Die Paradieserzählung in der Kunst

zwischen Utopie und Ideologie

Von Andreas Mertin

zuerst veröffentlicht in: forum religion 1/96

Wann und wie wir uns auch mittels kunstgeschichtlicher Werke der Paradieserzählung nähern, so befinden wir uns immer schon in der christlichen Auslegungsgeschichte dieser Erzählung. Eine Darstellung des Paradiesgeschehens, die sich allein nach dem Text der Hebräischen Bibel richtete, gibt es nicht. Schon die Darstellung des Schöpfergottes, welcher zudem als trinitarischer Gott vorgestellt wird, paßt nicht in die jüdische Auslegungsgeschichte. Auch die Ausstattung der Schlange mit den Gesichtszügen der Eva ist christlich Ursprungs. Darüber hinaus fließen zahlreiche andere zeitgenössische theologische, folkloristische und anthropologische Vorstellungen in die Bildgestaltung ein. Für den Künstler des Mittelalters ist es völlig selbstverständlich, Adam und Eva in zeitgenössischem, etwa höfischem Outfit zu zeigen (Kleidung, Haartracht etc.) und sie auch in einem entsprechenden Ambiente zu plazieren. Darin entspricht ihnen die Werbung von heute, die Adam und Eva ebenfalls in einer merkwürdigen Mixtur von Einst und Jetzt mit Lederboots, Unterwäsche, PKW oder Zigaretten ausstatten kann. Mit der künstlerischen Gestaltung ist zugleich festgelegt, in welcher Funktion die Paradieserzählung verwendet wird, ob als wehmütige Erinnerung ehemals paradiesischer Zustände, ob zur Denunziation des weiblichen Teils der Menschheit, ob zur Darstellung einer zutiefst pessimistischen Sicht der Welt oder als hoffnungsvolle Projektion des neuen Paradieses als einer ausstehenden glücklichen Zukunft. Das primäre ideologische Interesse an der Paradieserzählung war und ist der Sünden-Fall der Eva, wirksam in der Rezeptionsgeschichte bis in die heutige Werbung. Das sich an der Darstellung der Eva ausprägende bzw. in sie hineinprojizierte Frauenbild ist bis in die Gegenwart ein wirkungsmächtiger Mythos geblieben. Es gibt aber auch die Rückerinnerung an das verlorene Paradies im Sinne einer utopischen Qualität, als Ort des Tierfriedens und der versöhnten Natur. Die Darstellung des Paradieses kann der städtischen Kultur entgegengesetzt werden, aber die städtische Kultur selbst kann als himmlisches Jerusalem Ausdruck von Paradiesvorstellungen sein.

Natur

Die frühesten Darstellungen des Paradieses zeigen ein Idyll. Blumen, Bäume, Girlanden, Vögel und exotische Tiere zieren einen Garten, der nicht selten auch den Guten Hirten beherbergt. Besonders prachtvolle Darstellungen dieser Art sind die Mosaiken von Ravenna. Eine Paradiesdarstellung finden wir z.B. im Apsismosaik von San Apollinare in Classe, wo der heilige Apollinaris mit den zwölf Apostel, dargestellt als Lämmer, im Paradies weilt. Aber dieses Mosaik stellt nicht das Paradies der Urgeschichte, sondern das wiederhergestellte Paradies der Endzeit dar, weshalb wir auch keine Anspielung auf Adam und Eva finden. Das Paradies ist hier als Kompensat irdischen Leidens gedacht, die „verklärte materielle Welt“ wird zum Ausgleich für das irdische Martyrium. Das entspricht der Schilderung des Kirchenvaters Irenäus (140-299). „Auf der Grundlage zahlreicher Zitate aus dem Alten Testament und aus apokryphen Schriften entwarf er ein Bild der erhofften neuen Welt. Wieder zum Leben erweckt, findet sich der Mensch in einer idealen Umgebung vor. Die volle Zeugungsfähigkeit des männlichen Körpers wird wiederhergestellt sein, und die Frauen werden zahlreichen Kindern das Leben schenken. Die Natur wird Wein und Getreide in Fülle schenken, so daß niemand mehr die Kräfte seines Körpers durch harte Arbeit erschöpfen muß ... Auch gibt es in der neuen Welt keine Feinde mehr. Sogar die wilden Tiere können nicht mehr als solche gelten, weil sie der menschlichen Herrschaft unterstehen“ (Bernhard Lang u. Colleen McDannell, Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, Frankfurt 1988, S. 81.)

