Religion nimmt Gestalt an

- ästhetisch, popkulturell, szenisch -

von Andreas Mertin

Vortrag auf der Bildungsmesse Hannover, 2000


DJ Rock - Ein Beispiel

Robbie Williams: Rock DJMehr als spektakulär ist der Videoclip zu Robbie Williams "DJ Rock", der Mitte letzten Jahres erschienen ist. Auf der Bildebene sehen wir den von Fans umgebenen Sänger, der nach und nach nicht nur das letzte Hemd, den letzten Fetzen Haut, sein Herz, ja das letzte Stück blutiges Fleisch preisgibt, bis schließlich ein tanzendes Skelett übrig bleibt. Die Arten, wie dieser Clip gelesen werden kann, sind vielfältig: Vom Tanzclip zum Splattermovie; oder: eine schonungslose Abrechnung mit der Stilisierung von Rockidolen zu bloßen Fleischbeschaustücken; oder: nur eine weitere Art, mit der Sensationsgier des Publikums zu spielen und ein paar Pressezeilen zu schinden. Jede dieser Lesarten hat ihr Recht, und doch wird sie sofort von der Performance des Stückes gebrochen. Im Genre des Videoclips ist das Splatter-Motiv zwar ungewöhnlich, im Rahmen der Splatter-Movies ist dieser Videoclip aber harmlos. Für eine Abrechnung mit den Mechanismen einer ihr Material auffressenden Showbranche ist die Ansprache an die Adressaten zu folgenlos. Und als Effekthascherei wird man ihn auch nicht ansehen können, zu hoch ist das Risiko, mit dieser Art der Visualisierung über die konventionalisierten Grenzverletzungen hinauszuschießen. Bleibt also nur, den Clip einzuordnen in die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Grauen, die immer schon auf der Grenze von Aufklärung und wohlfeilem Schauer arbeitete.

Robbie WilliamsWie reagieren die Jugendlichen auf dieses Video und welche Kommentare geben sie ab? Eine mögliche Lesart wäre ja, den Clip auf das Idol-Fan-Verhältnis zu beziehen, dass also das Begehren der Fans dem Idol quasi bei lebendigem Leibe die Haut abzieht. Bei der Suche stieß ich auf eine Fanseite von Robbie Williams im Internet mit einer angeregten Diskussion zum Clip. Auffällig ist zunächst das Medienecho, das die konkrete Rezeption erst in Gang setzt. Nicht von sich aus, sondern weil RTL ihn anruft, setzt sich der jugendliche Webmaster der Fanseite mit dem Clip auseinander. Zudem gibt RTL die Beurteilungstendenzen (blutrünstig, Zensur) gleich vor.

TotentanzDas zweite Auffällige ist das Lachen und der Rekurs auf den Humor, welche eine Vielzahl der Beiträge durchziehen. "Ich selbst musste lachen" - "etwas anderer Sinn für Humor" - "musste richtig lachen ... kenne keinen der einen so fantastischen Humor hat" - "fand es eher belustigend" - "bewundere seinen Humor" - "Spaß" - "sauwitzig ... nicht ernstgemeint". Offensichtlich wird das Video als Humoreske gelesen. Darüber hinaus werden einige Vergleichsebenen benannt: die Nachrichten, welche weitaus blutrünstiger und gewaltsamer seien, denn das Blut, das dort fließe, sei schließlich echt. Weitere Vergleichspunkte sind die Anzeigen von Benetton, die Ausstellung "Körperwelten" mit ihren plastinierten Leichen, und schließlich die Horrorfilme im Kino. Soweit bei den Fans Irritationen wahrnehmbar sind, zielen sie gleich doppelt auf Konventionalisierung: zum einen warten sie auf die "offizielle" Lesart des Clips durch den Sänger, zum anderen setzen sie auf den Gewöhnungseffekt: "Ich bin mir noch nicht so sicher, wie ich das Video finden soll ... eklig finde ich es trotzdem" - "Ich glaube bald wird er damit rausrücken was er damit sagen will" - "Beim ersten mal musste ich zwar fast kotzen aber beim zweiten mal hat es 5000 mal mehr Spaß gemacht es anzugucken wie er sich die Haut runterreißt ... Guckt es euch mehrmals an dann findet ihr es gar nicht mehr soooo schlimm." - "ich kann mir so was grade noch ansehen". Sorgfältig wird zwischen verschiedenen Phasen des Clips differenziert. Auch wem der blutige Schluss nicht gefällt, findet zumindest die Entkleidungsszene noch hip: "Außerdem finde ich den Anfang ziemlich sexy... ;-)" - "Ganz zu schweigen davon, wie er aussieht, bevor er sich die Haut abzieht ... lecker!!!" - "Den Anfang finde ich dafür umso sexier .... er hat richtig was für seine Figur getan in letzter Zeit". Natürlich gibt es noch manche andere Auffälligkeit in der Diskussion der Fans, wie das Lob der Medienstrategie: "Ich finde es einfach cool wie R.W. dauernd die Leute verarscht und macht was ihm gefällt..." Interessant ist auch, dass die Fans den eigentlichen Gehalt des Clips nicht thematisieren. Die Frage, warum Robbie Williams sich eigentlich die Haut bei lebendigem Leibe abzieht und hinterher nur noch als Skelett dasteht, wird auf den Sänger zurückverwiesen: "Ich glaube bald wird er damit rausrücken was er damit sagen will". Deutungsarbeit gehört jedenfalls nicht zu den Stärken der Fans. Ihre Antwort lautet nur: Warum eigentlich nicht? Jedenfalls ist dieser Totentanz, der etwas kokett zeigt, wie einer "für etwas seine Haut zu Markte trägt", und dabei nicht "mit heiler Haut davonkommt", ein interessantes Kunstwerk, das vielfältige Lesarten generiert, also Wirkungen erzielt und konkrete Deutungsarbeit ermöglicht.


