Bohemian Rhapsody
Pathos in der populären Kultur
von Andreas Mertin
aus: Kunst und Kirche 2/2002
Wer unter dem Stichwort "Pathos" in den einschlägigen Lexika nachschlägt, wird in der Regel auf die Literatur, seltener schon auf die Bildende Kunst verwiesen. Populäre Kultur, traditionell nicht besonders häufig im Blickfeld der Lexika gelegen, taucht im Kontext des Stichwortes so gut wie gar nicht auf. Im aktuellen Brockhaus wird der Leser jedoch z.B. unter dem Stichwort Schlager fündig. Dort heißt es: "Unter den Interpreten war es vor allem Zarah Leander (1907-1981), mit deren Namen sich der Schlager im Deutschland der Dreißiger- und Vierzigerjahre nicht zu Unrecht hauptsächlich verband, kam sie doch mit einer für die damalige Zeit typischen Mischung aus Pathos und Sentimentalität der faschistischen Ideologie von "Opferbereitschaft" und "Schicksalshaftigkeit" zweifellos am nächsten."
Hohle Pathos-Formeln
Trivialisierte Pathos-Formeln finden sich bis heute im Genre des Schlagers und in der ihn beerbenden volkstümlichen Musik. In einem der seltenen Videoclips dieses Bereichs wird zum Lied "Ich schwör'" der Gruppe "Kastelruther Spatzen" - gerahmt von Bildern der Musikanten in nebelgeschwängerter Bergkulisse - in SW-Aufnahmen die dramatische Geschichte einer Bergbauernfamilie erzählt, deren Kind mit dem Tode ringt, was auch die Schicksalsgemeinschaft Familie gefährdet. Schließlich wird das Kind gerettet und führt die Familie wieder zusammen. Stilistisch knüpft der Clip vielleicht sogar bewusst an die Pathosformeln der Dreißiger- und Vierzigerjahre an.
Dabei ist es nicht nur die volkstümliche Musik, die mit diesen belasteten Formeln arbeit. Ein Beispiel aus der Pop-Musik ist der Videoclip zu "Conquest of paradise" von Vangelis. Dieser arbeitet seit vielen Jahren mit religiös-pathetischen bis hin zu bombastischen Musikformeln. 1992 hatte Vangelis die Filmmusik für den Film "1492 - The Conquest of Paradise" von Scott Ridley geschrieben. Nachdem Henry Maske diese Filmmusik zu seiner persönlichen Hymne wählte, unter deren Klängen er in den Boxring zog, wurde das Stück als Single nachveröffentlicht und war monatelang die Nr. 1 in den Chartlisten Europas. Interessant wird die Verknüpfung von Körperkult und epischer Musik aber erst durch den Video-Clip, das heißt durch die Kombination mit dem Bild. Es war vielleicht ein Fehler, den Clip von einem Künstler produzieren zu lassen, der normalerweise statische Bilder herstellt. Der Schweizer Michel Comte ist seit langem ein berühmter Fotograf der Mode- und Prominentenszene, dessen engagiert links-liberale Haltung bekannt ist. Das hat aber nicht verhindert, dass der Video-Clip mit Henry Maske als Reinszenierung faschistischer Pathosformeln angesehen werden kann. Er konnte bruchlos an jene Ästhetisierungsstrategien des Faschismus anknüpfen, die mit den Filmen Leni Riefenstahls verbunden sind. So wie im Film über die Olympiade 1936 sportliche Siege als Taten von Übermenschen erscheinen, so wird auch Henry Maske in seinem Clip als "Übermensch" in Szene gesetzt. Henry Maskes sportliche Bemühungen werden präsentiert als Triumph des Willens und der Kraft über den unterlegenen Gegner. Dazwischen eine Fülle von Einzelszenen, die nicht zuletzt ästhetische Modelle Arno Brekers fotografisch reinszenieren.
Gezeigt werden der Boxer beim Training, Ausschnitte aus einem Boxkampf, vor allem aber pathetisch aufgeladene Einzelszenen. Wesentliches Gestaltungselement ist das Licht. Gut ein Drittel der Szenen bestehen aus Überblendungen in gleißendes Weiß. Durchbrochen wird dieser Wechsel von Licht und Einzelbild durch einige Szenenblöcke, die längere inhaltliche Ausführungen machen. Interessant im hier interessierenden Kontext sind vor allem die Szenen, die Maske als "Übermenschen" vorstellen. Sie zeigen den Boxer vor allem in der Unterperspektive, zudem häufig im Gegenlicht. Man blickt dabei aus der Froschperspektive auf Maske. Dieser steht auf einem (Erd-) Ball und hat die Hände in Adoranten-Haltung erhoben. Das Bild wird von zwei Lichtquellen strukturiert, der Sonne links oben und eine unbestimmte zweite rechts unten. Über Maske erscheinen zwei Turnringe. Zunehmend wird das Bild von Licht überflutet. In der nächsten Szene sieht man Maske wieder auf dem Ball am linken Bildrand, immer noch stark von unten gefilmt, diesmal mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen; Maske rückt zunehmend ins Zentrum des Bildes und die Sonne taucht am linken Bildrand auf; Maske gleitet rechts aus dem Bild, erfasst von den Sonnenstrahlen. Von ihm selbst ausgehend explodiert dann ein Lichtball ins Bild, der alles überblendet.