Die Paradiesschilderung des Mittelalters entspringt der Erfahrung des entbehrungsreichen ora et labora der Mönche auf einsam gelegenen Klostergütern. „Die Bestellung des Feldes, der Anbau und die Ernte von Getreide, das Warten auf ausreichenden Regen sowie die ständige Furcht vor Mißernte ließ sie die ganze Härte bäuerlicher Existenz erfahren ... Ihre Abhängigkeit von Landwirtschaft und Wetter machte die Mönche besonders anfällig für die biblische Paradiesgeschichte. Die Gebildeten lasen sie in der lateinischen Bibel, aber jeder hörte davon in der Predigt“. Darin erfuhren sie, daß ihr mühseliges bäuerliches Leben Folge der Gesetzesübertretung des ersten Paares sei. „Eines Tages freilich wird Gott die Vertreibung rückgängig machen und den ursprünglichen, paradiesischen Zustand wiederherstellen. Am Ende der Zeiten, wenn Ordensleute und alle gerechten Menschen aus ihren irdischen Plagen entlassen werden, erschafft er eine neue Erde“ (Lang/McDannel, S. 105f.). Und diese wurde nun als Negation der bestehenden Verhältnisse begriffen: „Die Sündenstrafe, das heißt: Kälte, Hitze, Hagel, Sturm, Blitz, Donner und andere Unannehmlichkeiten werden völlig verschwinden“. Die ganze Erde wird zum Paradies und mit duftenden niemals welkenden Blumen - Lilien, Rosen und Veilchen - geschmückt sein (Lang/McDannel, S. 106). Die klösterliche Welt der Arbeit wird durch einen Lustgarten abgelöst. Im Paradies werden auch wieder paradiesische Zustände herrschen: Die Menschen werden, wie ein mittelalterliches Klosterbuch schreibt, nackt sein, aber sich durch Anstand auszeichnen und niemals wegen irgendeines Körperteils mehr erröten, als sie es jetzt wegen schöner Augen tun.

Nicht nur die Mönche, auch die Angehörigen mittelalterlicher Häresien schildern das Paradies als Ort aufgehobener Entbehrungen. Ein der Inquisition unterworfener Katharer beschreibt ‘schöne Haine mit singenden Vögeln’, die ‘weder Durst noch Hunger, Kälte oder Hitze’, sondern nur ‘gemäßigte Temperaturen’ kennen. Dementsprechend gehört die Schilderung des paradiesischen Lebens zum Standardrepertoire mönchischer Volkspredigt (Lang/McDannel, S. 108). Das Gegenbild zu diesem Paradies ist das städtische, gepflegt vor allem von den Bettelorden. Sie bevorzugen die Stadt als Bild des Himmels, welches der Kultur den Vorrang vor der Natur einräumt. Daher wechseln sie von den ersten Seiten der Bibel auf die letzten und beschreiben das neue Paradies als himmlisches Jerusalem. In der Renaissance konnte diese Gegenüberstellung in einem Bild zusammengefaßt werden. Auf einem Fresko in der Kirche Santa Maria in Piano in Loreto Aprutino aus dem Jahre 1420 zeichnet der Künstler das Jüngste Gericht: „Wenn die Toten eine schmale Brücke überschritten haben, befinden sie sich noch nicht im Paradies. Nackt werden sie vor einen Engel geführt, der ... eine Waage hält. Er wiegt die Ankommenden und weist ihnen ja nach ihrem Verdienst ihren Rang zu. Zweierlei Lohn hat er zu vergeben: den Einlaß ins Paradies und den Zugang zum neuen Jerusalem. Im Paradiesgarten klettern neun nackte heilige auf hohe Palmen mit Palmzweigen winken sie zum neuen Jerusalem hinüber ... Eine Disharmonie zwischen den beiden Bereichen - Paradies und Schloß - ist durch nichts angedeutet“ (Land/McDannel, S. 162).