Religion - Medien - Pädagogik

Meine Überlegungen sind verortet im Dreieck von Religion - Medien - Pädagogik. Seit einigen Jahren wird verstärkt - vor allem im Kontext der Neuen Medien - eine intensivere Auseinandersetzung mit Medien in der Schule gefordert. Nach den Vorstellungen der Kultusminister sollen alle Fächer im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur Ausbildung von Medienkompetenz beitragen. Diese vor allem unter dem Druck der Wirtschaft und politischer Interessensverbände zustande gekommene Zielsetzung soll die SchülerInnen natürlich vor allem für die neuen Medienbranchen kompetent machen. Daneben gibt es aber weiterhin die medienpädagogische Forderung, SchülerInnen in die Lage zu versetzen, kritisch und kompetent mit Medien umzugehen und das nicht zuletzt im Medienvergleich. Bei der Beschäftigung mit Medienpädagogik lässt sich eine klare Trennung von Theorie und Praxis feststellen. Während die medienpädagogische Diskussion weit fortgeschritten ist, sieht es medientheologisch und religionspädagogisch noch nicht gut aus. Vor allem aber gibt es ein Defizit in der Bereitschaft der Lehrer, überhaupt auf neue Medien zuzugehen. Lehrer erweisen sich traditionell als Medienskeptiker.

Und dabei finden sie gewichtige Unterstützung. Die Massenmedien, so meint der Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß, "bedrohen mit dem Vorrang des Zeichens über das Wort, mit der Schockwirkung und Überflutung durch aufzunehmende Reize, mit der manipulativen Gewalt von Informationen, die sich nur noch speichern, kaum mehr in persönliche Erinnerung integrieren lassen, zugleich die Bildung von ästhetischer Erfahrung im traditionellen Sinn." Und der Symboldidaktiker Peter Biehl meint, dass "die allegorischen Figuren der Comic-Strips, TV-Serien und Video-Clips, die zu Kultfiguren werden können, in ihrer Oberflächlichkeit wie eine Sperre gegen die 'Tiefe' religiöser Symbole wirken".