Natürlich ist "Pathos" ein vielschichtiger und wie die eingangs zitierte Charakterisierung Zarah Leanders zeigt, auch ein häufig negativ besetzter Begriff, dessen aktuelle populärkulturelle Ingebrauchnahme sicher weit entfernt ist von seinem Gebrauch im Kontext der antiken Tragödie. In den Videoclips der internationalen populären Kultur finden wir daher in der Regel häufig bewusste ironische Brechungen des Pathetischen. Sieht man aber einmal von der volkstümlichen Musik ab, dürfte der gewollt pathetische Clip, der das Pathos als solches bejaht und einsetzt, aber erst noch kommen. Wer den Gedenkgottesdienst für die Opfer des 11. September in New York gesehen hat, konnte feststellen, welche Bedeutung die bisher eher vereinzelten patheti-schen Züge populärer amerikanischer Musikkultur in Zukunft haben könnten.
Ironische Brechung
Weit entfernt vom geschilderten Gebrauch trivialisierter Pathos-Formeln bei den Kastelruther Spatzen und problematischer Pathos-Zitate bei Vangelis und geradezu deren Gegenstück ist die Pathetik der britischen Gruppe Queen und ihrem Bandleader Freddie Mercury (1946-1991). Mercury de-konstruierte Pathos grandios, indem er es inszenierte, spielerisch in Gebrauch nahm, letztlich: es einfach ausprobierte wie ein Kleidungsstück aus dem Kostümfundus. Er war perfekt in Auftritt, Geste und Kontext, gezielt überladen bis hin zum Unerträglichen, übersteigert zur Groteske und dabei doch nicht lächerlich. Ihn charakterisierte ein souveräner und reflektier Umgang mit Pathos. "Bohemian rhapsody", eine siebenminütige Minioper, wurde der erste große Hit und hielt sich trotz seiner Länge neun Wochen auf Platz eins. Zur Entstehungsgeschichte sagt der Produzent: "Jedes Mal, wenn wir eigentlich fertig waren, kam Freddie wieder ins Studio und behauptete, es müssten hier noch ein paar 'Galileos' und dort noch mehr Opernsequenzen eingebaut werden." Da das Stück für Live-Performances zu lang war, drehten Queen ein spektakuläres Video, bei dem sie alle Register der Filmkunst zogen.
Mit "Who wants to live forever", dem Lied zum Film Highlander (1986) fand die Gruppe das richtige Thema für pathetische Inszenierungen: das ewige Leben im Hier und Jetzt, der Kampf mit dem Schicksal und dem Bösen. Im Clip inszeniert Freddie Mercury mit orchestraler Unterstützung und einem kerzentragenden Chor einen grandios übersteigerten Auftritt.
Da aber, wo pathetische Elemente in ihrer Ambivalenz hätten missverstanden werden können, nämlich beim 1995, also quasi posthum erschienenen Album "Made in heaven", ging die Gruppe andere Wege. Freddie Mercury hatte bis zu seinem Tod 1991 Songs geschrieben und Gesangsspuren aufgenommen. Die Band machte daraus später fertige Lieder, die so bezeichnende Titel trugen wie "Heaven for everyone". Im Clip zu diesem Stück, das ja angesichts der Entstehungsgeschichte Pathos geradezu herausfordert, greift die Gruppe dann aber auf einen Stummfilm von Georges Mélies aus dem Jahre 1902 zurück, Le Voyage dans la lune, der als frühestes Beispiel filmischer Illusionen gilt, zugleich aber von einer wunderbar poetischen Ironie getragen ist. Nur in Überblendungen wird das Konterfei von Freddie Mercury sichtbar.