Der Mönch Savonarola zeichnet in seinem Kompendium der Offenbarungen (1495) ein Bild dieses Paradieses: Er „beschreibt die unterste Ebene als ein sehr weites Feld, mit wunderbaren Paradiesblumen übersät. Kristallklare Bäche durchflossen es überall mit ruhigem Murmeln. Zahlreiche zahme Tiere - Schafe, Hermeline, Hasen, alle weißer als Schnee - spielten auf der blumenreichen Wiese. Es gab auch vielerlei Laubbäume, die Blüten und Früchte trugen, erzählt der Dominikaner, im Geäst flatterten bunte Vögel umher und sangen eine süße Melodie“ (Land/McDannel, S. 163). Über dem Paradies liegt die Himmelsstadt, die Residenz Gottes, Marias und der Engel. Eine Umsetzung dieser Gedanken finden wir in einem Stich aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, der ein Gemälde von Hieronymus Bosch wiedergibt. „Die untere Hälfte der Radierung wird von einer parkartigen Landschaft am Strand eines Meeres eingenommen. Durch eine schmale Wolkendecke getrennt, liegt darüber eine gotische Himmelsarchitektur ... Die Trennung von Paradies (Ort der Seligen) und Himmel (der Wohnort der Trinität) entspricht der Unterscheidung von Natur und Kultur. Das Paradies ist jedoch nicht ausschließlich als Garten Eden oder Hirtenlandschaft gezeichnet. Da die erlöste Natur nicht mehr dieselbe sein kann wie vor dem Sündenfall, muß sie die ursprüngliche Schöpfung übertreffen. Dementsprechend finden Elemente der Kultur Eingang ins Paradies: ein Boot ein kunstvoll gestalteter Brunnen und Zelte. Aber ... die Natur wird von der Kultur nicht verdrängt“ (Lang/McDannel, S. 164).

Wie aus diesen Schilderungen und den ihnen entsprechenden Kunstwerken deutlich wird, ist die Paradiesgeschichte der Hebräischen Bibel in der abendländischen Kunstgeschichte nicht ohne Bezug auf die eschatologische Hoffnung der Christen zu verstehen. Jedes Paradiesbild transportiert zugleich die Hoffnung der Menschen, daß ihr armseliges irdisches Dasein einmal von einem besseren abgelöst werden möge, daß die heute noch als feindlich erscheinende und nur in einem Gewaltakt zu unterwerfende Natur einmal als versöhnte, befriedete und harmonische erscheinen möge und daß die kulturellen Errungenschaften der Menschheit nicht nur wie auf der Erde wenigen Privilegierten vorbehalten, sondern am Ende der Zeiten zum Allgemeingut aller Frommen und Gerechten werde.

Keine Regel ohne Ausnahme, keine Bildtheologie ohne ihre Häresie. Die Regel ist die Schilderung des Paradieses als ungetrübter Naturfrieden, d.h. als perfektes Kunstwerk Gottes. Das aber ist kein zwingendes Motiv in der kunstgeschichtlichen Tradition. Abweichend von den theologischen Lehrmeinungen wird in den künstlerischen Darstellungen des Gartens Eden durchaus getötet und gejagt. Ein Beispiel dafür ist der Hochaltar für St. Petri in Hamburg von Meister Bertram. Auf dem Teil, der die Erschaffung der Tiere zeigt, sieht man auf der linken Seite ein Schaf, in dessen Brust sich ein Wolf verbissen hat, wobei aus der Wunde heftig das Blut spritzt. Von Jesajas Tierfrieden („Da werden die Wölfe bei den Lämmern liegen“ - „Wolf und Schaf sollen beieinander weiden“) kann keine Rede sein. Eher schon ist das Geschehen als Hinweis auf Mt 10, 16 zu interpretieren: „Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“. Und auch bei Hieronymus Bosch findet sich der bildliche Hinweis auf eine unvollkommen geschaffene Schöpfung. Im Garten Eden auf dem Triptychon mit dem zugeschriebenen Titel Das tausendjährige Reich läßt die Katze selbst im Paradies das Mausen nicht. Auf der linken Seite des Tafelteils, das das Paradies darstellt, trägt eine Katze unter den Augen von Gott, Adam und Eva, ihre Beute zwischen den Zähnen davon. Auch andere Tiere frönen ihrer Raublust im Garten Eden bereits vor dem Sündenfall. Dieses Paradies ist keinesfalls perfekt, es bedarf nicht Evas Griff zum Apfel, um das Böse auf den Plan treten zu lassen, schon vorher harrt die gesamte Schöpfung der Erlösung (Röm 8).