Der Medienwissenschaftler Umberto Eco kommentiert diese Haltung ironisch so: "Es waren einmal die Massenmedien, sie waren böse, man weiß, und es gab einen Schuldigen. Ferner gab es die Tugendhaften, die ihre Verbrechen anklagten. Und die Kunst (ah, zum Glück), die Alternativen anbot für jene, die nicht Gefangene der Massenmedien sein wollten. Gut, das alles ist nun vorbei. Wir müssen noch einmal ganz von vorne anfangen, uns zu fragen, was läuft." [U. Eco, Die Multiplizierung der Medien]

Und dennoch begegne ich weiterhin bei Lehrerfortbildungen jenen Pädagogen, die ostentativ auf die Nutzung der Massenmedien verzichten, dies als programmatisch und pädagogisch sinnvollen Akt verstehen und deshalb kulturelle Phänomene wie den Fernsehsender MTV und seine Geschichte oder den Kino-Kultfilm Matrix nicht wahrnehmen wollen und können. Ihr Urteil über die Massenmedien scheint unveränderlich festzustehen. Damit verlieren sie jedoch auch einen Teil der Alltagsrealität der Jugendlichen aus dem Blick. Im Blick auf die Pädagogik hat Umberto Eco aber schon 1983 festgestellt: "Allerdings muss die Schule (und die Gesellschaft, und nicht allein für die Jugendlichen) auch lernen, neue Fertigkeiten im Umgang mit den Massenmedien zu lehren."

Erst 1995 haben die Kultusminister dies auch zum Programm für deutsche Schulen bestimmt. Nach der Erklärung der Kultusministerkonferenz Medienpädagogik in der Schule soll künftig verstärkt auf den Umgang mit Medien eingegangen werden. "Medienpädagogik in der Schule muss von einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber der Medienwelt ausgehen und mit angemessenen Unterrichtsmethoden bzw. Arbeitsformen auf die vielfältigen und z.T. disparaten Erfahrungen und Handlungsmuster der Heranwachsenden im Umgang mit Medien reagieren. Dies setzt die Bereitschaft der Lehrkräfte voraus, sich mit den Medienerfahrungen der Jugendlichen auseinander zu setzen ... [Es ist] erforderlich, dass die Schülerinnen und Schüler sich in der Medienwelt zurechtfinden können,... die durch Medien vermittelten Informationen, Erfahrungen und Handlungsmuster kritisch einordnen können, ... sich innerhalb einer von Medien bestimmten Welt selbstbewusst, eigenverantwortlich und produktiv verhalten zu können, d.h. dass sie ästhetische und moralische Wertmaßstäbe entwickeln, neben analytischen auch kreative Fähigkeiten aufbauen, über praktische Medienarbeit lernen, eigenen Vorstellungen und Interessen Ausdruck zu verleihen und diese auch öffentlich zu machen."

Worum es also geht, ist im schulischen Kontext den gar nicht so "geheimen Miterziehern" über die Schulter zu gucken, zum Beispiel im Blick darauf, was sie als religiöse oder ethische Werte vorstellen, welche Deutungsrahmen für gelingendes oder scheiterndes Leben sie präsentieren oder welche Bilder sie für das Verständnis der Welt liefern. Wahrzunehmen ist, wie Religion heute in den kulturellen Massen-Medien Gestalt gewinnt, wie sie ästhetisch verarbeitet wird, wie ihr Formen- und Ausdrucksmaterial recycelt wird, wie popkulturell das Erbe der Religion in säkularisierter Gestalt wiederauftaucht. Dabei arbeiten nicht alle medienpädagogischen Arbeitsfelder auf derselben Ebene, sie bedienen und bearbeiten jeweils verschiedene Funktionen und Fragestellungen der Lebensorierentierung.


Medienpädagogische Bearbeitungsfelder

Aus den verschiedenen medienpädagogischen Bearbeitungsfeldern greife ich zwei exemplarisch heraus und erwähne andere nur summarisch. Jedes dieses medienpädagogischen Arbeitsfelder ist eigener intensiver Bearbeitung wert.


Belletristik

Breitenwirksam über das Spektrum der Jugendlichen hinaus artikuliert sich vielleicht das religiöse Alltagsbewusstsein nirgendwo so deutlich, wie in den Bestsellerlisten der populären Belletristik. Über Monate, ja Jahre sind literarische Lebensdeutungsromane wie Susanna Tamaros "Geh wohin dein Herz dich trägt" unter den Top Ten der am meisten verkauften literarischen Werke. Ähnliches gilt für die diversen Arbeiten von Rosamunde Pilcher. Die sich in diesen Werken artikulierenden Weltsichten dürften einen großen Einfluss auf die Lebensdeutungen ihrer Leser haben.

Literatur ist ein Feld der populären Lebensdeutung.


