"Ich bin drin ..."
Kaum jemand hätte die Entwicklung religionspädagogischen Engagements im World Wide Web, die sich in den letzten 2½ Jahren vollzogen hat, wohl so vorausgesehen. Waren seinerzeit vielleicht gerade 5% der Religionspädagogen online, sind es inzwischen sicher schon 90%. Sicher ist diese Entwicklung dem enormen Druck zu verdanken, den Politik und Wirtschaft auf die einzelnen Lehrer in den vergangenen Jahren ausgeübt haben. Unter Zuhilfenahme diverser Medienmythen ("Schüler unterrichten Lehrer", "nur mit dem Internet ist zeitgemäßer Unterricht möglich") wurde den Lehrern das Internet "nahegelegt". Gleichzeitig entspricht die Annäherung an das World Wide Web aber auch einem allgemeinen gesellschaftlichen Trend, denn allein von September 2000 bis April 2001 stieg die Zahl der Nutzer des Internets in Deutschland um 50%. Gleichzeitig steigt die Zahl der Angebote, das heißt der Webadressen und der Homepages.
Im Herbst 1999 bestand das Problem vor allem darin, etwas Gutes im Netz zu finden, die Angebote waren noch spröde, selten multimedial aufbereitet und wenig ansprechend. Man war froh, wenn man hier ein gutes Abendmahlsbild, dort einen interessanten Text und da eine abgelegte Examensarbeit fand.
Der Fluch der Fülle
Heute, zwei Jahre später, scheint die Herausforderung vor allem darin zu bestehen, unter vielem differentem Guten (und natürlich unendlich viel mehr Schlechtem) das Passende zu finden. Das Angebot ist so überwältigend geworden, dass Übersicht auch mit der besten Datenbank kaum noch zu erlangen ist. Denn spätestens dann, wenn die Eingabe des Stichwortes "Tod" so viele Ergebnisse zeitigt, dass man wiederum mit der Sichtung mühsam von vorne beginnen muss, zeigen sich die Grenzen des Verfahrens. Mit anderen Worten: Wenn der Restaurantführer zu viele Fünf-Sterne-Restaurants ausweist, beginnt die Qual der Wahl von neuem.
Je erfolgreicher eine Datenbank oder Suchmaschine also ist, desto schwieriger wird es für den Anwender. Vor einem Jahr reichte es, religionspädagogische Nutzer auf die Datenbank reliweb zu verweisen und sie konnten dort die besten Adressen zum jeweiligen Thema finden. In absehbarer Zeit jedoch wird die Suche etwa zum Thema "Tod" so viele gute Treffer ergeben wie im Herbst 1999 insgesamt als Webseiten zum Thema aufzufinden waren. Und dann beginnt die Suche von Neuem.
Wie kann man dem begegnen? Zum einen kann man die Bewertung verfeinern. Man kann eine größere Abstufung wählen oder zusätzliche Kriterien einführen, etwa nutzerorientierte Hilfsmittel wie User-Rankings. Sie lösen das Problem aber nur temporär und unbefriedigend, wie man an vergleichbaren Rankings bei Kinofilmen erkennen kann. Sie sind zum einen oft zeitgeistgesteuert und zum anderen differieren die Wertungen abgebenden Nutzer von den nur passiv eine Datenbank auswertenden Nutzern. Hier werden weiterhin Probleme auftauchen.
Zwischenlösungen
Die Zwischenlösung, mit der wir es im Augenblick zu tun haben, ist ein Service-Angebot für eine bestimmte Klientel - die Unterrichtenden des Fachs Religion im weitesten Sinne. Was zur Zeit angeboten wird, ist den Möglichkeiten religiöser Bildung im Netz allerdings kaum adäquat. Fast alles konzentriert sich auf die religiöse Bildung mit vorbereitender Hilfestellung des Netzes; wirklich ausgereifte Modelle oder auch nur Ansätze eigenständiger religiöser Bildung im Netz gibt es kaum. Offline-Lehren mit Online-Hilfe ist der Normalfall. Bei religionspädagogischen Fortbildungen äußern inzwischen mehr als 2/3 der Teilnehmer, dass sie das Internet für die Unterrichtsvorbereitung mehr oder weniger intensiv mit einbeziehen. Diesem Interesse dient zur Zeit das Reliweb.
Das in Planung befindliche virtuelle religionspädagogische Institut ist zunächst wiederum im Wesentlichen nur "von und für alle mit religiöser Erziehung und Bildung Befassten in Schule und Gemeinde im deutschsprachigen Raum" konzipiert. Es erleichtert durch zahlreiche Funktionen den Einsatz des Internets im Religionsunterricht. Durch Zimmer, die Lehrer sich einrichten können, durch Foren und Werkstätten wird den Unterrichtenden eine Plattform angeboten, auf die sie für die Unterrichtsgestaltung - und eben nicht nur für die Unterrichtsplanung - zugreifen können. Das ist ein außerordentlicher Fortschritt.
