Inszenierung und Vergegenwärtigung
Ästhetische und religiöse Erfahrung heute. Ein Ausstellungsführer
von Andreas Mertin und Karin Wendt
Eine kleine Geschichte der Martinskirche Kassel
Landgraf Heinrich II., ein Ur-Enkel der heiligen Elisabeth, gründete 1330 den Stadtteil 'Freiheit', um der immer größeren Bedeutung Kassels als Handels- und Residenzstadt zu entsprechen. Neuen Bürgern wurde Steuerfreiheit gewährt, damit sie sich möglichst zahlreich ansiedelten. Am höchsten Punkt westlich der Altstadt wurde Platz für die 'Große Kirche in Kassel' ausgewiesen. Sie wurde als dreischiffige Hallenkirche im gotischen Baustil mit sechs Jochen und 5/8 Chorschluss von Osten nach Westen gebaut. Am 23. Mai 1367 wurde sie als neue Pfarrkirche dem heiligen Martin geweiht. In den folgenden Jahren wurde ständig am Bau der Martinskirche gearbeitet. Während eines Gottesdienstes im Jahr 1440 stürzte aber das Dach der Kirche ein, etliche Menschen starben oder wurden verletzt. Man musste mit dem Gewölbebau wieder von vorne beginnen. 1450 wird das Kirchenschiff im wesentlichen fertiggestellt.
Ein von dem Landgrafen Philipp dem Großmütigen (1504-1567) einberufener Landtag in Homberg/Efze beschließt die Einführung der evangelischen Lehre in ganz Hessen. Philipp bestimmte die Martinskirche zur Grabeskirche für sich und seine Nachkommen. Ein Grabmal wurde nach seinem Tod 1572 an der Ostwand des Chores errichtet. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts verfügte Landgraf Moritz der Gelehrte, ein Enkel Philipps, alle Hochaltäre, Heiligenbilder und -figuren aus den Kirchen seines niederhessischen Gebietes zu entfernen. Es kam zum sog. Bildersturm, bei dem auch zahlreiche Bilder und Figuren an und in der Martinskirche vernichtet wurden. Die Martinskirche musste grundlegend erneuert werden, nachdem sie im Siebenjährigen Krieg (1756-63) zunächst als Lazarett und dann als Mehlmagazin benutzt worden war. Um 1890 kam es zu einer umfangreichen neugotischen Gestaltung.
Am 22. Oktober 1943 wurde Kassel nahezu vollständig zerstört, 10.000 Menschen kamen dabei ums Leben. Der Feuerschein über der brennenden Stadt war fast 100 Kilometer weit zu sehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte die evangelische Landeskirche von Kurhessen-Waldeck die Martinskirche zur Predigtstätte des Bischofs. 1952 lagen die Pläne für den Wiederaufbau vor. Das Dach der Chorkirche wurde erhöht. Die Grundmauern wurden erhalten und die Türme im oberen Teil neu erbaut. Am 1. Juni 1958 wurde die Martinskirche in einem festlichen Gottesdienst wieder eingeweiht.
Inszenierung und Vergegenwärtigung. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute
Zum vierten Mal zeigt die Evangelische Kirche in der Zeit der documenta in Kassel zeitgenössische Kunst in ihren Räumen. 1982 war es die Ausstellung "Abendmahl", 1987 "Ecce homo. Vom Christusbild zum Menschenbild, 1992 zuletzt "liebe und eros. Metamorphosen biblischer Tradition". Zur 10. documenta wird diese Tradition in einem veränderten Kontext fortgesetzt: Diente bisher eine leerstehende Kirche als Ausstellungsraum, findet die Ausstellung nun in einem Raum statt, der während der ganzen Zeit laufend auch religiös genutzt wird. Das heißt zugleich, dass in diesem Raum Kunst und Religion ganz unmittelbar miteinander in Gespräch kommen. Ob sie sich vertragen werden, ob sie sich bereichern und in Frage stellen, das wird im Verlauf der 100 Tage dauernden Ausstellung zu sehen sein, es hängt nicht zuletzt von Ihnen, den Besuchern der Ausstellung ab, ob und inwieweit Sie sich dem hier ablaufenden Experiment der Inbezugnahme von religiöser und ästhetischer Erfahrung aussetzen. Im Folgenden stellen wir Ihnen die Kunstwerke der Ausstellung kurz vor und führen Sie durch die Martinskirche.
