Ein Filmtitel, der hält, was er verspricht. "Pulp fiction" von Quentin Tarantino wurde 1994 in der Öffentlichkeit ebenso geschmäht wie gefeiert. "Eine kaum noch zu überbietende Orgie der Gewalt", "ein beeindruckendes Dokument der postmodernen Verfasstheit unserer Zeit", "das Leben als eines, das sich aus vielen aneinandergekitteten Details zusammensetzt". Selten begegnet man einem Film, auf den die Menschen so konträr reagieren: voll Begeisterung oder voll Abscheu. Rekonstruiert man die Erzählung des Films, so erweisen sich die filmisch lose verknüpfte Episoden als Teil einer logischen Gesamterzählung. Tarantino hat einfach ein wichtiges Handlungsstück mitten aus der Erzählung herausgebrochen und ans Ende gesetzt. Faktisch erzählt der Film die letzten Tage des Vincent Vega, einem Killer, der an Wunder nicht glauben mag. Am Anfang der Erzählungen erleben wir Jules und Vincent, zwei Profikiller, die Junggangstern auf der Spur sind, welche den Gangsterboss Marsellus betrogen haben. Sie unterziehen die Junggangster einer ironischen Befragung, um sie dann zu liquidieren. Ein auf der Toilette verborgener Komplize stürmt mit der Pistole in der Hand heraus und feuert sein gesamtes Magazin auf sie, aber keine der Kugeln trifft. Ein Wunder, ein Zufall, einfach nur Glück? Es entspinnt sich eine Debatte zwischen beiden, während Marvin, ein Komplize, mit den Nerven völlig fertig ist. Auf der Rückfahrt wird der Disput fortgesetzt, wobei Vincent aus Versehen Marvin mit einem Schuss ins Gesicht tötet. Nun haben Jules und Vincent ein Problem. Ihr Wagen ist von Blut und Hirnteilen übersät. Sie müssen sich bei einem Freund verstecken und ihren Wagen entsorgen. Vincent und Jules fahren anschließend zu einem Restaurant, um einen Imbiss zu sich zu nehmen. Dabei erläutert Jules Vincent seinen Entschluss, das Wunder als göttliches Zeichen ernst zu nehmen und sein Leben als Profikiller aufzugeben. Im Restaurant begegnen sie Pumpkin und Honey Bunny, einem Gangsterpärchen, das gerade einen Überfall durchführt. Der bekehrte Jules möchte das Pärchen nicht umlegen und er bietet ihnen an, sie zu bezahlen, damit er sie nicht töten muß (denn wenn sie ihn beklauen, müsste er sie töten). Nach dieser Zwischenepisode fahren Jules und Vincent zu einer Bar, um Marsellus zu treffen. Mit dem Koffer in der Hand verschwindet Jules dabei auf der Toilette und taucht nicht wieder auf. Vincent dagegen trifft auf Marsellus, der gerade ein Gespräch mit dem Boxer Butch beendet, den er zum Betrug beim Boxkampf "überredet" hat. Am Tag danach führt Vincent Mia, die Frau von Marsellus, aus. Er fährt mit ihr in ein Restaurant, sie nehmen an einem Tanzwettbewerb teil und gewinnen einen Pokal. Vincent fährt Mia nach Hause und während er auf der Toilette ist, schnupft sie Heroin, das er in seinem Mantel hatte und bricht zusammen, kann aber gerettet werden. Hier wird nun die Geschichte des Boxers Butch aufgenommen, der davon träumt, wie ihm die goldene Uhr seines gefallenen Vaters von dessen Kriegskameraden übergeben wurde. Als er erwacht, befindet er sich im Trainingsraum und steht kurz vor dem entscheidenden Kampf. Der Kampf wird nur indirekt durch eine Radioübertragung erzählt; Butch hat sich nicht an die Verabredung gehalten und seinen Gegner im Kampf getötet. Er flieht mit einem Taxi zu seiner Freundin, mit der er samt dem beim Wetten erzielten Gewinn abhauen will. Doch leider hat sie seine goldene Uhr in seiner Wohnung vergessen, die er nun unter Einsatz seines Lebens holen