Wer hat Angst vor Clifford Stoll?
Eine kurze Erwiderung auf Sabine Bobert-Stützel
von Andreas Mertin
[Originalbeitrag]
Sabine Bobert-Stützel hat aufsatzweise die Zukunft des E-Learnings und nicht zuletzt des Internets für den Religionsunterricht unter der Alternative Bewahrpädagogik oder selbstgesteuertes Lernen beleuchtet.[1] Darin stellt sie einer bewahrpädagogischen Haltung der Unterrichtenden, theoretisch verkörpert durch mein Buch "Internet im Religionsunterricht",[2] das selbstgesteuerte Lernen (SGL) der Schülerinnen und Schüler, theoretisch verkörpert durch einen Aufsatz von Jörg Herrmann und theoretisch-praktisch durch das österreichische Projekt "Digitales Religionsbuch" von Walter Vogel, gegenüber.
Ganz so einfach, darauf möchte ich mit der folgenden Erwiderung kurz hinweisen, verläuft die Frontstellung nicht. Zum einen sind Internet-Avantgardisten und Bewahrpädagogen offenkundig enger verbunden, als Bobert-Stützel es wahrhaben will (muss man m.a.W. das Konfliktfeld als inneres und nicht äußeres begreifen), zum anderen ist die Alternative des selbstgesteuerten Lernens von Schülerinnen und Schülern noch lange nicht in einem Stadium, in dem man von einer pädagogischen Alternative sprechen könnte.
Bewahrpädagogisch ist es nach Ansicht von Bobert-Stützel zum einen, wenn man darauf verweist, dass eine analoge Ordnung der Diskurse, wie sie sie die traditionellen Medien im Rahmen einer langen Kulturgeschichte entwickelt haben, im Internet noch nicht geschaffen wurde, ja dass sich dort jede Information zunächst als potentieller Fake darstellt[3]. Diese Beobachtung scheint mir jedoch unbestreitbar zu sein. Was fehlt, so formulieren es die wissenschaftlichen Internet-Aktivisten, ist eine Art Web-Ontologie.[4] Und daran wird zur Zeit heftig gearbeitet. Die damit verbundenen Schwierigkeiten kann man diskursiv in verschiedenen Beiträgen des E-Zines TELEPOLIS nachlesen. Zudem ist es ja auch nicht so, als ob die festzustellende Veränderung des Lernens erst mit dem Internet eingetreten sei, sie zeitigt mit der Medienentwicklung des 20. Jahrhunderts schon lange problematische Folgen. Aber das Internet mit seiner spezifischen Zeitlosigkeit verschärft das Problem.[5] Probleme aufzuzeigen und zu benennen heißt aber noch nicht, am Alten krampfhaft festhalten zu wollen, also in die platonische Kritik des jeweils neuesten Mediums einzustimmen. Es bedeutet vielmehr, die anstehenden Herausforderungen durch die Medienentwicklung auf den Punkt zu bringen, um sie pädagogisch bearbeiten zu können.
Bewahrpädagogisch ist es nach Bobert-Stützel zum anderen, wenn man den Einwendungen Clifford Stolls nach-denkt, der in der personalen Bildung auf Dauer einen Vorteil gegenüber jeder maschinengestützten Wissensvermittlung sieht. Freilich reflektiert man damit ja nicht die simple Alternative von Computer ja oder nein im Unterricht (über die wir längst hinaus sind, und die ja auch Stoll nicht vertritt), sondern die künftige Veränderung des menschlichen Bewusstseins durch Technologie überhaupt.[6] Diese Einwände sind mit ein paar Modewörtern wie "Selbstgesteuertes Lernen" gewiss nicht aus der Welt zu schaffen.[7] Clifford Stoll - der für mich nun nicht die ausschlaggebende Medienautorität darstellt wie Bobert-Stützel unterstellt[8] - hat mit seinen Einwänden in der Sache darauf aufmerksam gemacht, dass Medieneuphorie noch keinen Ersatz für Unterrichtspraxis darstellt, und vor allem, dass das Wissen im Netz einer lebensweltlichen Validierung bedarf; ein Fakt, auf den nicht zuletzt der Aufsatz von Bobert-Stützel verweist.