Alba D'Urbano: Il verbo, 1997
Wer sich der Martinskirche zum Haupteingang hin nähert, findet über dem Eingang der Kirche ein überdimensioniertes Schild, das aus der Ferne zunächst wie eine graue Fläche wirkt, die sich freilich bei näherer Betrachtung in kaum zu zählende Farbpixel auflöst. In Anlehnung an traditionelle religiöse Bildprogramme über Kirchenportalen hat die Künstlerin Alba D'Urbano den deutschen Bibeltext des Alten und Neuen Testaments in der revidierten Übersetzung Martin Luthers grafisch als Farbbildinformation ausgegeben, wobei jeweils drei Buchstaben einem Farbpixel entsprechen [s. Titelbild]. 100 Tage lang blickt man scheinbar auf einen modernen Werbeträger ohne Botschaft. Der Text des "Wort Gottes" ist in Form der analogen Daten fast unkenntlich gemacht (tatsächlich lassen sich jedoch einige Stellen rekonstruieren, weil längere Passagen in Großbuchstaben als dunkle Striche auf dem Bild erscheinen).
Madeleine Dietz: Installation Licht - Erde, 1997
Beim Betreten der Kirche, direkt unter dem linken Westturm, findet der Besucher eine Installation der Künstlerin Madeleine Dietz. Sie hat den Boden kreisförmig mit frischer Erde ausgelegt. Die Raumöffnungen sind verhängt und der Erdhaufen wird durch eine Lichtprojektion kegelförmig angestrahlt. Die Materie wird dann ihrem natürlichen Entwicklungsprozess überlassen - Erde, "die in Verbindung mit Wasser zu einem formbaren Material wird, ausgebreitet am Boden Risse bildend, der eigenen Gesetzmäßigkeit folgend zu Erdschollen zerbricht." (M. Dietz). Im Gestus der Arte Povera werden elementare Materialien in ihrer Ästhetik erforscht. Der Prozesscharakter der Arbeit transportiert "das ewige Spiel um Formbehauptung und Formauflösung". Versteht man Kirchen als Orte, an denen Menschen Station machen oder sich zu öffentlichen Ereignissen versammeln: heiraten, taufen, beerdigen, dann lenkt Dietz mit ihrer Installation den Blick auf die materialen Gegebenheiten und die formalen Charakteristika des Ortes: ein Stück Erde, auf dem man steht. Ein ähnlich symbolisch verdichteter Ort ist das Paradies. Während die Installation in einem neutralen Ausstellungskontext die Aufmerksamkeit ausschließlich auf sich selbst ziehen würde, erinnert sie in einem religiösen Kontext an die Paradies-Erzählung und die Schöpfungsgeschichte. So findet man im Eingangsbereich der Kirche - der seit den Anfängen des christlichen Kirchenbaus das "Paradies" genannt wurde - häufig Darstellungen der Paradies-Erzählung. Materialien und Komposition der Arbeit von Dietz rufen Erinnerungen an den Schöpfungsbericht der Priesterschrift hervor: Die Trennung von Licht und Dunkelheit, die Scheidung von Wasser und Festland erscheinen modellhaft inszeniert.
Beim Betreten des Hauptschiffes fallen dem Betrachter einige Veränderungen auf. Manche "Gegenstände" sind ungewöhnlich für das Erscheinungsbild einer Kirche, andere könnten jedoch dauerhaft zu dieser Kirche gehören.