Kunst

Die bildende Kunst wurde und wird im Rahmen der Medienpädagogik des Faches Religion vor allem als Beispiele zur Illustration religiöser Ideen und Geschichten herangezogen. Die Frage ist, ob damit die Möglichkeiten des Umgangs mit Kunst im Unterricht vollständig ausgeschöpft sind. Soziologische Beobachtungen des Museumspublikums und postmoderner Museumsinszenierungen zeigen zudem, dass Museen ähnlich wie religiöse Institutionen strukturiert sind: Schwellencharakter, abgegrenztes Publikum, eine bestimmte Kleidung usw. Das deutet darauf hin, dass Kunst als Religionsersatz begriffen werden kann. Sind Museen Kirchen für kulturell Interessierte? Ist die "documenta" ein religiöses Großereignis?

Kunst ist ein Feld der elitären Lebensdeutung.


Werbung

Werbung ist am Geist der Zeit. Deshalb mag ihr häufiger Bezug auf die religiöse Ikonografie überraschen. Viele erfolgreiche Werbungen - wie zum Beispiel auch die nebenstehende der Tabakfirma SAMSON - beziehen ihr Themen- und Assoziationsfeld explizit aus dem Bereich der biblischen Überlieferung.

Aber daneben gibt es eine andere, untergründige religiöse Struktur von Werbung. Werbung basiert auf dem Schema von Sünde, Heilsmittel und Erlösung.

Die Werbung hat m.E. dabei keinerlei Interesse an irgendeiner Form aktueller Religion. Ihr ist ausschließlich an der Wiederverzauberung der Welt gelegen, also an jener Form von Religion, die mit dem 19. Jahrhundert überwunden schien.

Werbung ist ein Projekt der mythischen Wiederverzauberung der Welt.


Fernsehen

Das Fernsehen fungiert in vielerlei Hinsicht zunehmend als Religionsersatz: es wird zu einer globalen Sozialisationsagentur, es strukturiert den Alltag der Menschen, und es übt via Talkshows praktische Seelsorge an den Bürgern aus. Darüber hinaus können viele Fernsehserien und Soaps als religiöses Studienmaterial gelten. Einige der vorabendlichen Fernsehserien sind konsequent als Lebensdeutungsmuster für die jugendliche Klientel aufgebaut.

Am nächsten kommt das Fernsehen der Religion jedoch bei den ganz normalen Nachrichten. Der britische Medienwissenschaftler Philip Elliot verweist auf das Presseritual, das bei jeder Katastrophe wie zum Beispiel einem Bombenattentat zu beobachten ist: "Die Bomben symbolisieren einen Angriff auf die Gesellschaft, der - in den Pressedarstellungen - von irrationalen und unsozialen Kräften ausgegangen ist. Die Stellungnahmen offizieller Repräsentanten betonen die Restitution der politischen und sozialen Ordnung. Sie bestätigen hiermit ihre Autorität und dramatisieren und personalisieren den Konflikt dergestalt, dass er als eine Auseinandersetzung der Gesellschaft mit dunklen und unheimlichen Mächten und als letztendlich erfolglose Bedrohung durch Einbrüche des Chaotischen erscheinen muß. Das Gefühl der Solidarität mit den Opfern ist in den Darstellungen vermischt mit einem impliziten Akt der Unterwerfung unter diejenigen Autoritäten, die mit der unverständlichen und willkürlichen Bedrohung zu Rande kamen. Der Willkür der depersonalisiert portraitierten Bedrohung steht eine Personalisierung der Gesellschaft durch eine Betonung der individuellen Opfer gegenüber" (Günter Thomas, Medien - Ritual - Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens. Frankfurt 1998).

Fernsehen funktioniert immer stärker als Kirche und Religion.


