Modern talking
Erzählungen vom und im Internet
von Andreas Mertin
aus: Il buco. Religionspädagogische Fortbildung und Beiträge, Trier 2/00, S.22
Und über dem allen, mein Sohn, lass dich warnen; denn des vielen Websitemachens ist kein Ende, und viel Online-Lektüre macht den Leib müde. (nach Prediger 12, 12).
Das Internet unter dem Aspekt des Erzählens zu betrachten, hat einen ambivalenten Reiz. Vermutlich kommt das Internet hier dem Phänomen des weißen Rauschens außerordentlich nahe. Wer sich ins World Wide Web einwählt, wird von Geschichten, Erzählungen, Bekenntnissen, Mythen und Informationen nur so überschüttet, so dass er kaum noch in der Lage ist, zwischen einzelnen Artikulationen zu unterscheiden. Allein auf das Stichwort Jesus meldet Alltheweb, die umfangreichste Suchmaschine des Netzes, über 2 Millionen Webseiten, die zu diesem Thema etwas kundtun wollen. Eine nicht mehr überschaubare, geschweige denn zu qualifizierende Informationsfülle. Und nicht nur in religiösen Fragen ist das Internet ein Erzähl-Moloch. Ungefragt berichten Menschen von ihren Erlebnissen und Lebenswelten, stellen ihre Hobbys und Phantasien vor, sammeln Bruchstücke ihrer Alltagswelt und stellen sie ins Netz, so dass man kaum feststellen kann, was wichtig und was nichtig ist.
Im eigentlichen Sinn des Wortes wird dabei im Internet aber kaum erzählt, sondern allenfalls über das Erzählen gesprochen. So gerinnt jede Erzählung zu langatmigen Text- und Bilderfolgen. Ähnlich wie im Kinofilm Matrix fließen die Zeichen über den Bildschirm, ohne dass sie in einer kunstvollen Erzählung Gestalt annähmen.
Und doch kann man mit einiger Plausibilität behaupten, dass zumindest einige Züge des Internets selbst auf einer Erzählung basiert. Denn es gehört zu den interessanten Fakten der jüngsten Literaturgeschichte, dass ein Autor, der dem Umgang mit dem Computer sehr distanziert gegenüberstand, eine Textfolge schrieb, die im Anschluss von den Beschriebenen in Wirklichkeit umgesetzt wurde. Als der Schriftsteller William Gibson seine Romantrilogie über den Cyberspace schrieb, noch bevor der Cyberspace wirklich existierte, entwickelte er zugleich einen religiösen Gründungsmythos. Timothy Leary hat die Trilogie in der ihm eigenen Übertreibung als das Neue Testament des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Während der erste Cyberpunkroman Neuromancer der Frage nach der möglichen Subjektivität von künstlichen Intelligenzen nachgeht, stellt der zweite Roman Biochips die Frage nach dem absoluten Kunstwerk und dem Leben des Absoluten, also nach Gott. Gibsons drittes Epos Mona Lisa Overdrive stellt die Frage, ob sich menschliches Leben in den Cyberspace überführen lässt und so der einzelne ewiges Leben gewinnen kann. Die leitenden drei Fragen: Wer bin ich? - Wo komme ich her? - Wo gehe ich hin? sind genuin religiöse Fragen und sie haben jene tief beeinflusst, die später das Internet ausgestaltet haben.
Kommen wir zurück zum Thema "Erzählen im Internet". Vor allem geredet wird im Netz viel, insbesondere im Bereich der Chats und der Email-Kommunikation. Bei Webchats kann man sich davon überzeugen, wie viele Menschen Tag für Tag welche Themen zu welchen Zeiten für die Online-Kommunikation bevorzugen, bei Dejanews kann man abfragen, was denn so in den Diskussionsgruppen des Netzes erörtert wurde. Es ist eine äußerst verknappte und reduzierte Form der Kommunikation, oft sehr ruppig und aggressiv, häufig auf zeichenhafte Sprache und Sprüche begrenzt.
Wer sich im Netz über das Informationsangebot zum Thema "Erzählen" informieren will, muss die so genannten Suchmaschinen benutzen. Das Thema "Erzählen im Unterricht" erbringt bei verschiedenen Suchmaschinen wie z.B. bei Google oder der Meta-Suchmaschine MetaGer eine Fülle interessanter Hinweise. So etwa auf die Domain erzaehlen.de, die u.a. mit einer nach Postleitzahlen geordneten Link- und Adressen-Liste aufwartet. Hier findet man weiterführende Links etwa auf fairytale, sowie auf das Erzählnetz der Kirchen während der Expo 2000 und vieles andere mehr.
Wendet man sich dem Thema "Erzählen im Religionsunterricht" im engeren Sinne zu, empfiehlt es sich, spezialisierte Datenbanken zu nutzen. Eine derartige Datenbank für Religionspädagogen ist das Reliweb, das alles Wichtige für die klassischen Themen des Religionsunterrichts in Form von kommentierten Links zusammenträgt. Das Reliweb sollte für jedes religionspädagogische Thema die erste Anlaufstelle sein. Hier erbringt die Recherche nach dem Stichwort "Erzählen" den Hinweis auf ein "ABC des Erzählens im Religionsunterricht" vom Staatlichen Seminar Albstadt, sowie auf eine Seite, die unter dem Titel "Alle Dinge erzählen von Gott" interreligiöse Aspekte einbringt.
Keine noch so aufwendig multimedial inszenierte Website kann jedoch die Kunst des Erzählens ersetzen oder gar überflüssig machen. Ob man sich Texte vom Computer vorlesen lässt oder Geschichten von einem Erzähler vorgetragen bekommt, ist ein himmelweiter Unterschied. Kein "Modern talking" aus den virtuellen Welten wird die personale Präsenz des Erzählers verdrängen können.
© Andreas Mertin, Hagen 2000
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