Christina Kubisch: Über die Stille
Durch inszenatorische Eingriffe in den räumlichen Kontext verändert sich das atmosphärische Moment des Raumes. Die Installation "Über die Stille" von Christina Kubisch verändert die elektrische Beleuchtung an der westlichen Rückwand des Hauptschiffes unter der Empore rechts vom Eingang. Schwarze Geldscheinprüfer mit Schwarzlicht, wie sie heute in Banken verwendet werden, werden an die Wand montiert und ähneln damit stilisierten aufgeschlagenen Buchrücken. Unterhalb der "aufgeschlagenen Bücher" sind Plexiglastafeln geschraubt, hinter die mit fluoreszierendem Pigment poetische oder erzählerische Textfragmente ganz unterschiedlicher Literaten aus verschiedenen kulturellen Kontexten aufgedruckt sind, deren gemeinsames Thema die Stille ist. Im Kontext Kirchenraum wird man an steinerne Gedächtnistafeln mit eingravierter Schrift erinnert. Der "Körper der Schrift" schreibt sich dem Licht ein und das Licht lässt die Schrift hervortreten, so dass jeweils das eine durch das andere erscheint. In der Zusammenfügung von Technik und poetischem Gestus entsteht eine Art sichtbarer Gedanken-Raum. An magischen Orten verliert der reale Raum an Überzeugungskraft. "Im Licht der Dämmerung" transformiert der gleichermaßen immaterielle Charakter von Licht und Schrift damit auch den allzu einleuchtenden Dualismus von Form und Inhalt. "Endlich gegen Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner Seele, klarer und bleibender wurden die Bilder."
Christian Hanussek, ohne Titel, 1996
Die Werke von Christian Hanussek, auf die der Betrachter dann im Bereich der zweiten Seitenjoche stößt, thematisieren den Raum als Problem bildnerischer Darstellung. Acht in Glas eingefasste, ungerahmte Transparentpapiere, in Augenhöhe im Raum im stumpfen Winkel zueinander gehängt, zeigen insgesamt vier nackte waagerecht gelagerte Körper, zweimal in Vorderansicht und zweimal in Rückenansicht. Einzigen Halt bieten die nahezu transparenten Flächen, um die sich der Raum zweidimensional zu lichten scheint. Gemäß dem Versuch einer Vermessung erscheinen die Körperteile an unsichtbaren Markierungspunkten so in die Geometrie der Aufzeichnungsebene eingespannt, dass Entsprechungen, Wiederholungen oder Spiegelungen deutlich werden. Durch die gewählten Papierformate entstehen jeweils Bruchstellen auf der Mitte der Körper, die zur Spannung der Körper in Konflikt treten. Die Körper selbst bleiben davon seltsam unberührt. Sie fügen sich in die Fläche und entziehen sich dem Blick, der sie zu feststellbaren Tatsachen machen will. Ähnlich den stummen, überwachen Augen ägyptischer Figuren scheinen sie sich zunehmend nach innen zu kehren, um an zeichenhafter Präsenz zu gewinnen. Sie begegnen dem Betrachter in zeichnerischer Freiheit: Ohne spezifisches Gewicht sind sie kunstvoll in allen Einzelheiten durchgestaltet. Die zweidimensionale Dichte bei gleichzeitiger materialer Transparenz lässt die Bilder zu schemenhaften Landkarten einer erinnerten Körperlandschaft werden.
Christian Hanussek, Möbiusschleife, 1996
Auf der gegenüberliegenden Seite der Kirche sieht der Betrachter ein sogenannten Möbiusband. Mit dem "Möbiusband" löst Christian Hanussek die Zweidimensionalität der Fläche auf und fügt sie zu einer unendlich ineinander greifenden Schleife von Innen und Außen. An unsichtbaren Fäden aufgehängt scheint sie wie ein überdimensionales Modell im Raum zu schweben. Die Körper sind hier mit flüssiger bräunlicher Farbe so auf gelbe Pappe aufgetragen, dass sich die Konturen wie Rückstände auf der Fläche abzeichnen. Hanusseks Arbeit folgt der Beschreibung des Mathematikers August Ferdinand Möbius: Das Möbiussche Band ist "eine einseitige Fläche, veranschaulicht durch einen länglichen Papierstreifen ABA'B', der so zusammengeheftet wird, dass die Punkte AB' bzw. BA' zur Deckung kommen. Wird, von einer Stelle ausgehend, das M.B. in einer Richtung fortlaufend bemalt, dann wird es, ohne dass ein Rand überschritten wurde, überall bemalt sein." (A.F. Möbius, 1865) Im Umschreiten und beim Betreten des Bandes erfährt der Betrachter, dass es keine Innen- und Außenseite und keinen logischen Anfang und Ende des Kunstwerks gibt. Das Möbiusband wird so mit den in die Schleife gebannten Körperschemen zum Zeichen-Modell für die unsichtbare Grenze zwischen Außenraum und Innenwelt, zwischen der Schwerelosigkeit von Wahrnehmung und dem Gesetz der körperlichen Schwerkraft.
