Das Internet als Kulturtechnik
Zur Bedeutung des WWW im religionspädagogischen Kontext
Andreas Mertin
[Originalbeitrag]
Das Internet als Kulturtechnik
Das Internet kann heute schon als die am schnellsten verbreitete und rezipierte Kulturtechnik in der Geschichte der Menschheit verstanden werden. Es ist eine ergänzende Kulturtechnik, die auf den anderen Kulturtechniken aufbaut und auch wieder auf sie zurückführt. Die Vorteile des Mediums sind schnell beschrieben. Sie machen sich fest an Begriffen wie Aktualität, Geschwindigkeit, Nähe, Digitalisierung. Aber auch die Nachteile sind schnell benannt: unübersichtlich, unkontrollierbar, fälschungsunsicher, unüberschaubar, urheberrechtsverletzend. Das eine zu nutzen und das andere zu bedenken gehört zur künftig weiter auszubildenden Kompetenz um Umgang mit dieser Kulturtechnik. Zur Verdeutlichung des Gemeinten ein Beispiel:
Mich erreicht per Email die Anfrage eines Studienleiters eines religionspädagogischen Institutes, ob ich im Sommer einen Vortrag über Lars von Triers "Breaking the Waves" und die unterschiedlichen (religiösen) Wahrnehmungs- und Deutungsmöglichkeiten dieses Kinofilms halten könne. Ich selbst habe zwar den Film bisher zweimal gesehen, weiß aber nicht, welche kontroverse Deutungen er bisher herausgefordert hat. Und so beginnt eine Kurzrecherche mittels der "Kulturtechnik Internet": Zunächst gebe ich bei der Internet-Movie-Database (www.imdb.com) den Namen des Films ein und erhalte so alle Basisinformationen (Regisseur, Schauspieler, Drehorte, Plot, Bilder, Rezensionen etc.). Ich klicke auf den unterstrichenen Namen des Regisseurs Lars von Trier und bekomme eine Beschreibung seiner bisherigen Tätigkeiten als Filmregisseur. Von der Internet-Movie-Database kann ich auch die Verfügbarkeit auf DVD und VHS prüfen, ein Link führt mich zum Buchhändler Amazon, wo mir das Video mit den wichtigsten Rezensionen der deutschen Filmkritik vorgestellt wird. Als nächstes interessiert es mich, ob es weitere Filmkritiken im deutschsprachigen Raum gibt. Bei der Suchmaschine Google (www.google.de) gebe ich den Filmtitel ein und erhalte Hinweise auf eine Fülle unterschiedlicher Stellungnahmen zum Film, u.a. im Rahmen des Kinowebs (www.kinoweb.de), wo der Inhalt, die wichtigsten Schauspieler, der Regisseur, vor allem aber auch Produktionsnotizen des Films und eine Stellungnahme Lars von Triers abrufbar sind. So erfahre ich z.B., dass dieser Film ein Film über das Gute sein soll und dass der Regisseur dem befreienden Glauben an das Wunder die einschränkende Vorstellung von der Prädestination gegenüberstellen wollte. In einem weiteren Artikel erfahre ich, dass der Regiseur zur Gruppe Dogma95 gehört, die die 10 Gebote reinen Filmschaffens aufgestellt haben. Inhaltlich wird darauf verwiesen, dass die im Film dargestellte religiöse Gruppierung der First Church of Scotland nachgebildet sei. So beschließe ich meine Recherche mit dem Abruf von Informationen zur First Church of Scotland, ihre Glaubensüberzeugungen und ihrer Stellung zur Staatskirche von Schottland.
Innerhalb von 20 Minuten habe ich so zahlreiche Infos zum Film zusammentragen können, das heruntergeladene Material ist abgespeichert und harrt so in digitaler Form der Weiterbearbeitung. Erfahren habe ich, dass dieser Film ein Film über das Gute, über die Liebe, aber auch über pathologische Formen der Liebe, über die Prädestinationslehre, über Werkgerechtigkeit und Rechtfertigung ist. So informiert kann ich nach einer halben Stunde per Email dem anfragenden Studienleiter eine Zusage für den Vortrag geben. Genug Stoff zur Deutung und Diskussion ist da.