Internet

Die Entdeckung des Internets als religiöses Medium ist noch jüngerer Natur und viele Lehrer möchte am liebsten gar nichts damit zu tun haben. Und doch führt an der Entscheidung selbst kein Weg vorbei, denn auch der Verzicht auf den Umgang mit dem World Wide Web will religionspädagogisch reflektiert und begründet sein (denn immerhin man enthält den Schülern ein religiöses Entdeckungs-, Artikulations- und Diskussionsmedium vor). Inzwischen wird das Gespräch über die eigene religiöse Bindung und die Bedeutung der Religion unkonventionell und sehr offen im Netz geführt. Denn die mit dem Internet entwickelte Religiosität hat ja ihre Spitze gerade darin, dass sie sich an die von der Kirche und ihrer Lehre verbreitete religiöse Etikette nicht halten will, sondern die Beteiligten nun selbst als Produzenten von Theologie auftreten. Wer sich für diese Entwicklungen interessiert und mit ihnen ins Gespräch kommen will, muss versuchen - in den Worten des Theologen Henning Luther -, "dem spezifischen Eigensinn der Alltagskommunikation gerecht zu werden und gerade die darin enthaltenen, virulenten und latenten, Fragen, Widersprüche und kritischen Einsprüche gegen religiös-ideologische Gewissheiten und dogmatische Behauptungen aufzuschlüsseln suchen". Und dafür bietet sich das Internet an.

Wenn diese Beschreibung zutrifft, dann darf das Internet im Religionsunterricht nicht nur einfach als Recherche- und Informationsmedium genutzt werden. Vielmehr bedarf es gerade im Religionsunterricht ergänzender Reflexionen darüber, was im Netz geschieht, wie es sich entwickelt und welche Bedeutung es für die Zukunft des einzelnen Menschen und der Gesellschaft hat. Die hier zu nennenden Stichworte wären etwa die Rückwirkungen der Virtualisierung auf den menschlichen Körper (auch als Anfrage an die realpräsentische Organisation der Kirche), die sich abzeichnenden Veränderung in der Interpretation des Mensch-Maschine-Verhältnisses (nicht zuletzt als Frage nach ethischen und religiösen Kriterien), die drohende Wissenskluft der Informationsgesellschaft (als pädagogische Herausforderung z.B. für den Hauptschulunterricht), die sich abzeichnende Veränderung des linearen Wissens zugunsten einer zunehmend verlinkten und intertextuellen Kultur. Alle diese Punkte haben Bedeutung für den Religionsunterricht.

Das Internet jedenfalls ist ebenso ein genuin religiöses Medium wie auch ein Ort ungezwungener religiöser Kommunikation.


Pop-Musik und Videoclips

Der Konsum von Musik ist im Blick auf die Freizeitbeschäftigung das signifikanteste Unterscheidungsmerkmal der Jugendlichen vom Rest unserer Bevölkerung. Während die Jugendlichen weniger fernsehen und weniger Zeitung lesen als alle anderen, übertreffen sie diese beim Musikhören um 34 Prozentpunkte. Und diese Musik ist zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Sinn der Welt, mit dem, was heute Bedeutung hat und was nicht. In diesem Sinne artikulieren sich in den Texten der populären Musik und in ihren Videoclips ganze Wertewelten. Vielleicht kann man Video-Clips am besten verstehen, wenn man sie als eigene Kunstgattung begreift, die zugleich von den Nachbarkünsten Musik, Film, Literatur, Comic, bildende Kunst profitiert und deren beste Künstler zu Höchstleistungen animiert. Die Übergänge von der Werbung, vom Spiel- und Kino-Film, von der bildenden Kunst zum Videoclip und zurück sind fließend. Schnelle Schnitte, Bilder, die kaskadenartig auf die Netzhaut schießen, eine sich mitbewegende Kamera, Szenenzusammenhänge, die der Betrachter in Bruchteilen von Sekunden erst selbst herstellen muss, all das hat diese MTV-Bilderwelt nicht nur hervorgebracht, sondern auch zum Kriterium der Beurteilung anderer Medien ausgebildet.

Die Herausforderung, die das Medium darstellt, ist schnell einsichtig: für die Wahrnehmung einer ans Zappen gewöhnten jugendlichen Fangemeinde muss eine optisch-akustisch-textliche Miniaturerzählung hergestellt werden, die alle Erwartungen erfüllt: sie muss neu, aufregend, spaßorientiert, sinnlich, anders, actiongeladen und sinnstiftend zugleich sein. Letztlich geht es darum, drei oder vier Minuten lang die Leute nicht nur bei der Stange zu halten, sondern sie zugleich vom so beworbenen "Produkt" einzunehmen. Es gilt m.a.W., die Lebenswelt und die Gefühlswelt der jungen Zuschauer einzufangen, mit ihr zu arbeiten und zugleich den eigenen ästhetisch-kulturellen Ansprüchen der Macher und Produzenten gerecht zu werden. Keine leichte Aufgabe! Videoclips sind ein Medium, dass die aktuellen Tendenzen in der Jugendwelt ebenso aufgreift wie auch beeinflusst. Es ist ein besonders zeitnahes Medium, aber auch ein schnelllebiges. Nach fünf Monaten sind Videoclips bereits wieder vergessen. Und doch gilt:

Videoclips sind vielleicht das bedeutendste Spiegelbild der Zeichen- und Gedankenwelt der Jugendlichen.