Victoria Bell: Fractal. Thermodynamics, 1987
Die amerikanische Künstlerin Viktoria Bell hat sich intensiv mit den Fragen des Lebensraums, mit denen des Universums und seinen Gesetzmäßigkeiten auseinander gesetzt. Ihre Holzskulpturen bieten dem Betrachter viele unterschiedliche Ansichten und sind bei aller scheinbar formalen Ungeordnetheit durchgehend konstruiert. Ihre Holzskulpturen vermitteln ästhetisch das Empfinden von großer Freiheit und ihre formale Asymmetrie bezeugt Natürlichkeit. Die Künstlerin bereitete 1988 ein Projekt vor, das den Titel trug "Der Kurs des Flugzeugs ist noch nicht festgelegt worden". In diesem Zusammenhang beschäftigte sie sich auch mit der Thermodynamik und der Quantenphysik. Ihre Arbeit "Fractal. Thermodynamics" ist raumgreifend und rauminterpretierend. Die Arbeit folgt Victoria Bells Einsicht: "...etwas im Universum geht verloren, ohne dass man es wiederbekommt. Man kann nicht auf dem selben Weg zurückgehen" (Victoria Bell).
Robert Schad, Alltag 1988
Den Mittelgang des Hauptschiffes verstellt die Skulptur "Alltag 1988" von Robert Schad. Diese "Zeichnung im Raum" zwingt den Besucher, sich entweder an der Skulptur vorbei zu zwängen, sie gewissermaßen zu überholen, oder einen anderen Weg zur Begehung der Kirche zu wählen. So ist man zunächst aufgefordert, über die architektonische Bewegungsdynamik, aber auch die in der Liturgie und bei der eigenen Kirchenbesichtigung vollzogene Bewegung nachzudenken. Indem man auf den linearen Bewegungsimpuls, der von einem axial ausgerichteten Raum ausgeht, aufmerksam wird, werden grundsätzliche Einsichten in die Zusammenhänge zwischen Architektur und Körper, zwischen "Fleisch und Stein" ermöglicht. Gleichzeitig irritiert "Alltag 1988" die linear zentrierte Wahrnehmung. Die gestischen Ausdrucksqualitäten von "Alltag 1988", turbulent und lustvoll, zaghaft und kunstvoll, sperrig und widerspruchsvoll, scheinen den Raum zu bewerten. Quasi seismographisch zeichnet der Stahl architektonische Ungereimtheiten, Spannungen und Gewichtungen, Bewegungen und Stimmen, auf. Der Betrachter entwirft so einen erlebten Zeit-Raum, in dem die räumliche Erstreckung der Skulptur als Ereignis aufgefasst wird.