Demgegenüber stehen nun nach Bobert-Stützel andere Ansätze in der religionspädagogischen Landschaft, die angesichts des Mediums Internet offener sind und dessen Möglichkeiten positiver beschreiben. Dass sie diese nun ausgerechnet in Jörg Herrmanns Aufsatz "Vom Himmel in den Hypertext"[9] sieht, hat einen etwas komischen Zug. Denn einerseits bildet dieser Text, insbesondere was die Körper-Thematik angeht, eine wichtigen Basis der Argumentation in meinem gerade noch inkriminierten Buch,[10] und andererseits basiert er in seinen Grundannahmen auf einer Gemeinschaftsarbeit von Jörg Herrmann und mir aus dem Jahre 1996, die mehrfach publiziert ist.[11] Einige jener Passagen, die Bobert-Stützel gegen den Bewahrpädagogen Mertin ausspielen will, stammen ironischerweise aus dessen eigener Feder. Ganz so einfach ist es mit den Frontbeschreibungen angesichts der Neuen Medien eben nicht. Schon gar nicht lassen sich die Positionen von Jörg Herrmann und Andreas Mertin in dieser Frage als konträr beschreiben, sie sind - Folge einer nun nahezu zwanzigjährigen Zusammenarbeit - im Wesentlichen kongruent. Wissenschaftliche Reflexion umfasst eben das Erwägen zahlreicher Gesichtspunkte und nicht nur ein einfaches Ja oder Nein oder ein simples Augen zu und durch.
Was mir unangenehm aufgefallen ist und mir zugleich fast symptomatisch zu sein scheint, ist die Verachtung der praktizierenden (Religions-) Pädagogen, wie sie bei Bobert-Stützel erkennbar wird.[12] Analog zur beliebten Medienmeme,[13] in Fragen der Neuen Medien müssten inzwischen Schüler ihre Lehrer unterrichten, wird den Pädagogen pauschal Angst vor den Neuen Medien unterstellt (nur weil sie sich nicht gleich reflexhaft darauf gestürzt, sondern erst einmal über den Nutzen nachgedacht haben),[14] während die Schülerinnen und Schüler als höchst interessiertes Potenzial einer neuen Wissenserkundung erscheinen.
Nichts ist der Praxis ferner. Ich habe in den letzten Jahren mehr als eintausend Lehrer aller Bildungsgänge im Umgang mit dem Internet und im Blick auf den Einsatz des Internets im Religionsunterricht ausgebildet und kann nur sagen, dass das gezeichnete Bild des internet-ängstlichen Lehrers im Gegensatz zu den internet-freundlichen Schülern absolut unzutreffend ist. Es trifft weder pauschal auf ältere LehrerInnen und schon gar nicht auf die Generation der heutigen ReferendarInnen zu.[15] Tatsächlich kann eine Vielzahl der Unterrichtenden auf praktische Erfahrungen mit dem Internet im Rahmen ihrer Arbeit zurückgreifen. Und ihre Erfahrung ist eine ganz andere, sie zeichnet sich durch eine hohe Kongruenz mit den Beobachtungen des der Bewahrpädagogik sicher unverdächtigen Rolf Sachsse aus: "Die verfügbare Datenmenge ist explodiert, das Interesse am Finden von Materialien jedoch implodiert, die Kritikfähigkeit zur Bewertung von Themen und Texten hat sich asymptotisch dem Nullpunkt genähert."[16] Das ist die Herausforderung vor der heutige Pädagogen angesichts des Internets stehen.
Als praktische Widerlegung aller zuvor skizzierten bewahrpädagogischen Ängste sieht Bobert-Stützel nun das Projekt des Digitalen Religionsbuches an, das von Schülern für Schüler gemacht sei. Das dies so sei, entnimmt Bobert-Stützel der Selbstdarstellung im Internet und leider nicht einer sorgfältigen Analyse der vorgestellten Seiten oder einer praktischen Überprüfung. Nun stimmt selbst Walter Vogel als wesentlicher Betreiber des Religionsbuches der Beobachtung zu, dass hinter den Beiträgen der Schülerinnen und Schüler nur allzu oft und auch allzu deutlich die Handschrift des Unterrichtenden erkennbar sei, m.a.W. dass sich das selbstgesteuerte Lernen z.T. als ein durchaus (fremd-) gesteuertes Lernen erweist.[17] Es hätte also durchaus der kritischen Überprüfung bedurft, inwiefern das Digitale Religionsbuch tatsächlich schon das Ergebnis selbstgesteuerten Lernens - und nicht nur einen ersten, äußerst wichtigen und bedeutungsvollen Schritt auf dem Weg zu einem solchen - darstellt.[18] M.E. kann das Digitale Religionsbuch als eine höchst veritable Absichtserklärung verstanden werden, die in der Konkretion aber noch weiterer Reflexionen und Erprobungen bedarf. Gerade die explorative Beobachtung des Digitalen Religionsbuches hätte auf die impliziten Schwierigkeiten verwiesen, die derartige Konzepte begleiten. Sie sind in einem extremen Maße vom Engagement des jeweiligen Betreibers abhängig und dementieren gerade dadurch den Mythos des sich selbst mit Schülerhand schreibenden elektronischen Unterrichtswerkes. Gerade weil der Ansatz von Walter Vogel so produktiv und positiv ist, sollte man seine Rahmenbedingungen, das heißt seine Grenzen auch klar benennen.