Schuld

Wie zeigt man Schuld auf einen Bild? Nicht die Scham des Täters über seine Tat, nicht seine Reue, sondern den Umstand, daß jemand im Moment schuldig wird. Das Thema der Schuld ist ein wichtiger Teil der Rezeptionsgeschichte des Sündenfalls. Theologisch und philosophisch betrachtet ist die Frage der Schuld erst möglich als Folge des Sündenfalls, denn Schuldig-werden wie Schuldig-sprechen setzt die Unterscheidungsfähigkeit von Gut und Böse voraus. Die erste Sünde nach dem Sündenfall wäre daher das fortgesetzte „Ich nicht, aber die da“: „Ich nicht, aber die da“ sagt zuerst Adam über Eva zu seiner Verteidigung zu Gott, dann Eva über die Schlange. Das Hauptinteresse an der Schuldfrage konzentriert sich dennoch auf den Moment, in dem Eva zur Frucht greift. Ihre Körperhaltung - zum Baum, zur Schlange, zu Adam - gibt Auskunft über den Grad ihrer Schuld: Opfer, Verführte, verführte Verführerin, Komplizin, Täterin. Versuchen wir für einen Augenblick, die Erzählung vom Geschehen im Paradies aus unserem Bewußtsein zu streichen und die Kunstwerke sozusagen unbefangen zu betrachten. Was sähe ein nicht mit der jüdisch-christlichen Tradition in Berührung gekommener Mensch auf den Bildern vom Sündenfall? Wie würde er die Szene der beiden Nackten unter dem mit einer Schlange dekorierten Baum deuten? Vielleicht als ein Märchenmotiv: zwei verlassene Menschenkinder im Gespräch mit einer hilfreichen Schlange? Als eine Tierfabel im Stil Äsops? Der europäische Betrachter weiß dagegen, daß es um Schuld geht. Ihm klingt Tertullians Schuldzuweisung an die Frauen im Ohr: Weißt du nicht, daß du eine Eva bist? Du bist es, die dem Teufel Eingang verschafft hat, du hast das Siegel jenes Baumes gebrochen, du hast zuerst das göttliche Gesetz im Stich gelassen, du bist es auch, die ihn überredete, dem der Teufel nicht zu nahen vermochte, so leicht hast du den Mann, das Ebenbild Gottes, zu Boden geworfen. Wegen deiner Schuld, das heißt um des Todes willen, mußte auch der Sohn Gottes sterben.