Alba D'Urbano: Hautnah: quem quaeritis non est hic
Verteilt über den Chor und auf dem Aufgang zur rechten Empore finden sich einige Details einer Arbeit von Alba D'Urbano. Sie thematisiert das vielfach gebrochene Verhältnis von ästhetisch-körperlicher Erfahrung und medialer Vermittlung. Das Projekt "Hautnah" unterzieht ihren eigenen Körper einer vielschichtigen Verwandlung. Fotos vom nackten Körper wurden digitalisiert und so verarbeitet, dass sie den Schnittmustern eines Anzugs entsprechen. Dann werden die Computerbilder in Lebensgröße auf Stoff ausgedruckt, ausgeschnitten und zu einem eng anliegenden Overall zusammengenäht. In Form eines Kleidungsstückes hängt der Körper schließlich auf einem Bügel über dem Aufgang zur Empore. Die Verbindungspunkte zwischen Innen und Außen, die primären Sinnesorgane Augen, Nase, Mund, Hände und Füße fehlen zunächst. Der Betrachter muß sie im Chor der Kirche aufsuchen. Dort findet er - jeweils separat - Symbole für Hände, Füße, Kopf: ein paar Handschuhe, ein Paar Schuhe, manipulierte Porträtfotos. "Hautnah" akzentuiert das Thema der äußeren Grenze des Menschen. Im religiösen Kontext gerät der aufgehängte Körperanzug zum abgelegten Kostüm des "Schauspiels" der Menschwerdung Gottes. In der räumlichen Metapher vom Leib als dem "Tempel Gottes" (1. Korinther 3,16; 6,19) kommt es auf der anderen Seite zu einer unendlichen Entgrenzung des Körpers nach innen. Verbunden mit den Leibfragmenten ist eine Klanginstallation, die auf komplexe Weise das Bild des Körpers mit dem Grundriss der Kirche verbindet. Diese Collage wurde vom Computer abgetastet und die gefundenen Bildpixel in Buchstaben umgesetzt, die nun als Texte in verschiedenen Sprachen und unterschiedlicher Akzentuierung zu hören ist. Jener Prozeß vom Text zum Bild, der auf dem großen Bild über dem Eingang der Kirche vor Augen geführt wird, wird also nunmehr im Inneren der Kirche umgekehrt: Aus dem Bild wird das gesprochene Wort.
Madeleine Dietz, Altarinstallation, 1997
Der Altarbereich der Kirche wird immer als besondere räumliche Verdichtung verstanden. Madeleine Dietz hat den bisherigen Altar unter einem zusammengesetzten Stahlschober verschwinden lassen und darauf in gleicher Breite eine hohe Wand aus parallel geschichteten Erdschollen errichtet, wodurch Kreuz und Altar den Blicken entzogen werden. Durch die künstlerische Neuinszenierung des Altarbereichs wird das rituelle Zentrum vollständig verändert und auf seine formalen Gegebenheiten reduziert. Diese Konfrontation zwingt zu einem Vergleich mit dem gewohnten Anblick und den vertrauten Assoziationen. Gleichzeitig wird der Ort neu definiert: Die produktive Spannung von organischen und anorganischen Materialien, von geschlossener Fläche und fragiler Schichtung entwickelt eine eigene Faszination. Als Handlungsort ist der Altar untrennbar mit seiner liturgischen Funktion verschmolzen. Die Neuinszenierung des Altarbereichs weckt Assoziationen an Kultstätten. Da kein bestimmter Ritus zum Ausdruck kommt, wird die Konzentration auf das Rituelle selbst gelenkt. Insofern Rituale der Herstellung einer Ordnung dienen, die den Einbruch des lebensbedrohenden Chaos' abwehren soll, wirkt die Installation von Madeleine Dietz ambivalent, weil sie Chaos und Ordnung zugleich impliziert: sie (zer)stört das Erscheinungsbild des vertrauten Rituals und sorgt durch die Modifikation des Erscheinungsbildes gleichzeitig dafür, dass das Ritual nicht in leerer Konvention erstarrt, sondern eine neue Ordnung finden kann.