Selbstgesteuertes Lernen ist etwas, was sich erst in ersten, bisher noch mehr als unbefriedigenden Konturen abzeichnet. Technisch wie ökonomisch sind die Voraussetzungen mit dem heutigen Internet nicht einmal in Ansätzen gegeben: Zur Zeit machen sie "jeden Ansatz von Interaktivität zum schlechten Witz: Wo sich ohnehin nur ein paar Schalter bedienen lassen, kleine Filmchen ablaufen - deren Vorführ-Software nicht ohne Grund 'Quick Time Movie' heißt - und das genauere Anschauen von Bildern mit demselben Ladevorgang verbunden ist, dessen Frustpotential mehrheitlich von Pornoseiten-Nutzern geteilt wird, da kommt keine Partizipation, kein Engagement, keine Einlassung auf, von 'studium' oder gar 'punctum' schon einmal gar nicht mehr zu schreiben."[19] Wer selbst an verschiedenen Formen des E-learnings teilnimmt, kann davon beredt Zeugnis ablegen. E-learning ist zur Zeit bestenfalls eine Meme, die Phantasie freisetzen und so die technische und pädagogische Entwicklung vorantreiben kann. Eine Alternative zum Unterricht im Sinne der personalen Wissensvermittlung ist sie noch lange nicht.
Anmerkungen
- http://mitglied.lycos.de/sbobert/netzlernen2.htm
- Verf., Internet im Religionsunterricht, Göttingen 2/2001
- Wobei diese Beobachtung in meinem Buch explizit als für alle Medien geltende Beobachtung ausgewiesen wird.
- "Denn wenn die Form des Datenträgers vom Papier zur Elektronik wechselt, dann begünstigt das nicht, wie vordergründig vermutet werden kann, eine automatische Kollektivierung des Wissens. Online-Wissensangebote, die nicht nur Grundlagenwissen und damit relativ statische Inhalte abdecken wollen, werden relativ teuer durch ihren Erhalt, weil sie ständig aktualisiert gehören. Unabhängig von jeder Technologie ist es diese fachkundige Aktualisierung, die in einer guten akademischen Ausbildung geboten wird - sie unterscheidet die Experten von den Autodidakten, denen das vorhandene Wissen prinzipiell ja immer schon zugänglich ist. Aber das Internet hat einen Vernetzungsmythos geschaffen und dazu verführt, das Modell der Präsenzbibliothek bzw. der für alle offenen, umfassenden Enzyklopädie, durch die man nur mittels eines optimierten Navigators zu surfen braucht, mit dem Modell des künftigen Wissensmanagements zu verwechseln. Frank Hartmann, Akademische OpenCulture oder globales WissensBusiness
- Vgl. Rolf Sachsse, "Jahrhunderte nacheinander oder nebeneinander. Veränderungen des historischen Vorstellungsraums durch das Internet": "Wer im Internet nach historischen Daten sucht, der oder dem sind - den Suchmaschinen sei Dank - das 13. und das 18. Jahrhundert gleich nahe, liegen - mindestens in den mitgeteilten Referenzen - alle Kontinente gleich weit entfernt und haben alle Religionen den gleichen Stellenwert für die Findung individuellen Glücks. Das Bild vom Surfen für die Bewegung im Netz der Computer passt zum Bau des Raums; das weiche Gleiten durch Datenbanken und Netze mittels einer graphischen Benutzeroberfläche hat wenig mit der staubtrockenen Recherche in Karteikarten und Archivschränken zu tun. Der Gebrauch von Internet und Datenbanken zur wissenschaftlichen Informationsbeschaffung ist noch kein Jahrzehnt alt, aber er hat bereits Spuren im akademischen oder seminaristischen Alltag hinterlassen - auf den ersten Blick nicht nur gute. Die verfügbare Datenmenge ist explodiert, das Interesse am Finden von Materialien jedoch implodiert, die Kritikfähigkeit zur Bewertung von Themen und Texten hat sich asymptotisch dem Nullpunkt genähert. Die Differenz zwischen gefundenen, wahrgenommenen und verstandenen Quellen ... hat sich weiter vergrößert und vor allem qualitativ verselbständigt."