Internet und Schule
Wer kennt diesen Satz nicht: Weitere Informationen dazu finden Sie im Internet unter http://www....? Niemand muss einen Unterrichtenden heutzutage davon überzeugen, das WWW für den Unterricht zu nutzen. Jedes Mal, wenn man die Tageszeitung aufschlägt, den Fernseher einschaltet oder sogar Radio hört, drängen sich penetrant die Hinweise auf das Internet auf. "Wir müssen ins Internet" lautet die Parole, der sich niemand entziehen soll. Man kann darüber streiten, inwieweit diese Notwendigkeit zum Umgang mit dem Internet in der Schule wirklich besteht. Wessen Not soll hier eigentlich gewendet werden? Meine These lautet: nicht die Schule braucht das Internet (sie kann gut und gerne darauf verzichten), vielmehr braucht das Internet die Schulen. Die Argumente für diese These sind rasch benannt: die Entwicklung im Bereich der Informationstechnologie ist so rasant, dass alles, was man Schülern heute dazu beibringen könnte, in wenigen Jahren (bei manchen Netzphänomenen: in wenigen Wochen) schon veraltet ist. Das Einzige, was man wirklich vermitteln kann, ist eine bestimmte Haltung, nämlich ein selbstverständlicher Umgang mit neuen Medien, welcher diese weder verteufelt noch verklärt (vgl. dazu Verf., Internet im Religionsunterricht, Göttingen 2/2001). Auf der anderen Seite braucht das Internet qualifizierte User, denn eine seiner großen Stärken - dass jeder sich mit eigenen Projekten und Beiträgen beteiligen kann - ist gleichzeitig seine große Schwäche: niemand weiß mehr, welche Informationen aus dem Netz richtig, welche wichtig, welche nichtig sind. Nur wer bereits etwas über den Islam weiß, kann beurteilen, ob z.B. das angesteuerte Islam-Portal seriös, tendenziös oder einfach nur ein irreführend ist. Daher gilt: Noch nie war eine solide Schulausbildung so wertvoll wie heute.
Internet und Unterricht
Aber natürlich sprechen viele pragmatische Gründe für die Nutzung des WWW (vor allem vor dem Unterricht), weil es in bestimmten Bereichen den Arbeitsprozess eines Lehrers vereinfacht. Aktuelle Texte sind lange vor ihrer Publikation in den Printmedien abrufbar, die Möglichkeiten, an den Arbeitsergebnissen von Kollegen zu partizipieren, sind nicht mehr allein an die Lektüre einer religionspädagogischen Fachzeitschrift oder den Austausch von Unterrichtsmaterialen mit Bekannten geknüpft. Zwar wird kaum jemand ein Buch am Bildschirm lesen wollen, wenn er aber eine bestimmte Textstelle sucht, hätte er das Buch allzu gerne online (oder wenigstens auf CD-ROM), weil er dann in Sekunden fündig würde. Ebenso wird kaum ein Lehrer auf die regelmäßige Lektüre religionspädagogischer Zeitschriften verzichten wollen, weil sie wertvolle Impulse und Reflexionen zur eigenen Unterrichtspraxis vermitteln. Aber die ausgearbeiteten Unterrichtseinheiten hätte er natürlich gerne gleich in digitaler Form, weil er sie dann in das eigene Officeprogramm übernehmen und sofort weiter für die spezifische Lerngruppe bearbeiten könnte. In diesem Sinne wird der Zugriff auf das Internet zunehmend vertrauter und selbstverständlicher werden.
Eine auf den Unterricht im Fach Religion spezialisierte Internetadresse ist das Reliweb (www.reliweb.de), das von Joachim Happel seit Herbst 1999 aufgebaut und betreut wird. Das Reliweb ist eine wertende Datenbank mit Hinweisen auf unterrichtsrelevante Webadressen. Dabei werden nicht nur Adressen gesammelt, sondern man bekommt zugleich eine knappe Beschreibung, Hinweise auf Nutzungsmöglichkeiten in den verschiedenen Schulstufen und eine erste Bewertung der Quelle. Beim Aufruf des Reliweb sieht man zunächst einen dreigeteilten Bildschirm. Auf einer oberen Leiste kann man anhand einer Image-Map verschiedene Informationsangebote abrufen: suchen in der Datenbank oder im Internet, eine Liste an Themenbereichen und Einzelthemen, Materialien und Aufgabenblätter, die Möglichkeit zur Eingabe für wertvoll gehaltener Quellen, Informationen über Projekte und schließlich der Hinweis auf den Webring Religionsunterricht. Auf der linken Seite gibt es die Möglichkeit zur Schnellsuche, während das Hauptfenster aktuelle Informationen und Tipps bietet bzw. zur Darstellung der Rechercheergebnisse dient. Man sollte das Reliweb ausprobieren und sich von der Fülle überraschen lassen. Es gehört auf jeden Fall zu den ersten Anlaufadressen für die Unterrichtsvorbereitung.
