Religion im Alltag der Moderne

Elvira Bachs anspielungsreiche Bilderwelten

von Andreas Mertin

aus: Evangelische Kommentare, 9/99, S. 45-47.

Wer in Hannover in der U-Bahn-Station unter der Markthalle auf die nächste Stadtbahn wartet, kann einige bemerkenswerte Säulenheilige betrachten. An fünf Säulen sind Frauengestalten in unterschiedlichen Outfits zu sehen. Die 1951 in Neuenhain im Taunus geborene Künstlerin Elvira Bach hat hier im Rahmen des Projekts "Andere Orte - Überall" im September 1995 diese "Säulen-Bemalungen" geschaffen, welche nun ein dauerhafter Bestandteil der Haltestelle Markthalle sind. Elvira Bach zählt zu den Neuen Wilden, also jener Kunstbewegung, die in den 80er Jahren die internationale Kunstszene beherrschte und deren Malerei sich durch expressive Farbigkeit, Abkehr von der Abstraktion, Rückkehr zur figurativen Malerei und charakteristische persönliche Motive auszeichnet. Seit dieser Zeit ist es der Künstlerin gelungen, mit ihrer Malerei ein Stück Geistesgegenwart einzufangen, etwas vom Selbstverständnis unserer Zeit. Elvira Bach hat 1067 bis 1979 an der Glasfachschule Hadamar, 1972 bis 1979 an der Hochschule für Bildende Künste Berlin bei Hann Trier studiert. Seitdem ist sie mit zahlreichen Ausstellungen in der Öffentlichkeit präsent. Elvira Bach lebt und arbeitet in Berlin. Im Rahmen ihrer Arbeiten verwendet sie immer wieder ganz unterschiedliche künstlerische Medien.

Unter den Kunstwerken, die Elvira Bach in Hannovers Untergrund an die Säulen gemalt hat, befinden sich auch zwei mit deutlichen Bezügen zur religiösen Ikonografie. Da sieht man z.B. an einer blau grundierten Säule eine selbstbewusst die Vorbeigehenden anblickende Frauengestalt. Ihr Körper und ihre Kleidung sind in fleischfarbenen Tönen gehalten, um ihren Hals hat sie - fast wie ein Mode-Accessoir eine Schlange drapiert. Kopf und Schwanz der Schlange hält sie sicher in ihren Händen. Auf ihrem Kopf trägt sie einen Apfel. Schlange und Apfel verweisen auf die biblische Paradiesgeschichte, nur dass Eva hier nicht als verführtes und verführendes Wesen erscheint, sondern eine Aktivistin in eigener Sache ist, ein Frauenbild der Gegenwart repräsentiert.

An einer anderen Säule ist eine weitere Frauengestalt zu sehen, diesmal ganz in Gelbtönen, den Betrachter direkt anblickend und mit den Händen drei Symbole haltend: ein weißes Kreuz, ein gelbes Herz und ein weißer Anker. Gerade die von Elvira Bach hier verwendete Kombination von Anker, Herz und Kreuz hat eine besondere Tradition: sie erfreute sich vor allem in der protestantischen Zeichenwelt einiger Beliebtheit. Statt einer komplexen figurativen Darstellung von Tugend- und Lasterkatalogen - die der Protestantismus ablehnte - wurde nach 1. Korinther 13,13 auf die Dreiheit der theologischen Tugenden verwiesen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Elvira Bach entwendet diese Zeichen dem traditionellen religiösen Kontext und stellt sie in der hektischen Alltagswelt der Großstadt Hannover in neue Zeichenzusammenhänge: Kreuz, Herz, Anker sind gleichzeitig auch beliebte Zeichen beim Körperschmuck, Sedimente religiöser Zeichenwelten in der Lebenswelt der Menschen am ausgehenden 2. Jahrtausend.

Diese Anspielungen auf die Symbol- und Zeichenwelt der christlichen Religion geschehen bei Elvira Bach nicht beiläufig, sie haben im Rahmen ihres Oeuvres eine lange Tradition. Immer wieder greift sie auf dieses religiöse Vokabular zurück, variiert es, ironisiert es, stellt es in neue, überraschende Kontexte.

"Trouble in Paradise" lauten Elvira Bachs einleitende Worte zu einem Katalog aus dem Jahr 1984 mit dem Titel "Schlangenakte", in welchem die Bilder der Künstlerin in fröhlich-ernster Distanz und gleichzeitiger ironischer Bezugnahme um das dramatische Geschehen im Paradies kreisen. Elvira Bach zeichnet dabei immer wieder sich selbst - mit brauner, gelber, weißer, rosa Haut - in enger symbiotischer Verbindung mit einer Schlange. So sieht man auf einem Triptychon von insgesamt fast 4 m Breite und 2,3 m Höhe mit dem Titel "Essen vom Baum des Lebens" auf der linken Seite eine fallende Frau nach Art des Engelsturzes, in der Mitte einen Schwarzen mit Maske vor einem blauen Kreuz, der eine Frau waagerecht auf Händen trägt, aus deren Kopf sich weitere Frauenwesen schlängeln und auf der rechten Seite sitzt eine Frau, um deren Kopf sich eine Schlange windet: Trouble in Paradise.