muß. Er trifft in seiner Wohnung auf Vincent, den er erschießt. Auf dem Rückweg stößt er auf Marsellus und flüchtet in einen Pfandladen. Doch dort werden er und Marsellus gefangen genommen und vergewaltigt. Butch kann sich befreien, er klaut ein Motorrad und haut mit seiner Freundin ab. Ende der Erzählungen. Pulp fiction im UnterrichtFreigegeben ist "Pulp fiction" ab 16 Jahren, er eignet sich für eine Bearbeitung ab der 11. Klasse. Pulp fiction bietet sich für eine Besprechung einzelner Szenenfolgen an. Thematisch ist der Film zum einen ein zeitdiagnostisches Medium, als Exempel der postmodernen Verfasstheit unserer Zeit wie auch des laxen (medialen) Umgangs mit dem Thema "Gewalt". Zu den weiteren Themen gehören das Wunder, das Deuten von Zeichen, die unerwartete Umkehr des reuigen Sünders, die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders, die (De-) konstruktion einer Erzählung - m.a.W. ihre Exegese -, und nicht zuletzt die Metapher des persönlichen (Lebens-)Weges. Anhand von Pulp fiction lässt sich über Formen legitimatorischer Bezugnahmen auf die Bibel reden. Welchen Gebrauch macht Jules von der Bibel? Wie ist seine Exegese zu beurteilen? In welcher Form darf man sich einzelner, aus dem Kontext gelöster Verse der Bibel bedienen? Dreimal kommt in Pulp fiction ein Hesekiel-Zitat vor, jedes Mal mit kleinen Abweichungen. Nun gibt es an diesen kleinen Differenzen wenig zu exegesieren, anders ist es schon mit der Art der Auslegung, die Jules selbst mit seinem "coolen Spruch" betreibt: "Also, den Spruch bring ich jetzt schon seit Jahren. Und wer immer ihn gehört hat, wusste, es geht um seinen Arsch. Ich hab nie viel drüber nachgedacht, was er bedeutet. Ich fand einfach, das ist ein ziemlich cooler Spruch, den ich einem Wichser erzählen kann, bevor ich ihm eine Ladung Blei zwischen die Augen schicke. Aber heute morgen habe ich etwas gesehen, das mich auf andere Gedanken gebracht hat. Verstehst du, im Moment denke ich, vielleicht bedeutet es, du bist der Verworfene, und ich bin der Gerechte. Und Mr. Neun-Millimeter hier ist der Hirte, der meinen gerechten Hintern im Tal der Dunkelheit beschützt. Es könnte auch bedeuten, du bist der Gerechte. Und ich bin der Hirte. Und dass es die Welt ist, die verworfen und selbstsüchtig ist. Tja, das gefällt mir. Aber dieser Quatsch ist nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist, du bist schwach. Und ich bin die Tyrannei der Verworfenen. Aber ich bemühe mich, Ringo. Ich geb mir echt große Mühe, der Hirte zu sein." Exegese, so viel wird sofort deutlich, ist keine einfache Sache, selbst dann, wenn man nur die eigenen Sprüche exegesieren muß. Jules sucht die rechte Auslegung: Immer schon gebraucht - cooler Spruch - situationsangemessen (Sitz im Leben). Dann aber hat er eine neue situativ gebundene Auslegung, die er nun auf den konkreten Fall anzuwenden sucht. Es ist eine verzweifelte Verstehensanstrengung, denn Jules bevorzugt offensichtlich allegorische Auslegungen. Er versucht, bestimmten Aussagen des Textes einen gegenwarts- und situationsbezogenen Sinn zuzuweisen. Wer ist der eigentlich jener Verworfene, den der Text meint, und wer ist der Gerechte? Wer ist der Hirte und was ist mit dem Tal der Dunkelheit gemeint? Nach aller vergeblichen Allegorie ("dieser Quatsch ist nicht die Wahrheit") kommt er zu einer überraschend einfachen Auslegung: er bezieht den Abschnitt auf sich ("ich bin die Tyrannei der Verworfenen") und seine Handlungsmöglichkeiten ("ich gebe mir echt