Konstruiert wird die Schuld in einem subtilen Wechselspiel mit diesem Vorwissen des Betrachters. Kleine Andeutungen verstärken dieses Vorwissen: parallele Haltungen, gemeinsame Blickrichtungen, Tändeleien und Annäherungen zwischen Eva und der Schlange bis zum gemeinsamen Zungenspiel (Pantheon-Bibel) auf der einen Seite und auf der anderen Seite ein abgewendeter, distanzierter, eher von der Dynamik des Geschehens ausgeschlossener oder doch erst sekundär beteiligter Adam. Ein gutes Beispiel für die sublime Schuldzuweisung ist HS Lichtenthals „Baum der Erkenntnis“ aus der Zeit nach 1235. Zu sehen sind in symmetrischer Konstruktion Adam, Eva und der Baum der Erkenntnis mit der Schlange. Auf der rechten Seite steht Eva. Sie ist sich ihrer Blöße schon bewußt und hält sie mit einem Pflanzenblatt bedeckt. Ihren rechten Arm streckt sie Adam entgegen. In der Mitte ringelt sich die Schlange um den ertragreichen Baum der Erkenntnis. Zwischen den Zähnen trägt sie einen Apfel, den sie Adam anbietet. Schlangenkopf und Armhaltung der Eva sind exakt parallel. Auf der linken Seite führt Adam einen roten Apfel zum Mund, während er mit der anderen Hand zum Apfel der Schlange greift. Adam hat aber noch nicht von der Frucht gegessen, seine Nacktheit ist ihm noch nicht bewußt. Das Bild konstruiert eine zeitliche Abfolge. Träger der Handlung ist die Schlange, welche sowohl Eva wie Adam mit der Frucht versorgt. Aber Eva wird - angedeutet durch die Parallele ihres Armes mit dem Schlangenkopf - zur aktiven Komplizin. Sie arbeitet sozusagen ‘Hand in Hand’ mit der Schlange und trägt daher auch mit dieser die gemeinsame Schuld. Adam ist es, wie am Drachen unter seinen Füßen erkennbar wird, der als neuer Adam in Gestalt Christi die Sünde überwinden und die Schuld aufheben wird.

Nacktheit

Theologie und Leibfeindlichkeit bilden keinen zwingenden Zusammenhang. Es gab und gibt innerhalb der komplexen Institution Kirche und noch deutlicher im Gesamtzusammenhang „Christentum“ sowohl puritanische wie sinnenbetonte Richtungen, wobei nicht gesagt ist, daß die puritanischen nicht ebenso sinnlich wie die anderen Richtungen sind. Es ist die Bewertung der Praxis (nicht unbedingt die Praxis selbst), die sie unterscheiden. Am Beispiel der Arbeiten Lukas Cranachs wird einsichtig, daß die Darstellung menschlicher Nacktheit auch im unmittelbaren Umkreis der Reformatoren keinerlei Einschränkungen unterlag, solange die Nacktheit christlich oder aber allgemein moralisch begründbar war. Damit entsprach die Nacktdarstellung dem Geist der Zeit, der Kunst in funktionalen Zusammenhängen dachte. Interessant ist im Kontext der Darstellung von Adam und Eva in der abendländischen Kunstgeschichte der Übergang von der Nackt- zur Akt-Darstellung. John Berger hat in seinem Essay „Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt“ (Hamburg 1974, S. 43ff.) die wesentlichen Schritte dieser Entwicklung zusammengefaßt. Ausgehend von der Sündenfall-Erzählung (Da wurden beider Augen aufgetan, und sie erkannten, daß sie nackt waren) hebt Berger hervor, daß Nacktheit „im Geist des Betrachters geboren“ wird: „Sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, weil jeder - durch das Essen des Apfels - den anderen als anders erkannte“ (Berger, S. 45). War ursprünglich das nackte Menschenpaar in eine erzählende Bildfolge eingebunden, so wird seid der Renaissance vor allem der Augenblick der Scham dargestellt: „Die beiden tragen Feigenblätter oder machen eine sittsame Geste mit ihren Händen. Aber jetzt bezieht sich ihre Scham nicht mehr so sehr aufeinander als vielmehr auf den Betrachter. Später wird die Darstellung der Scham zu einer Art Schaustellung ... Aber immer blieb die Auffassung so, daß die dargestellte Person (eine Frau) weiß, sie wird von einem Betrachter gesehen. Sie ist nicht nackt, wie sie ist. Sie ist nackt, weil der Betrachter sie sieht“ (Berger, S. 46f.) In der weltlichen Tradition wurde das Thema dann weiterentwickelt: „Man malte eine nackte Frau, weil man es genoß, sie anzuschauen man ,gab ihr einen Spiegel in die Hand und nannte das Bild Eitelkeit. So verdammte man moralisch die Frau, deren Nacktheit man zum eigenen Vergnügen dargestellt hatte“ (Berger, S. 48). Die Mehrzahl der Kunstwerke mit nackten Menschen seit der Renaissance sind Aktdarstellungen: „Als Akt wird man von anderen nackt gesehen und doch nicht als man selbst erkannt. Ein nackter Körper muß als Objekt gesehen werden, um zu einem Akt zu werden. (Betrachtet man ihn als Objekt, fördert man damit seinen Gebrauch als Objekt.) Nacktheit enthüllt sich selbst ein Akt wird zur Schau gestellt. Nacktsein bedeutet, man selbst zu sein. Ausgestelltsein bedeutet, die Oberfläche der eigenen Haut, die Haare des eigenen Körpers zu einer Art Verkleidung werden zu lassen, die - in dieser Situation - nicht mehr abgelegt werden kann. Der Akt ist dazu verdammt, niemals nackt zu sein der Akt ist eine Form der Bekleidung“ (Berger, S. 51). Dürer war der Meinung, daß der Idealakt konstruiert werden könne, wenn man den Kopf von einem Körper nimmt, die Brüste von einem anderen, die Beine von einem dritten, die Schultern von einem vierten, die Hände von einem fünften - und so weiter. Das Ergebnis würde den Menschen verherrlichen. Aber die Übung setzt eine bemerkenswerte Gleichgültigkeit dem gegenüber voraus, was ein menschliches Wesen wirklich ist“ (Berger, S. 59). Die Konstruktion des weiblichen Schönheitsideals als Objekt männlicher Begierde in der europäischen Aktmalerei hat Folgen für die Wahrnehmung und das Auftreten von Frauen bis in die Gegenwart. Zwar hat in der Kunst die Tradition der Aktdarstellung ein Ende gefunden, in Werbung, Fernsehen und Kinofilm lebt sie jedoch unvermindert fort.


