Apologie der ergrauten Besserwisser

Zur kulturhermeneutischen Annäherung an die Popmusik

von Andreas Mertin

aus: medien praktisch 1/99, S. 59-61.

Wenn man sonst nichts zu tun hat, entfacht man einen Streit, denn Streit belebt das Geschäft. So ähnlich könnte die Diskussion um das Thema "Popmusik und Religion" in medien praktisch entstanden sein. Und da ich gerade einen freien Nachmittag habe, beteilige ich mich daran.

Popmusik als Schauplatz quasireligiöser Selbstverklärung (Elisabeth Hurth), Popmusik als jugendliches Reflexionsmedium (Udo Feist), Popmusik als Feld der Spurensuche nach der Spiritualität jugendlicher Subjekte (Gerd Buschmann), so lauten die bisher gesetzten Markierungen. Und natürlich bieten die jeweiligen Äußerungen den beteiligten DebattenteilnehmerInnen genügend Material, um aufeinander ein- und zurückzuschlagen. Polemik ersetzt das Argument, ohne daß ersichtlich wäre, worum und warum eigentlich gestritten wird. Denn letztlich sind sich alle drei doch einig: Es geht zum einen um die Bedeutung von Religion in der Popmusik, egal ob sie nun positiv oder negativ qualifiziert wird, und es geht zum anderen um die Art und Weise der Aneignung von Jugendkultur. Strittig ist nur, wie mit Religion umgegangen wird, und ob man den Jugendlichen mit der Ingebrauchnahme ihrer Musik zu nahe tritt. Dabei scheint mir nun ein dritter Gesichtspunkt zu wenig betrachtet zu werden, nämlich die Wahrnehmung der Popmusik und ihrer Vermittlungsformen als bedeutendes kulturelles Phänomen der Gegenwart, das unabhängig vom Vorkommen von Religion und allem Jugendwahn zum Trotz eine genauere Betrachtung verdient.

Religion als Thema
Doch zunächst zum Thema "Religion in der Popmusik". Das Problem der Beschäftigung mit dem Thema Religion in der populären Kultur ist weitgehend das, daß die Kriterien dazu nicht allgemeinen kulturellen Standards entnommen werden, sondern daß sich Theologen auf die Suche nach dem Eigenen im Fremden begeben und - mit einem Wort Adornos - aufatmen, wenn ihre Sache überhaupt nur verhandelt wird. Auf diese Weise wird eine kulturelle Deutungskompetenz in Sachen Religion gerade nicht erreicht. Mich persönlich interessiert das ganze Gerede um Spiritualität, Pop-Religiosität, Gnosis, Synkretismus usw. wirklich nur am Rande. Nicht deshalb beschäftige ich mich mit Popmusik und ihrer aktuellen Vermittlungsform, dem Video-Clip. Mir geht es um das Verstehen kultureller Phänomene in der Gegenwart, ganz gleich ob sie nun als Film, Popmusik, Video-Clip oder im Internet auftreten. Meine Religion wird nicht glaubwürdiger, wenn sie in der Gegenwartskultur vorkommt, sie wird aber auch nicht unglaubwürdiger, wenn sie nicht vorkommt. Aber ihre Glaubwürdigkeit erweist sich m.E. an der Fähigkeit, mit Gegenwartskultur umzugehen, d.h. diese auf den Deutungsrahmen der jüdisch-christlichen Erzähltradition zu beziehen.

Aber dennoch möchte ich einmal bei den Kritikern der religiösen Vereinnahmung von Popmusik zurückfragen: Was spricht eigentlich dagegen, vereint mit Popmusikern wie Madonna oder Michael Jackson, Joan Osborne oder Coolio die Jugendlichen darauf hinzuweisen, daß man der Religion nicht mit der Religionskritik des 19. Jahrhunderts entkommen ist, sondern daß die christliche Religion in allen kulturellen Sparten der Gegenwart ein ernsthaft diskutiertes und ernstgenommenes Phänomen ist? Nur klischeeorientierte Menschen hören das nicht gerne. Und nur der, der mit dem Christentum als angeblicher Ausdrucksform der Vergangenheit schon abgeschlossen hat, kommt auf die Idee, die Religion der zeitgenössischen populären Musik sei vitaler als die zeitgenössische Theologie oder die höchst lebendige Gemeindekultur der Gegenwart. Hier schlagen eher ungeklärte subjektive Probleme mit der institutionalisierten Religion zu Buche, als daß man wirklich schon in der Lage wäre, die christlichen Großkirchen für tot zu erklären.

