2000

Die Matrix

Oder: Der Erlöser als Actionheld

von Andreas Mertin

aus: Religionspädagogik Rundbrief.
Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer im Bistum Hildesheim Juli/2000, 11f.

Selten hat ein Kinofilm der letzten Jahre - abgesehen vielleicht von Titanic - Schüler wie Lehrer, Theologen wie Philosophen, Zeitgeistpropheten wie Kulturkritiker so beschäftigt wie das Science-Fiction-Spektakel Matrix. Lehrer berichten davon, Schüler seien in ihren Unterricht gekommen und hätten gemeint, der Film enthalte doch alles, was sie - die Lehrer - ihnen seit Jahren in Sachen Religion hätten vermitteln wollen. In den religionspädagogischen Diskussionsgruppen des Internets füllen sich die Seiten mit heftigen Debatten darüber, ob und wie der Film für den Religionsunterricht geeignet sei.

Was ist die Matrix?

Das Thema des Films ist die Entdeckung des Computerhackers Tom Anderson, genannt Neo, dass die Welt, in der er lebt, nicht real ist, sondern eine gigantische Simulation. Nach und nach erfährt er - kontaktiert von einer außerhalb der Simulation lebenden menschlichen Widerstandsgruppe -, dass infolge einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Menschen und Maschinen am Ende des 21. Jahrhunderts die Maschinen die Welt beherrschen und die menschlichen Körper als Energiebatterien züchten. Damit diese menschlichen Batterien funktionieren, gaukeln die Maschinen ihnen eine virtuelle Welt vor: eben die vom Zuschauer im Kino als scheinbar real erfahrene Gegenwart des Jahres 1999. Einigen Menschen ist es gelungen, sich dem Zugriff der Maschinen zu entziehen und sie versuchen, die übermächtige Matrix zu zerstören und die Menschheit zu befreien. Dabei hoffen sie auf einen Erlöser, der ihnen von einem Orakel prophezeit wurde, und der in der Lage sein soll, sich der Matrix entgegenzustellen und sie zu vernichten. Der Anführer einer dieser Widerstandsgruppen - Morpheus - glaubt nun, in der realen Existenz des Computerhackers Tom Anderson diesen Erlöser gefunden zu haben. Er kontaktiert ihn, holt ihn aus der Simulation heraus, schult ihn in asiatischen Kampftechniken und bereitet ihn auf den finalen Kampf vor. Gegner der Widerstandsgruppen sind so genannte Agenten, eine Art Antivirenprogramm, welches nicht funktionierende und störende Elemente (= die Menschen, die sich nicht der Matrix einfügen wollen) vernichten soll. Die Realität außerhalb der Matrix sieht keinesfalls positiv aus: es ist eine zerstörte Welt ohne Sonnenlicht und ohne menschliche Wärme - geradezu das Gegenstück zur simulierten Existenz im Netz. Der sich daraus ergebenden Versuchung zurück zu den virtuellen Fleischtöpfen der Matrix erliegt einer der Widerstandskämpfer - Cypher (= Luzifer) - und verrät seine Kampfgenossen. Morpheus wird von Agenten gefangen genommen und im Rahmen seiner Befreiung kommt es zum großen Showdown. Die Stunde des Erlösers ist gekommen: er stirbt und erlebt seine Wiederauferstehung, um schließlich die Menschheit zu retten.

Das alles ist garniert mit viel religiösem und philosophischem Beiwerk, unzähligen Action- und Gewaltszenen, zahlreichen spektakulären Computeranimationen usw. Man entdeckt Anspielungen auf Platons Höhlengleichnis und Baudrillards Simulationstheorie, auf die christliche Heilsgeschichte und auf Michel Foucaults Machtanalysen, auf den Buddhismus und auf den Konstruktivismus, auf diverse asiatische Kampfsporttechniken und zahlreiche Kultfilme des amerikanischen Kinos der letzten zehn Jahre. Mit anderen Worten: hier findet sich alles, was jugendliche Cineasten ebenso wie kulturell Ambitionierte anspricht. 

Es gibt keine direkte Botschaft des Films, vermutlich wird jeder Betrachter sich aus den diversen Leerstellen seine Botschaft zusammenstellen. Gegenüber den populären Verklärungen der vernetzten Welten ("Ich bin drin") herrscht aber ein grundsätzlich pessimistischer Ton vor. Damit reiht sich Matrix in die Reihe von Filmen ein, die das Mensch-Maschine-Verhältnis für die Zukunft als äußerst kritisch ansehen. Seit Terminator I und II, Das Netz, Der Rasenmäher-Mann usw. lautet die Nachricht: Keine Macht den Maschinen. Literarisch wird man Matrix als filmische Gegenthese zur Netz-Euphorie der legendären Cyberpunk-Trilogie von William Gibson ansehen können (bei dem sich der Film ausgiebig bedient). Als filmischen Vorläufer könnte man Rainer Werner Fassbinders "Welt am Draht" aus dem Jahr 1974 entdecken, welcher das Thema weniger spektakulär, m.E. aber etwas durchdachter angeht.