Kino

Der Bereich des Kinos gehört zu jenen medialen Feldern, auf denen die evangelische Kirche in der Gegenwart noch am kompetentesten wirkt. Vielleicht liegt es daran, dass sie hier erst gar nicht versucht, beeinflussend tätig zu werden, sondern nur zunehmend qualifiziert Stellung bezieht. Auch ist die Literaturlage auf diesem Gebiet relativ gut. Dies gilt in ungleich geringerem Maße für die Religionspädagogik und den Religionsunterricht. Hier fehlt es noch an grundlegenden religionspädagogischen Besinnungen.

Zunehmend gewinnen Kinofilme als Orientierungsmuster an Geltung. Die Erfahrungswelt der Menschen nicht nur der westlichen Hemisphäre wird zunehmend durch Hollywood geprägt. Als im Mai letzten Jahres der Luxusdampfer Sun Vista mit 1104 Menschen an Bord vor der Westküste Malaysias sank, sangen die von Bord in die Rettungsboote Fliehenden die Titelmelodie von "Titanic": "My heart will go on" um, so wörtlich, "ihre Ruhe zu bewahren". Das ist schon bemerkenswert: Die Substitution des Gebets durch einen Song von Celine Dion. Und auch in Kontaktanzeigen erweist sich Hollywood als Inszenierungsmuster: Lass uns lieben wie in 9 ½ Wochen!

Kinofilme stellen daher in mehrfacher Hinsicht eine besondere Herausforderung für den Religionsunterricht dar, denn sie bieten ein interessantes Spektrum religionspädagogisch belangvoller Themen. Auf der Suche nach möglichen religiösen Grundzügen hat Jörg Herrmann die populärsten Kinofilme der letzten zehn Jahre untersucht. Im Ergebnis differenziert er zunächst nach expliziter und impliziter Religion. Zum Vorkommen expliziter Religion im populären Film der Gegenwart stellt er fest: "Der populäre Film bezieht sich in eklektizistischer Weise auf das symbolische Material der jüdisch-christlichen Tradition. Eine zentrale Rolle spielen diese Referenzen jedoch in der Regel nicht." Im Blick auf die implizite Religion arbeitet Herrmann drei Entdeckungszusammenhänge für die theologische und damit auch für die religionspädagogische Arbeit heraus: die Liebe, die Natur und das Erhabene. In allen drei Kontexten arbeitet das Kino an neuen Perspektiven und Szenarien. Deshalb muss man folgern:

Das Kino ist ein aktueller Generator lebensweltlicher Deutungsmuster.


Medienumgang im Religionsunterricht

Ganz grundsätzlich sehe ich mindestens fünf verschiedene Ansatzpunkte, sich im skizzierten Beziehungsfeld Religion - Medien - Pädagogik mit den unterschiedlichen Medien auseinander- und sie einzusetzen.


1. Der konventionelle Medieneinsatz zu bestimmten Themen

Das ist die klassische und etablierte Form von Medienpädagogik. Man hat ein Thema, das man bearbeiten will, also z.B. "Auferstehung", "Euthanasie", "Reformation" oder "Erste Liebe" und sucht nun nach geeigneten audio-visuellen Medien. Medien kommt dabei vor allem eine so genannte "Enrichment"- Funktion zu, sie führen in ein Thema ein, reichern es an oder beleuchten einen bestimmten Aspekt. Hier helfen einem diverse Kataloge, Medien-Kursbücher und Modellkarteien für Lehr- und Arbeitsmittel. Inzwischen ist auch das Internet mit seinen spezialisierten Datenbanken hinzugekommen. Die eigentliche Revolution auf diesem Gebiet steht den Schulen aber noch bevor, nämlich der Umstieg von den klassischen analogen hin zu den digitalen Medien. Nahezu jedes analoge Medium wird in Kürze digital zur Verfügung stehen und eine neue Form der pädagogischen, didaktischen und methodischen Annäherung ermöglichen.