Auch die anscheinend selbstverständliche Darstellung von Popmusik als Religionsersatz will nicht recht einleuchten. Mir scheint es im Gegenteil so zu sein, daß populäre Musik, populäres Kino und populäre Literatur immer noch konstitutiv auf Religion und religiöse Formeln gerade auch kirchlicher Provenienz angewiesen sind. Zu viele Videoclips greifen ganz selbstverständlich auf kirchliche Ausdrucksformen zurück, in zu vielen Kinofilmen der Gegenwart werden Inszenierungen verwendet, die umstandslos der Liturgie christlicher Gottesdienste entnommen wurden.

Mythisch und reflexionslos zugleich erscheint mir jedenfalls die Rede von der funktionalen Äquivalenz dieser Sparten der Kulturindustrie zur Religion. In 50 Jahren wird niemand mehr von Madonna, Michael Jackson oder den Backstreet Boys reden, sie werden ebenso vergessen sein wie die populäre Kultur des 19. Jahrhunderts. Die kulturelle Deutungskraft des Christentums wird aber auch dann noch weiter bestehen.

Überhaupt setzen Substitutionstheorien eine bemerkenswerte Ignoranz gegenüber den Differenzierungsbewegungen der Moderne voraus. Die Moderne als eine Abfolge einander ersetzender Phänomene zu verstehen, greift entschieden zu kurz. Vielmehr differenzieren sich immer mehr Bereiche in eigene Diskurse aus. Dazu gehört eben auch die populäre Musik, die dabei allerdings keinesfalls elementare religiöse Funktionen übernommen hat, sondern im Gebiet der "kleinen Transzendenzen" einen Ausdrucksschwerpunkt gesucht und gefunden hat.

Aneignung von Jugendkultur?

Merkwürdig auch die Vergottung des Jugendkultes, die zwei der Diskussionsbeiträge auszeichnet. Da wird so getan, als sei die Welt der Jugendlichen das Nonplusultra, für die das "Noli me tangere" unhinterfragt gelte, als sei gerade die Popmusik der einzige Bereich, in der die Alt-68er-Denunziationsformel "Trau keinem über 30" noch Gültigkeit habe. Müßig der Hinweis darauf, daß eine Vielzahl der Produzenten von Popmusik doch gerade zur Generation der Debattenteilnehmer gehört. Die 40jährige Madonna als Jugendphänomen, über das ein 40jähriger Zeitgenosse, der zufällig Lehrer ist, mit Jüngeren nicht reden darf? Würde jemand den Einwand, die Stücke Thomas Bernhards seien ein ausgesprochenes Phänomen kulturbürgerlicher Abgrenzungsversuche, als Argument für die Nichtbeschäftigung mit dem Œuvre dieses Künstlers ernstnehmen? Wohl kaum. Mir ist die Popmusik jedenfalls viel zu schade, um sie als Abgrenzungsphänomen Jugendlicher für pädagogische Bearbeitungen zu tabuisieren und damit links liegen zu lassen.

Und schließlich: Warum darf Popmusik eigentlich nicht pädagogisch instrumentalisiert werden? Popmusik ist selbst ein durch und durch rationalisiertes und instrumentalisiertes kulturelles Phänomen, welches seinerseits z.B. religiöse Stereotypen für eigene Zwecke ohne Bedenken instrumentalisiert. Popmusik ist kein Bereich kultureller Autonomie - und ist auch von seinen Produzenten niemals als solcher reklamiert worden. Popmusik ist ein Bereich der Kulturindustrie - und niemand artikuliert dies ehrlicher als die am Geschäft Beteiligten. Und im Rahmen dieser kulturindustriellen Produkte spielt Religion offensichtlich eine Rolle. Darüber kann und sollte man reden: warum das so ist, in welchen Formen es artikuliert wird, wie es rezipiert wird usw.

