich waren Aufnahmen ihrer Wanderung per Webcam zu verfolgen, jetzt aber nach erfolgreicher Beendigung, blickt der Besucher auf den Server in Kiel.
In der Binding-Brauerei sieht der Besucher vier LCD-Monitore, die die wechselnden IP-Nummern und den Marsch der Künstler dokumentieren.
Wall, Jeff
Jeff Wall ist einer von fünf Künstlern, die Enwezor von der documenta 8 übernommen hat. Seinerzeit hatte Wall die Arbeit "Der Geschichtenerzähler" gezeigt und erläutert: "Die Figur des Geschichtenerzählers ist ein Archaismus, eine jener Figuren, die in der heutigen Kultur - infolge von Veränderungen der literarischen Bildung durch die technologische Entwicklung - ihre Funktion verloren haben oder in die Randbezirke des modernen Lebens verbannt wurden. Dort überleben sie als Relikte der Einbildungskraft, als nostalgische 'Archetypen', als anthropologische Musterexemplare."
Walls Arbeit auf der documenta11 knüpft ziemlich gut an diese berühmt gewordene Arbeit an. Es ist einige der wenigen Einzelarbeiten, und damit das nicht gleich auffällt, ist sie ein wenig unglücklich in einen Raum mit Fotografien von David Goldblatt gezwängt. Das ist schade, denn in ihrer poetischen Komplexität hätte Walls Arbeit einen Raum verdient, wie Enwezor ihn Hanne Darboven und On Kawara hat zukommen lassen.
"Ich bin ein wirklicher Mensch, aus Fleisch und Knochen, aus Nerven und Flüssigkeit - und man könnte vielleicht sogar sagen, dass ich Verstand habe. Aber trotzdem bin ich unsichtbar - weil man mich einfach nicht sehen will. Wer sich mir nähert, sieht nur meine Umgebung, sich selbst oder die Produkte seiner Phantasie - ja, alles sieht er, alles, nur mich nicht." So lauten die einleitenden Worte des Romans "Der unsichtbare Mann" von Ralph Waldo Ellison, auf den sich Jeff Wall mit seiner Arbeit bezieht. Der Roman - eine Pflichtlektüre an amerikanischen Universitäten -, erweist sich zum Verstehen der Arbeit als unentbehrlich. Er erzählt die Geschichte eines jungen schwarzen Amerikaners, dessen Geschichte aus den Projektionen derer besteht, die ihn ansehen. Immerhin erläutert der Kurzführer zur d11, dass Walls Bild die Kellerwohnung, "den zentralen Rückzugsort des Protagonisten" zeigt, "in der dieser mit Hilfe von 1369 Glühlampen jene Helligkeit erzeugt, die ihm die Gewissheit über die eigene Existenz verleiht." Eine Arbeit, für die man sich Zeit nehmen sollte.
Ward, Nari
"Neues Leben in eine von dysfunktionalem Müll überschwemmte Welt zu bringen" sei das schwierige Kunststück, das Nari Ward mit seiner Arbeit auf der documenta11 versuche - behauptet zumindest der Kurzführer. Was der Besucher in der Binding-Brauerei sieht, ist eine Installation, die zunächst einmal - entgegen aller verkündigten Programmatik - ziemlich rätselhaft erscheint. Fundstücke, vor allem Räder in allen nur denkbaren Variationen liegen auf dem Boden verstreut. Das Rad ist eines der zentralen Zeichen der menschlichen Kulturgeschichte: "Vor rund fünftausend Jahren revolutionierte eine Erfindung die Welt, die sich bis heute zwar als erfolgreicher Dauerläufer erwiesen hat, doch zunehmend Probleme bereitet. Aus drei Holzscheiben haben damals Bewohner des alten Mesopotamien das erste Rad zusammengebaut. Seither erleichtert diese rundum gelungene Erfindung den Transport von Gütern und Menschen. Auch an der Wende zum dritten Jahrtausend basiert der moderne Verkehr nach wie vor auf dieser uralten Scheibe, die sich freilich immer schneller dreht. Dies gilt im wahrsten Sinn des Worts: Die Geschwindigkeiten, mit denen sich Menschen und Güter fortbewegen, nehmen kontinuierlich zu. Zugleich wachsen sowohl die zurückgelegten Entfernungen als auch die Zahl der Reisenden und der transportierten Produkte. Dass dabei die Probleme, die der Verkehr bereitet, nicht weniger werden, liegt nahe. Sie in den Griff zu bekommen, ist weltweit eine der zentralen Zukunftsaufgaben." [Brockhaus] Bei Ward steht im Zentrum der Installation, also inmitten der Räder, ein aus organischen Stoffen gebastelter netzartiger "Baum", der sich ab und an aufzurichten sucht und dann wieder einbricht. Die von den Rädern symbolisierte Mobilität ist eine scheinbare, eine begrenzte. Das Faszinierende an der menschlichen Mobilität ist nun, darauf verweist der Brockhaus ebenso, dass sie seit Jahrhunderten gleich geblieben ist, sofern man nicht die Bewegung, sondern die aufgewendete Zeit zugrunde legt: "egal ob man einen Dorfbewohner oder einen Großstadtmenschen betrachtet, ob man sich im 17. Jahrhundert oder am Ende des 20. Jahrhunderts umschaut, ob man den Bauern in Kamerun oder den Börsenmakler in Frankfurt am Main miteinander vergleicht: 20 bis 25 Minuten dauert ein solcher Weg im Durchschnitt. Dies bedeutet: Wir erreichen heute in der gleichen Zeit die gleiche Anzahl von Zielen wie früher. Unsere Mobilität blieb demnach weitgehend konstant." [Brockhaus] Das zeigt sich auf ironische Weise auch an und mit der Installation von Nari Ward.
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