Thomas Lohmann: Karl Hofer, Hl. Martin, 1997
Links von der Kanzel hängt "normalerweise" eines der wenigen original erhaltenen Gemälde Karl Hofers. Es zeigt den Heiligen Martin von Tours. Hofer, der zu den als entartet boykottierten Künstlern gehörte, hat in dieser 1936 gemalten Arbeit auch ein allegorisches Plädoyer menschlicher Solidarität und Opferungsbereitschaft entworfen. Das Gemälde wird für die Dauer der Ausstellung entfernt und durch eine Arbeit ersetzt, in der Thomas Lohmann das Werk Hofers einer künstlerischen Befragung unterzieht. Ein mit Wachs überzogenes und entsprechend bearbeitetes Foto des Bild wird an die Stelle des Original gehängt. Damit wiederholt Lohmann einen Vorgang, den auch schon Hofer durchgeführt hatte. Denn auch Hofer hatte sich künstlerisch schon auf eine Vorlage bezogen: auf das Ölgemälde "Der heilige Martin" von El Greco aus den Jahren 1598-99. Künstler haben zu allen Zeiten sich mit künstlerischen "Vorfahren" auseinander gesetzt, um einem Vorbild ihre Referenz zu erweisen, neue Sehweisen zu thematisieren oder eigene Gestaltungsprobleme zu lösen. Die Geschichte dieser Auseinandersetzungen ist spannend, und die kunsthistorischen Räume, in denen die Bilddialoge stattfinden, sind so verschachtelt, dass die Unterscheidung von Frage und Antwort meist schwer fällt. Im religiösen Raum, der sich als ein Raum der Begegnung versteht, können diese Dialoge etwas von ihrem musealen Charakter verlieren und an Präsenz gewinnen.
Wir verlassen nun das Hauptschiff durch die Tür links neben der Arbeit von Thomas Lohmann und gehen links die Treppe nach unten zur Gruft unter dem Kapitelsaal. Vor dem Betreten der Gruft durch die Schleuse können Sie sich anhand einiger Dokumente über das Schicksal der Särge der Landgrafen informieren.
Christina Kubisch: In memoriam, 1997
In der Gruft findet sich dann eine weitere Installation von Christina Kubisch mit dem Titel in memoriam. An den vier Särgen der Kinder des Landgrafen Karl sind Schwarzlichtlampen angebracht und beleuchten Farbfelder, die mit fluoreszierendem Pigment erzeugt wurden. Durch die Inversion der gewohnten Lichtverhältnisse erscheinen die Inschriften und die Särge selbst lichtmoduliert. Spuren der Verwitterung, die mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen sind, werden sichtbar gemacht. Zusätzlich erfüllt elektronische Musik den Raum: Festplattengeräusche, die je nach Programm verschiedene, aber einander ähnliche Klangstrukturen erzeugen, wobei Kubisch Vorgänge zur Archivierung und Dokumentation der Installation als Ausgangsmaterial verwendet. Die entstehende scheinbar körperlose Licht- und Klanglandschaft ermöglicht dabei eine synästhetische und spezifisch diskontinuierliche Erfahrung von Räumlichkeit. Im Versuch einer atmosphärischen Archäologie erfährt das Moment der Vergegenwärtigung des Erinnerungsvorganges eine zeichenhafte Komplexisierung. Bilder werden zu Klängen. Klänge werden zu Stimmen. Stimmen werden zu Bildern. Der Grabgesang der Hessischen Landgrafenfamilie scheint unheimlich. Im Schwarzlicht der Gruft verwandelt er sich jedoch für einen Augenblick in ein Landschaftsbild jener "toten Zone absoluten Schweigens".
Nach dem Besuch der Gruft der Hessischen Landgrafen kann der Besucher nun über die Treppe nach ganz oben auf die Empore gehen. Dort bekommt er einen weiten Blick auf das Hauptschiff der Kirche und kann die unten bereits betrachteten Werke in einer veränderten Perspektive wahrnehmen. Auf der Empore sind zwei weitere Kunstwerke platziert, die auch schon vom Hauptschiff aus sichtbar waren.
Thomas Lohmann, Roma 22, 1997
An einer Wand findet sich die zweite Arbeit von Thomas Lohmann. Das Werk "Roma 22" zeigt Abbildungen zweier nackter Skulpturen, die in einer Fotomontage zusammengefügt wurden. Durch Wachsüberzug und Einritzungen auf der Oberfläche verleiht Lohmann dem Figurenbild eine neue Aura.