Anfragen
Und dennoch: für religiöse Bildungsprozesse zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint mir das immer noch entschieden zu kurz gegriffen. Unbestreitbar ist, dass die Zielgruppe der Unterrichtenden eine Plattform im Netz braucht, bezweifelbar ist aber, ob die pragmatisch vollzogene Exklusivität (im Sinne von "nur für diejenigen konzipiert, die zu dieser Gruppe gehören") sinnvoll ist.
Denn mit den inhaltlichen Diskussionen rund um das Thema Bildung, die die EKD und viele der religionspädagogischen Institute und Lehrstühle in den letzten zwanzig Jahren durchgeführt haben, verbindet das virtuelle RPI noch wenig. Es lagert diese Diskussion aus, indem sie zugleich den Diskutierenden die Möglichkeit einräumt, ihre Diskussion auf der Plattform abzulegen. Das ist aber unzureichend. Statt dessen müsste ein virtuelles Institut derartige inhaltliche Diskussion initiieren! Wenn es das nicht tut, dann ist das mehr eine Form der Kommunikationsverweigerung, als ein Initiative im Interesse religiöser Bildung in Deutschland. In seiner jetzt geplanten Form ist das virtuelle religionspädagogische Institut eine pragmatische, aber noch keine befriedigende zukunftsweisende Lösung.
Die darüber hinaus führende Diskussion, ob ein virtuelles religionspädagogisches Institut sich nicht auch (und vielleicht sogar: vor allem?) als religiöses Bildungsangebot verstehen muss, oder ob es reicht, sie auf die Arbeitsinteressen von Unterrichtenden zu beschränken, muss konzeptionell geführt werden. Mir ist jedenfalls deutlich geworden, dass hier offensichtlich unterschiedliche Bedürfnislagen bestehen, die aktuell nicht ohne weiteres unter einem Dach zusammengeführt werden können.
Die Konzeption eines religiösen Bildungsportals im Sinne eines eigenständigen qualitativen Angebots (gemäß der Idee eines religiösen "Lehrhauses") steht noch aus und muss schnellsten von den christlichen Kirchen angegangen werden. Nichts geändert hat sich nämlich seit Herbst 1999 an dem Tatbestand, dass wesentliche religiöse Inhalte, die auch dem technischen Stand des Mediums Internet entsprächen, im Netz nicht angeboten werden. So gibt es zwar exzellente Einführungen in das Judentum, aber keine umfassende, multimedial ausgearbeitete Einführung in das Christentum. Jener Bildungswillige oder religiös Interessierte, der sich unter dieser Fragestellung ins Netz begibt, findet kein adäquates Angebot, mit Ausnahme von ganz wenigen, aber dann nicht umfassenden Quellen.
Angeboten wird - etwas zugespitzt formuliert-, was Lehrer vermitteln und nicht unbedingt, was Religion lehrt. Abgemildert könnte man sagen, dass das aktuelle Angebot im Netz ein Spiegel der Lehrpläne und der darüber hinaus gehenden Unterrichtswünsche der Schüler darstellt.
Lehren
Meiner Meinung nach dürfte aber ein virtuelles religionspädagogisches Institut nicht nur sammeln - das tut ja auch ein reales religionspädagogisches Institut nur am Rande -, sondern es müsste, wie jedes andere religionspädagogische Institut, vor allem anbieten, das heißt lehren. Und wenn es erkennbar Defizite im bisherigen Lehr-Angebot gibt, müssten die Studienleiter sich hinsetzen und entsprechende Angebote erstellen (lassen). Es ist zur Zeit jedoch nicht erkennbar, ob sich das virtuelle religionspädagogische Institut wirklich in diese Richtung entwickeln wird. Das ist bedauerlich.
Denn würde es thematische Klassenzimmer geben, die nicht nur aus Verlinkungen, sondern aus einem konkreten Lehrangebot bestehen, dann müsste sich nach und nach eine aktuelle Onlineversion der Institutio christianae religionis ergeben.
Das hätte den Vorteil, dass das Institut über den engeren Kreis der Lehrer und Schüler hinaus für jeden religiös/christlich Interessierten eine lohnende Adresse würde. Religion lehren und lernen würde zu einem dauerhaften prozessualen Geschehen. Dabei kann es gar nicht darum gehen "die" Lehre darzustellen - was immer das auch sein sollte. Zumindest im Rahmen eines fröhlichen protestantischen Pluralismus war Divergenz und Streit immer auch eine kulturelle Tugend. In einem thematischen Klassenzimmer könnte also zwischen verschiedenen Lehrern (auch verschiedener Konfessionen und Religionen) vehement über das Gottesbild gerungen werden. Das beste Argument etwa für oder gegen die Verabschiedung eines theistischen Gottesbildes sollte dann die Besucher überzeugen und zugleich zur Diskussion einladen. Gerade an der Auseinandersetzung über religiöse Fragen erweist und speist sich die Lebendigkeit von Religion. Genau das aber wäre das Ziel eines religiösen Bildungsinstituts im Internet.