große Mühe, der Hirte zu sein"). Schaut man genauer auf den Spruch von Jules, so merkt man, dass es sich um eine anspielungsreiche und darin ganz konventionelle Bibelzitation handelt. Sein Motto bündelt eine Fülle biblischer Sprüche: Der Pfad der Gerechten (Psalm 1, 6; 23, 3; 37, 5; Sprüche 2, 20) ist gesäumt von Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei der Verworfenen (Psalm 52, 3; 53, 2 u. 6; 71). Gesegnet sei, der im Namen der Barmherzigkeit die Schwachen (Sprüche 14, 21) durch das Tal der Dunkelheit (Psalm 23, 4) geleitet, denn er ist der wahre Hüter seines Bruders (Genesis 4, 9) und der Retter der verlorenen Kinder (Psalm 79, 11; 102, 21; Jeremia 3, 14 u. 22) [vgl. auch Hesekiel 34, 16; Matthäus 15, 24; 18, 11; Lukas 15, 24] ... Ich will bittere Rache an denen üben, die da versuchen, meine Brüder zu vernichten (vgl. Deuteronomium 32, 40ff.), und sie mit Grimm strafen, dass sie erfahren sollen, dass ich der Herr bin, wenn ich Vergeltung an ihnen übe (Hesekiel 25, 17). An dieser Stelle ist weder eine postchristliche Verharmlosung ("das ist doch nur ein Spiel mit religiösen Versatzstücken") noch der typisch religiöse Beißreflex ("mit der Heiligen Schrift darf man so nicht umgehen") angebracht. Vielmehr gilt es eine Lesart zu entwickeln, welche die theologischen Gehalte des Films deutlich macht. Und dazu gehört die sinnschaffende Bibelzitation ebenso wie die Erkenntnis, dass der Film etwas umsetzt, was Hesekiel auch beschäftigt hat. Denn inhaltlich kann man den Film auch als Auseinandersetzung mit der Theologie des Hesekiel interpretieren. Sie findet sich nur nicht im zitierten Kapitel 25, sondern im Kapitel 18 und beschreibt auf den Punkt genau die implizite religiöse Grundstruktur von Pulp fiction. Im 18. Kapitel des Buches Hesekiel, das traditionell die Überschrift Gott richtet jeden nach seinem Tun und fordert Umkehr trägt, werden Fragen des Tun-Ergehens-Zusammenhangs erörtert. Es geht um die Buße des Gottlosen. Wie beurteilt Gott dessen Untaten nach seiner Umkehr? Und hier lautet die überraschende Antwort: Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat (Vers 22). Das widerspricht aller populären (aber eben unbiblischen) "Auge um Auge ..."-Ideologie. Und tatsächlich schließt sich der Film der biblischen Aussage an. Denn Jules, der seiner Deutung des Geschehens folgt, überlebt am Ende, während Vincent stirbt: Jules versteht das Geschehen als Aufruf zur Umkehr, folgt ihm und gewinnt dadurch sein Leben. Faktisch heißt das natürlich auch, dass der Kontext, d.h. der Fortgang des Films die "Angemessenheit der religiösen Lektüre der Situation" durch Jules bestätigt. Im Blick auf den Religionsunterricht schlage ich vor, von zwei konkreten Filmausschnitten auszugehen. Der erste Ausschnitt führt in die zu deutende Situation ein, der zweite stellt die Deutung der Situation durch Jules und Vincent vor. Von hier aus kann sich dann der Unterricht an den zuvor skizzierten Fragen entfalten.
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Im Internet |
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Kirsner/Wermke (Hg.) |
Religion im Kino, Religionspädagogisches Arbeiten mit Filmen, Göttingen 2000 |
Herrmann, Jörg |
Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film, Gütersloh 2001. |
Kirsner, Inge |
Erlösung im Film, Stuttgart 1996 |
Mertin, Andreas |
Annäherungen. Zum theologischen Umgang mit Kinowelten. Magazin für Theologie und Ästhetik, Heft 3, www.theomag.de/03/am11.htm |
© Andreas Mertin