Was für die Unterrichtsvorbereitung einleuchtend ist, ist in der Unterrichtsdurchführung schon schwieriger. So weiß jeder Religionslehrer, der sich einmal mit seiner ganzen Klasse in den Computerraum verirrt und ganz fortschrittlich dem Internet zugewandt hat, dass die methodischen und disziplinarischen Probleme dabei eher zu- als abnehmen. Das Internet vereinfacht den Unterricht und das Unterrichten keinesfalls. Wildes und unkoordiniertes Herumstöbern im Netz, das unvermeidlich zum Gefühl "Lost in Space" führt, hat (zumindest auf den ersten Blick) kaum pädagogischen Nährwert. Und der - nicht nur bei Schülern verbreitete - Hang zur ersten Quelle führt in der Regel zur Vorstellung des am schnellsten zugänglichen, nicht aber des besten Wissens. Wer jedoch im Unterricht den Zugang zum Netz so organisiert, dass diese spontanen Ausbrüche aus den bisher vor allem linear konzipierten Unterrichtsverläufen nicht möglich sind, kappt das Netz um seine produktivsten Möglichkeiten. Denn diese liegen nun einmal gerade in seiner Anarchie begründet, welche das Entdecken von Materialien und subjektiven Zugängen ermöglicht, die man im Rahmen der kanonisierten Wissensorganisation kaum wahrgenommen hätte.
Die Entscheidung darüber, ob man das Internet im Religionsunterricht einsetzen soll, bedeutet aktuell, zwischen Skylla und Charybdis wählen zu müssen. Und doch führt an der Entscheidung selbst kein Weg vorbei, denn auch der Verzicht auf den Umgang mit dem WWW will religionspädagogisch reflektiert und begründet sein (denn man enthält den Schülern ein religiöses Artikulations- und Entdeckungsmedium vor). Inzwischen wird das Gespräch über die eigene religiöse Bindung und die Bedeutung der Religion unkonventionell und sehr offen im Netz geführt. Denn die mit dem Internet entwickelte Religiosität hat ja ihre Spitze gerade darin, dass sie sich an die von der Kirche und ihrer Lehre verbreitete religiöse Etikette nicht halten will, sondern die Beteiligten nun selbst als Produzenten von Theologie auftreten. Wer sich für diese Entwicklungen interessiert und mit ihnen ins Gespräch kommen will - und das ist ja eine der Aufgaben des Religionsunterrichts -, muss versuchen, "dem spezifischen Eigensinn der Alltagskommunikation gerecht zu werden und gerade die darin enthaltenen, virulenten und latenten, Fragen, Widersprüche und kritischen Einsprüche gegen religiös-ideologische Gewissheiten und dogmatische Behauptungen aufzuschlüsseln suchen" (Henning Luther). Und dafür bietet sich das Internet an.
Wenn diese Beschreibung zutrifft, dann darf das Internet im Religionsunterricht also nicht nur einfach als Recherche- und Informationsmedium genutzt werden (auch wenn dies, wenn es denn regelmäßig geschieht, schon sehr viel wäre). Vielmehr bedarf es gerade im Religionsunterricht ergänzender Reflexionen darüber, was im Netz eigentlich geschieht, wie es sich entwickelt und welche Bedeutung es für die Zukunft des einzelnen Menschen und die Gesellschaft hat. Die hier zu nennenden Stichworte wären etwa die Rückwirkungen der Virtualisierung auf den menschlichen Körper (auch als Anfrage an die realpräsentische Organisation der Kirche), die sich abzeichnenden Veränderung in der Interpretation des Mensch-Maschine-Verhältnisses (nicht zuletzt als Frage nach ethischen und religiösen Kriterien), die drohende Wissenskluft der Informationsgesellschaft (als pädagogische Herausforderung z.B. für den Hauptschulunterricht), die sich abzeichnende Veränderung des linearen Wissens zugunsten einer zunehmend verlinkten und intertextuellen Kultur. Alle diese Punkte haben Bedeutung für den Religionsunterricht.
Kirchenpolitische Folgerungen
Aus dem vorstehend Skizzierten ergeben sich einige Folgerungen im Blick auf das religionspädagogische Engagement der Kirchen im Netz. So sollte schnellstmöglich und mit ausreichender personaler wie finanzieller Ausstattung so etwas wie ein virtuelles PTI/RPA im Netz aufgebaut werden, das die Aktivitäten der einzelnen Landeskirchen fördert und die dort gesammelten und erstellten Ressourcen bündelt. Dazu müsste zum einen die qualifizierende Datenbank RELIWEB ausgebaut werden. Hinzu kommen müsste aber auch der Aufbau qualifizierter Online-Ressourcen auf einem eigenen Server. Entsprechend einer analogen religionspädagogischen Bibliothek müsste die virtuelle Bibliothek eine Fülle von Materialien zu den Themen (religions-) pädagogischer Arbeit lagern (also nicht nur per Link darauf verweisen). Und schließlich muss auch so etwas wie virtuelles Lehren projektiert werden, ein elektronisches Klassenzimmer Religion.
© Andreas Mertin, Hagen 2001
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