Keinen Titel trug ursprünglich das ebenfalls 1984 entstandene Werk für die Ausstellung "Die andere Eva". Das Bild ist auf Anfrage eines kirchlichen Veranstalters gemalt worden, der "Wandlungen eines biblischen Frauenbildes" nachgehen wollte. Inzwischen trägt das Bild selbst den Titel "Die andere Eva" und kann als Stellungnahme der Künstlerin zum aktuellen Frauenbild verstanden werden. "Meine eigene Befindlichkeit zeigen - ausdrücken, was ich weiß - erahne - mir vorstelle - erträume - erhoffe - es geht nur um die Frage der Schönheit - das ist das Entscheidende für den Künstler" schreibt Elvira Bach zu ihren Werken. Das mit Kunstharz auf Leinwand gemalte Bild ist mit 230x190 cm überlebensgroß. Die Zeichnung und Farbsetzung ist ganz und gar nicht dezent, eher wild und prächtig. Die Strichführung ist grob, die abgrenzenden Linien sind sehr breit gesetzt. Die Thematik der biblischen Eva kommt nur durch die Schlange zum Ausdruck, sonstige Anklänge an den biblischen Bezugstext fehlen. Von der Ikonografie her ließe sich ebenso an den Bildtypus der kretischen Schlangengöttin denken. Bei der ersten Begegnung fasziniert die machtvolle Gestaltung der Frauenfigur. Elvira Bach formuliert nach ihrem eigenen Bekunden das Selbstverständnis der Frauen am Ende des 2. Jahrtausends. Aus der Rezeption dieses Bildes wird deutlich, dass viele Betrachterinnen diesen Standpunkt teilen.

Elvira Bach zeichnet die selbstsichere junge Frau nicht als Opfer männlicher Schaulust, sie tritt vielmehr dem Betrachter aktiv entgegen, fordert ihn heraus. Um Hals, Schultern und Arme hat sie die Schlange wie eine Stola drapiert, deren Schwanz und züngelnden Kopf sie wie eine Schlangenbändigerin mit sicherem Griff hält. Dabei entsteht nicht der Eindruck, als ob die Schlange bedrohlich wäre. Zwar ist das Haupt des Reptils der Frau zugewandt, aber sie scheint mit dieser eher im Einklang zu stehen, tänzerisch-spielerisch mit ihr verbunden zu sein. Frau und Schlange bilden eine harmonische Einheit. Die Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen war, so wird berichtet, gut zu essen, lieblich anzuschauen und begehrenswert um klug zu machen. Vorgestellt wird so ein Bild der modernen Frau, die ihre Sinne für Essen, Schauen und Denken beisammen hat. Das ist nicht die übliche Trennung in niedere (sinnliche) und höhere (geistige) Qualitäten, sondern der Entwurf des ganzheitlichen Menschen.

Ein anderes Bild von Elvira Bach setzt sich mit Maria und Jesus auseinander. Unter dem Titel "We don't need no troubles, what we need is love" steht wiederum eine selbstbewusst wirkende Frau mit kantigen Körperformen im Zentrum. Mit beiden Händen hat sie ein Kind emporgerissen, als wolle sie es vor einer Gefahr schützen. In der rechten Hand hält sie ein Messer. Ihre Körperhaltung drückt die Bereitschaft zur Verteidigung aus, ihr Gesicht zeigt keine Angst, eher die Entschlossenheit, das Kind zu verteidigen, auch wenn sie dazu das Messer benutzen muss. Das Kind hebt sich in "kostbaren" Gold- und Gelbtönen vom dunklen Hintergrund ab. Seine Gesichtszüge wirken ungeformt und unfertig. Es scheint noch nicht zu verstehen, was mit ihm und um es herum vorgeht. Alles spielt sich in dunklem, undurchsichtigem Wasser ab. Die Assoziationen sind vielfältig. Da ist zum einen die an die Geburtsszene Christi, den Jubel der Maria über ihr Kind, das sie jedoch bald gegen eine feindlich gesonnene Umwelt verteidigen und schützen muss. Es ist aber auch die Assoziation mit der Christopherus-Legende möglich, doch wäre dann die Szene eigentümlich verändert. Während sich in der Legende alles um die Macht und Stärke Christi dreht, wird in der Arbeit von Elvira Bach die Abhängigkeit Jesu betont: die so vorgestellte 'Christophera' (= "die Christus trug") nimmt das Leben selbst in die Hand.

Die Bilder Elvira Bachs sind keine Illustrationen christlicher Heilsgeschichte. Wer sie so versteht, hat sie missverstanden. Eher sind es Ergebnisse der Aneignung und Umformung, der Uminterpretation kultureller Versatzstücke des Christentums, die am Ende des 2. Jahrtausends frei floatierend geworden sind. Aber ihre Verwendung durch Elvira Bach ist auch nicht beliebig oder willkürlich, wie wir es manchmal in der Werbung beobachten können. Mit ihren Werken greift sie das in den Überlieferungen steckende Problempotential auf, bearbeitet es künstlerisch, nimmt öffentlich Stellung, bezieht es zugleich radikal subjektiv auf sich selbst. Und bei all dem bleibt die Verbindung zur christlichen Kunstgeschichte frappierend. Die Kunst der Katakomben, die die Frühzeit der Christenheit charakterisiert, wird in neuer und überraschender Weise in Hannovers "Unterwelt" reaktiviert, aber die Frauengestalten der Elvira Bach an den Säulen der Großstadt künden ihre eigene Botschaft.


© Andreas Mertin, Hagen 1999