Verstehen von Gegenwartskultur

Kulturwissenschaftlich betrachtet hat die religionspädagogische Debatte um die Popmusik die Bedeutung des Mediums überhaupt noch nicht erreicht. Angedient wird einem immer noch die Vorstellung, die Notwendigkeit der religionspädagogischen Beschäftigung mit populärer Kultur entspringe ihren religiösen Gehalten. Das wird insbesondere aus der Mehrzahl der von Gerd Buschmann zusammengetragenen Anmerkungen deutlich. Das zentrale religionspädagogische Argument für die Auseinandersetzung mit der Popmusik kann m.E. aber nicht sein, daß man hier wie auch immer codierte religiöse Elemente findet, sondern vielmehr, daß es sich um Kultur, um Gegenwartskultur handelt. Das entkräftet auch das Argument der vorschnellen Anpassung an die Jugendwelten durch die Lehrer. Sind Popmusik und die sie vermittelnden Videoclips Teile der kulturellen Auseinandersetzungen um die Gegenwart, dann kann und darf ein Pädagoge ihnen nicht aus dem Wege gehen. Ist die Popkultur ein "Medienvirus", der auf die Umcodierung der Kultur der Gegenwart zielt, wie der Medientheoretiker Douglas Rushkoff plausibel macht, dann ist es eine kulturelle Überlebensfrage, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Keine Lehrerin, kein Lehrer in den geisteswissenschaftlichen Fächern kann heute angemessen Unterricht erteilen, ohne sich eine wenigstens oberflächliche Kenntnis dieses Teils der Gegenwartskultur verschafft zu haben.

Deshalb ist auch nicht, wie Bernd Schwarze meint, Begeisterung eine Voraussetzung des Unterrichtsgeschehens. So wahr es ist, daß man jedem Lehrer und jeder Lehrerin eventuelle Anbiederungsversuche anmerken wird, so wenig wird man deshalb auf die Auseinandersetzung mit dem Medium selbst verzichten können. Der Satz "Damit würde ich mich bei den Jugendlichen nur anbiedern" darf gerade keine Entschuldigung für kulturhermeneutische Ignoranz werden. Was gefragt ist, ist die analytische Kraft kulturhermeneutisch sich verstehender PädagogInnen (m.a.W. der von Udo Feist als Besserwisser Typisierten), die ihre kulturelle Deutungskompetenz den SchülerInnen zur Verfügung stellen, um ihnen weitere Subtexte der gehörten Musik und der betrachteten Videoclips zu erschließen.

Wenn in einem Universitätsseminar keiner der Anwesenden den durch den Videoclip One of Us von Joan Osborne geknüpften Verweis auf Michelangelos Erschaffung der Gestirne durch Gott zu lesen weiß, dann bedeutet dies faktisch einen elementaren Verlust in der Wahrnehmung dieses Stücks. Und wenn niemand die Re-Inszenierung der Werke von Hieronymus Bosch im Video-Clip Until it Sleeps von Metallica erkennt, dann ist auch hier im Blick auf die subjektive Aneignung durch die Jugendlichen etwas schiefgelaufen. Anderenfalls würde man die kulturellen Bemühungen der Musikproduzenten für überflüssig erklären.

In dieser Frage kann man Madonna, die selbst sehr viel Wert auf die kulturellen Gehalte ihrer Arbeit legt, nur recht geben: "Wir werden zwar in technischer Hinsicht immer fortschrittlicher, aber in unserem Innersten immer furchtsamer. Denn überall greift die Dummheit um sich. Die Qualität der Schulausbildung ist an einem Tiefpunkt angelangt. Schulen sind doch keine Orte mehr, an denen Leute etwas lernen, sondern Ställe, in denen Lehrer als Babysitter fungieren und wo auf sie geschossen wird. Das Resultat: Unsere Jugend verblödet. Es erstaunt mich immer wieder, wenn ich mit Leuten in ihren Zwanzigern rede und feststelle, daß die nicht mal die Klassiker gelesen haben, Dinge, die ich noch aus meiner Kindheit kenne. Wenn du nichts weißt und nichts verstehst, wächst die Angst in dir. Wissen, Intelligenz und Selbstvertrauen sind die wichtigsten Werkzeuge, die man braucht, um mit Veränderungen fertig zu werden."

Nachtrag

Wenn man schon andere beleidigen will, sollte man die richtigen Vokabeln wählen. Als vergreist bezeichnet man seit dem 19. Jahrhundert jemand, der vorzeitig alt geworden ist, also in unserem Fall jemanden, der noch das richtige Alter für den Umgang mit Popmusik hätte, sich aber nicht mehr damit beschäftigt. Das trifft für den inkriminierten Personenkreis nun gerade nicht zu. Allenfalls Jugendlichkeitswahn könnte man ihnen unterstellen, aber auch das wäre aus den gezeigten Gründen eher fragwürdig. Darüber hinaus hat das Wort "greis" (= grau) eine überraschende Bedeutungsvielfalt. Es hängt ebenso mit den früheren Näherinnen und Putzmacherinnen (als Repräsentanten der Populärkultur vergangener Zeiten) wie mit dem mächtigen Grizzlybär zusammen. In diesem Kontext fühle ich mich als Ergrauter durchaus wohl.


© Andreas Mertin, Hagen 1999