2. Die Reflexion der Medialität von Religion

Religionen und Konfessionen werden auch nach bestimmten Medien differenziert, so werden etwa Judentum, Christentum und Islam als "Buchreligionen" bezeichnet, oder die evangelische Kirche als Kirche des Wortes. Medien spielen in der Geschichte der Religionen eine so bedeutende Rolle, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken. So kann man durchaus fragen, ob der Erfolg der Reformation ohne den Beginn des Gutenberg-Zeitalters oder der damit verbundenen Flugblätter und Flugschriften denkbar gewesen wäre? Man kann fragen, ob sich eine Religion durch die Medienformen der Gegenwart ändert, was etwa am Beispiel der Fernseh-Kirchen in den USA zu überprüfen wäre. Man kann der Frage nachgehen, ob heute Verkündigung nicht als Information begriffen werden muß. Und man kann am Beispiel der First Church of Cyberspace darüber nachdenken, wie Kommunikationsnetze wie das Internet langfristig die Religion verändern werden.

3. Die Medienkritik durch Religion/Kirche/Theologie.

Historisch hat sich dieser Themenkomplex vor allem in der Gegenüberstellung etwa von Bild und Wort artikuliert, eine Tradition, die sich im islamischen Fundamentalismus bis in die Gegenwart in Form von Fernsehverboten fortsetzt. Eine Spezialität religiöser Medienkritik nach dem 2. Weltkrieg war lange Zeit die moralische Intervention im Blick auf Kino, Literatur und Fernsehen. Die Kirche nimmt hier die gesellschaftliche Rolle eines (selbsternannten) Wächters wahr. Noch heute wird die Kirche insbesondere in dieser Funktion in der Öffentlichkeit wahrgenommen, exemplarisch deutlich wurde dies z.B. in der Auseinandersetzung um die Big-Brother-Inszenierung.

4. Explizite Religion in den Medien

Die Darstellung, Selbstdarstellung und vor allem die Wahrnehmung von Religion in den Medien ist ein weiterer Aspekt. Das ist wesentlich komplizierter, als es sich zunächst anhört. Ist es noch einfach, der Selbstrepräsentation der Kirchen und Religionen in den Medien zu folgen, wird es mit der Darstellung und vor allem mit der Wahrnehmung von Religion schwieriger. Kann man Serien wie"Raumschiff Enterprise" oder"Gute Zeiten, schlechte Zeiten" unter dem Aspekt der Religion wahrnehmen? Prägt der Kultfilm "Matrix" vielleicht das Erlöserbild einer ganzen Generation? Ist der Cyberspace des Internet eine gott-analoge Vorstellung? Ist der Heilige Geist etwas ähnliches wie die Virtualität der Neuen Medien? Wichtig scheint mir dabei die Aneignung einer Deutungskompetenz zu sein, welche es ermöglicht, zu bestimmten Phänomenen mit guten Gründen zu sagen: hier liegen genuin religiöse Strukturen vor.

5. Die implizite Religion der (Massen-) Medien

Neben der erwähnten expliziten Religion in den Medien gibt es auch noch eine implizite Religiosität der Massenmedien. So könnte man die Tagesschau mit ihrer seit 40 Jahren ungebrochenen Tradition der rituellen Unterbrechung des Alltags verbunden mit einer Selbstvorstellung des Mediums durchaus als religiöse Institution bezeichnen. Implizit religiös ist auch regelmäßig die Struktur der Werbung, bei der dem Sünder, dem seine Sündhaftigkeit erst vor Augen geführt werden muß ein untrüglicher Weg zur Erlösung mit einem bestimmten Heilmittel gewiesen wird. Ähnlich ist es beim Vorgang der Kunstwahrnehmung, bei dem jeweils bestimmte Institutionen die Kunstwerke heiligen, d.h. als wertvoll erscheinen lassen. Die Reihe dieser Beispiele mehr oder weniger impliziter Religiosität ließe sich noch weiterführen. Deutlich wird dabei vor allem, dass fast alle massenmedialen Erscheinungsformen bestimmte Züge der traditionellen Religion beerbt und bestimmte religiöse Funktionen übernommen haben.

© Andreas Mertin, 2001