Die Matrix im Religionsunterricht? 

Ich glaube nicht, dass der Kinofilm Matrix das genuine Medium für den Religionsunterricht ist, dafür ist in ihm nicht zuletzt zu viel ästhetisierte Gewalt enthalten und die Aufnahme der christlichen Heilsgeschichte geschieht zu schematisch und damit unreflektiert. Aber der einleitend erwähnte Umstand, dass Jugendliche den Film durchaus unter religiösen Aspekten wahrnehmen, macht die Thematisierung im Religionsunterricht durchaus sinnvoll. 

Religiöse und (religions-) philosophische Fragen, mit denen man sich dabei auseinandersetzen kann, sind u.a.: Was ist eigentlich Wirklichkeit? Wie verhalten sich Religion und Wirklichkeit zueinander (z.B. wie Virtualität und Realität?)? Welche Bedeutung haben religiöse Botschaften (Orakel, Prophezeiung, Wunder) für das eigene Leben? Kann man sein Leben selbst gestalten oder ist man immer von anderen abhängig? Wie verhält es sich mit der menschlichen Freiheit? Heißt 'Glauben', sich gegen die Realität und damit gegen die äußere Plausibilität zu entscheiden? Was ist das Böse und was bedeutet heute Versuchung? Warum gibt es so viele christliche Strukturen im Film (Der Erlöser muss leiden, sterben und auferstehen; die Liebe ist stärker als der Tod; es gibt einen letzten Kampf der Guten gegen das Böse usw.)? 

Neben diesen zentralen inhaltlichen Fragen, die z.T. ja auch aus Schülerperspektive gestellt werden, kann man weitere Spuren verfolgen, z.B. die bis ins Detail gehende Allegorisierung aller Handlungsfiguren. Der Betrachter steht permanent vor der Frage: wer steht für wen und wie kann ich die Figuren in ihrer Bedeutung identifizieren? Wenn Neo der auserwählte Erlöser ist, wer ist dann Trinity, deren Liebe Neo rettet? Und wer ist Morpheus, der an die Prophezeiung eines Erlösers glaubt und ihm den Weg bereitet? Was steckt hinter Zion als letzter Zufluchtsstätte der Menschheit? Welche Parallelitäten ergäben sich, wenn man das Leben Jesu und das Leben des Neo nebeneinander stellen würde? Fragen über Fragen und viel zu viele naheliegende Antworten. Eine Gefahr in der Bearbeitung ist sicherlich, dass man sich leicht ins Uferlose verliert. Die Stärke des Films - die vielen interessanten und weiter zu verfolgenden Spuren - ist eine Schwäche im Rahmen pädagogischer Bearbeitungen. Dennoch sollten sie versucht werden.

Einige praktische Hinweise

Inzwischen ist Matrix als Kaufvideo und DVD erschienen, aber natürlich ist gerade bei diesem Film der Gang ins Kino durch nichts zu ersetzen. Einige kirchliche Medienzentralen haben den Film als DVD- bzw. VHS-Kassette im Verleihprogramm. 

Wer sich mit dem Film Matrix im Religionsunterricht auseinandersetzen will, sei auf eine Internetadresse verwiesen, die schon einiges aus religionspädagogischer Perspektive zusammengetragen hat. Im Rahmen seiner - für den Religionsunterricht äußerst empfehlenswerten - Datenbank www.reliweb.de hat Joachim Happel eine Übersichtsseite zum Film zusammengestellt. Es reicht, auf der Startseite von reliweb.de einfach das Stichwort Matrix einzugeben. Hier findet der Lehrer nicht nur die offizielle Homepage des Films, zahlreiche Filmkritiken und Essays, sondern auch Hinweise auf Diskussionen von Schülern, die bis in die Gegenwart anhalten. Im CineClub - The Matrix  gibt es eine erregte Diskussion um die Wahrnehmung und Deutung des Films. Ganz interessant, was Schüler so sehen - und was sie nicht sehen (wollen). In diesem Sinne ist der Film für den Religionsunterricht eine durchaus interessante Herausforderung.


© Andreas Mertin