Pathos auf der Grenze
Auf dem Album "Use your illusion" (1991) der Gruppe Guns'N'Roses findet sich das Stück "November Rain", im dazu gedrehten Videoclip wird diese neunminütige Ballade als Stück über die Rites de passages im Leben eines Menschen dargestellt. Nicht zufällig gehört "Queen" zu den Vorbildern von Axl Rose und die Anklänge an "Who wants to live forever" sind im Clip zu "November rain" unübersehbar. Der Clip erzählt zunächst, eingebettet in mehrere Rahmungen, von der Hochzeit eines jungen Paares, die allen Klischees entspricht: blumenstreuende Kinder, die Braut wird zum Altar geführt, der Pfarrer spricht ein paar freundliche Worte, die Ringe werden ausgetauscht und das Brautpaar darf sich küssen. Das alles ist eingebettet in orchestral gehobene Musik. Nach sechs Minuten, mitten während der Hochzeitsfeier ändert sich die Stimmungslage, Regen kommt auf, die Hochzeitsgesellschaft stiebt auseinander, der Ton wird getragener und kündet Unheil an.
Nahezu bruchlos sieht man dann die junge Braut in der Kirche, die gerade noch die Hochzeitskirche war, im Sarg liegen, der Bräutigam erhebt verzweifelt klagend seinen Blick zum Himmel. Auch die folgende Beerdigung wird noch einmal von Regen überschüttet. Im abschließenden Bild sieht man die Braut während der Hochzeitsfeier, wie sie den Brautstrauß hinter sich wirft, der aber dann auf dem Sarg landet und sich von Blutrot zu Weiß entfärbt.
Auf der einen Seite lebt diese Schilderung zweier Rites des passages von den gehobenen und pathetischen Tönen der musikalischen Inszenierung und dem Geschehen im Clip, auf der anderen Seite wird die pathetische Impression immer wieder von bewusst ironischen Bildeinfällen gebrochen (etwa wenn beim Einzug in die Kirche der Blick auf das Kruzifix von dem auf den Schoß der Braut überlagert wird oder wenn beim einsetzenden Regen ein junger Mann in die mehrstöckige Hochzeitstorte hechtet). So ist der Hörer und Betrachter hin- und hergerissen zwischen der geschilderten Tragödie eines überraschend-tragischen Todes einer jungen Frau kurz nach ihrer Hochzeit und der z.T. kafkaesken, aber nicht unbedingt überzogenen Inszenierung. Der Eindruck "So etwas könnte (auch mir) geschehen" verlässt den Betrachter nicht. Insgesamt changiert das Gefühl, wie im Liedtext beschrieben, zwischen It's hard to hold a candle / In the cold November rain und dem karthatischen So never mind the darkness / We still can find a way / 'Cause nothin' lasts forever / Even cold November rain.
Helden - Die neue Lust am Pathos
Der amerikanischer Rhythm-and-Blues- und Popsänger R. Kelly ist in den letzten Jahren mit mehreren pathetischen Stücken aufgefallen. 1996 erhielt er drei Grammys für seinen Hit 'I believe I can fly' aus dem Soundtrack von 'Space Jam', eine Hymne für den Basketballsuperstar Michael Jordan. Emotional pathetisch geht es auch in "If I could turn back the hands of time" zu, einer Ballade um eine gescheiterte Beziehung. Schon rein stimmlich fordert R. Kelly "Pathos" und pathetische Inszenierungen heraus. Den Gipfel erreicht Kelly aber sicher mit einem weiteren aktuellen Heldenepos, nämlich der Musik zu einem Kinofilm über den legendären Boxer Muhammad Ali. Sein Lied trägt den Titel "The World's Greatest" (2002) und ist, wie ein Fan enthusiastisch im Internet schrieb, "mit Abstand das Beste, das R. Kelly je geschrieben hat. Man bekommt eine richtige Gänsehaut ... So einen Song wünscht man sich zur Olympiade, zu Siegerehrungen und andere große Momente im Leben!" Im Videoclip beschränkt sich der Sänger allerdings nicht auf die Boxlegende Muhammad Ali, statt dessen dominieren die amerikanische Flagge und Worte wie Hero, K.O., USA - Number 01. Drei Ebenen tragen den Clip: zum einen historische Einblendungen des jungen Muhammad Ali, dann der Sänger als Boxer mit amerikanischen Symbolen, umgeben von Fans, die das Wort "Heros" auf dem Shirt tragen. Und schließlich eine dritte Ebene, auf der normale Amerikaner als Helden stilisiert werden: die junge Familie, das Rettungsteam, Geistliche, Einwanderer, Soldaten, Arbeiter usw. Durch die Stilisierung ist es jedoch ein durch und durch national-pathetisches Stück geworden. Mit dem wegen Kriegsdienstverweigerung gesperrten Boxer hat das wenig, mit den Ereignissen vom 11. September aber um so mehr zu tun. Wie schrieb schon der Fan: "Man bekommt eine richtige Gänsehaut".
|