- Vgl. Sachsse, a.a.O.: "Spannend werden Überlegungen zum veränderten Geschichtsraum unter der Maßgabe jener technologischen Visionen, wie sie etwa Raymond Kurzweil formulierte: Nanobots oder Knowbots werden den Menschen eingeimpft und versorgen sie beim Auftreten einer jeden Erinnerung mit den Internetanschlüssen, die die Referenz auf Originale, Inhalte oder Techniken bereithalten. Prinzipiell hätte dann jeder so ausgestattete Mensch Zugriff auf jede netzweit verfügbare Information, und zwar auf der Basis einer direkt ins Bewusstsein eingreifenden Schnittstelle ... Aber sicher wäre zunächst nur Eines: Geschichte als Prinzip ist mit dieser Konstruktion des Erinnerns obsolet. Jede Beziehung zu jeder Zeit im Leben ist bereits unter derzeitigen Verhältnissen weniger durch ihr diachronisches Hintereinander denn durch ihre topologische Platzierung organisiert, und die kann nicht nur, sondern muss meist in so kurzen zeitlichen Distanzen erfolgen, dass man von Synchronizität sprechen kann. Dieser Prozess, von Paul Virilio schon mit Endzeit-Attitude als unumkehrbar beschrieben, wird sich unter Bedingungen von Nanobot-Technologien noch exponentiell beschleunigen."
- Niemand wird selbstgesteuertes Lernen der Schülerinnen und Schüler ablehnen wollen, jeder mir bekannte Unterrichtende wäre geradezu begeistert davon. Aber nicht einmal auf der Ebene der universitären Praxis funktioniert selbstgesteuertes Lernen reibungslos, wie die entsprechenden Erfahrungsberichte ausweisen.
- Ich habe sein holzschnittartiges Denken mehrfach im Buch kritisiert.
- Medien praktisch H. 2 (1998), 54-57.
- Verf., Internet im Religionsunterricht, a.a.O., S. 128f.
- Vgl. etwa Herrmann, Jörg / Mertin, Andreas: "Virtuelle Religion. Die Herausforderung der neuen Medien für Theologie und Kirche"; In: Barbara Heller (Hg.): Kulturtheologie heute? Hofgeismar 1997, S. 117-124; sowie dies.,: "Im Wettstreit mit Gott. Das Internet als Impuls für die Theologie" Evangelische Kommentare 1996, S. 481-484.
- Darauf deuten Formulierungen wie "hier warnt der Zeigefinger des Pädagogen".
- Vgl. dazu Douglas Rushkoff: media virus. Die geheimen Verführungen in der Multi-Media-Welt, Frankfurt 1995.
- "Offenkundig muß solche Existenzangst bzw. Rollenunsicherheit bei Lehrern im Zusammenhang mit dem Thema Computer/Multimedia berücksichtigt werden."
- Und es trifft auch nicht auf die pauschal unterstellte Medienfeindlichkeit der Evangelischen Kirche zu. Davon kann sich überzeugen, wer das Angebot einer Stadtakademie wie z.B. der Melanchthon-Akademie des Ev. Stadtkirchenverbandes Köln durchblättert. Hier findet sich alles, was einem offenen Umgang mit den Neuen Medien entspricht: vom internetgestützten Stadtführer zur jüdisch-christlichen Zusammenarbeit über die Reflexion der Bedeutung des Internets für Schwarzafrika, der Publikation literarischer Texte fürs Netz, der Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen des E-Learnings, der Vorstellung von Product-Designern, konkreten Möglichkeiten der Internetarbeit im Unterricht, der eigenen Produktion von Medienangeboten bis hin zur gemeindeorientierten Geschichtsschreibung im Internet und den Angeboten für die Nutzung des Internets in der dritten Lebensphase. Das ist die Realität evangelischer Medienskepsis in der Gegenwart.
- Vgl. Anm. 5
- "Das mit der 'LehrerInnenzentrierung' der Beiträge kenne ich auch" - so die Email-Auskunft von Walter Vogel auf meinen Einwand, dass man im Digitalen Religionsbuch oft die strukturierende Hand des Unterrichtenden spüre.
- Genau das ist das Problem des Internets, dass es die Kriterien der Überprüfbarkeit nicht selbst bereitstellt, sondern zusätzliche Recherchen der Nutzer notwendig macht. Wer Internettexte wie Buchtexte behandelt, hat von der mit dem Internet entstehenden Herausforderung für die Vermittlung von Wissen noch wenig mitbekommen.
- Rudolf Sachsse, Kunst als schnelle Nummer, Kunstforum Band 148, Dezember 1999 - Januar 2000, S. 158.
|