Günter Scharein: Großer Blauklang, 1990
Über der Empore hängt das Triptychon "Großer Blauklang" von Günter Scharein. Seit 1979 hat Scharein die Idee des Bildes als Farbraum in verschiedenen Varianten des Altarbildes realisiert. Bei näherem Hinsehen erkennt man, dass sich die subtil modulierten Farbübergänge aus kleinsten Bildpunkten zusammensetzen. Gewissenhaft fügt Günter Scharein Strich an Strich, bis lichthaft an- und abschwellende Farbe die Leinwand bedeckt und sie räumlich öffnet. Die Auflösung der Farbe in feine Punkte bewirkt, dass die Leinwand durchleuchtet und damit entmaterialisiert erscheint, nicht aber einen illusionären Bildtiefenraum eröffnet. Die minimalen Unterschiede sind strenggenommen nicht mehr verbalisierbar. Dabei geht es nicht um die Überforderung des Sehens, sondern um die Schärfung eines differenzierenden Sehens. Das erste Werk der Altarserie war eine Farbparaphrase des Isenheimer Altars mit dem Titel "hommage an meister mathis" und folgte der Vorlage in der Farbwahl. Die hier ausgestellte Arbeit versucht, in der Konzentration auf eine einzige Farbe, nämlich der Farbe Blau, der Raumkomposition von Verkündigung, Kreuzigung und Auferstehung des Isenheimer Altars in radikaler Reduktion nachzugehen.
Auf der gegenüberliegenden Seite kann man zwei weitere, kleinere Arbeiten von Günter Scharein betrachten: "Kaltlicht" aus dem Jahr 1988 und "Au contraire" aus dem Jahr 1994/95. Letzteres arbeitet, wie der Titel schon andeutet, mit Komplementärfarben. Beide Arbeiten setzen Farbakzentuierungen im Kirchenraum.
Abschließend führt der Weg in den Chorraum der Kirche. Dort findet der Besucher die bereits erwähnten Fragmente aus der Arbeit von Alba D'Urbano: die Handschuhe, die Schuhe, die verfremdeten Porträts.
Victoria Bell: Mask, 1990
Die Arbeit "Mask" von Victoria Bell zeigt ein ovales in Form einer archaischen Gesichtsmaske skulpiertes Holzstück, verkantet mit einem sie stützenden grob behauenen Holzblock. Im Nachvollzug der Formvolumen entstehen für den Betrachter kontinuierliche Irritationen von Innen und Außen. Höhlungen werden zu konkaven Wölbungen und umgekehrt. Bei wechselnden Betrachterpositionen verkomplizieren sich diese Umkehrungen bis hin zur Auflösung der figurativen Momente. Bei näherer Beobachtung findet auch eine Umverteilung der Massen statt: Die sich nach unten verjüngende und überlängte Maske scheint auf dem Kopf zu stehen und durch den Holzblock nur mangelhaft gestützt zu werden. Intuitiv erkennt man jedoch, dass die beiden in hohem Maße eigenständigen und voneinander unterschiedenen Formen in der einzig möglichen Weise miteinander verschränkt und aufeinander bezogen sind. Im kirchlichen Kontext erfährt die Arbeit "Mask" zusätzlich eine spezifisch religiöse Anreicherung. "Die Ursprünge der religiösen Rituale, soweit sie überhaupt noch erkennbar, konfrontieren uns mit Masken." Mittels der Maske kann der Mensch im Rollenspiel sein Selbst- und Weltverhältnis thematisieren und ausprobieren.
Damit haben Sie nun alle Kunstwerke der Inszenierung dieser Ausstellung gesehen. Alle Werke bezogen sich in der einen oder anderen Weise auf den Raum, alle Werke veränderten die gewohnten Wahrnehmungen und Verhaltensweisen in einer Kirche. Die Frage, wie sich religiöse und ästhetische Erfahrung heute zueinander verhalten, muß nun von Ihnen beantwortet werden. Vielleicht kehren Sie noch einmal in das Hauptschiff der Kirche zurück und lassen die Kirche und ihre Inszenierung als Ganzes auf sich wirken.
© Mertin/Wendt, Hagen/Münster 1997
Zur Ausstellung erschien das Buch:
Herrmann/Mertin/Valtink, Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute. Fink-Verlag München 1997, ca. 320 S., 72,- DM
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