Überlegungen zur Vermittlung

Wie lassen sich Kunstwerke in der Auseinandersetzung mit der Paradieserzählung einsetzen? Zunächst macht uns die Beschäftigung mit älteren Kunstwerken klar, das sich unser Blick von dem vergangener Jahrhunderte radikal unterscheidet. Unsere Optik ist sozusagen genuin historisch-kritisch, wir agieren wie Archäologen bei der Arbeit an einer Ausgrabungsstätte: Stück für Stück legen wir Textschichten frei bis wir auf die älteste Schicht gestoßen sind, blicken in die altorientalische Umwelt nach irgendwelchen Vorbildern, überlegen, was die ältesten Autoren wohl mit diesem Text bezweckt haben und schälen dann so etwas wie den theologischen Glutkern der Erzählung heraus, welcher schließlich mühsam an die heutigen Adressaten vermittelt werden muß. Ganz anders der mittelalterliche Leser dieser Erzählung. Für ihn ist die Geschichte unmittelbare Gegenwart, insofern sie auf ihn als Sünder zielt. Für ihn ist die Paradieserzählung kein historischer Stoff, sondern Teil eines Dramas, das noch keinen Abschluß gefunden hat und dem er sich als ein Rad im Getriebe verbunden weiß. Die Fokussierung, die er vornimmt, die Lesart des Text, die er pflegt, vermittelt sich allemal über das Heilsgeschehen in Christus, es ist nicht möglich, davon abzusehen. Eine Erkenntnis, die uns die Bilder vermitteln können, ist daher die Andersartigkeit des Ursprungstextes in der Perspektive anderer Zeiten. Im Vergleich mit den neueren Werken der Kunst zeigt sich ein Prozeß der Subjektivierung der Kunst, nicht nur was die künstlerische Konzeption betrifft, sondern auch in Bezug auf die Inhalte. Nicht mehr ein Ausschnitt im Drama der Heilsgeschichte, sondern auf das Drama zwischen Mann und Frau, auf die Selbstfindung der Frau, auf das lustvoll zu entdeckende Gestern im Heute kommt es den Künstlern an.


Erster Band der Bibel des Matteo de Planisio, 1362

Das vorliegende Blatt mit der Schöpfungsgeschichte und der Paradieserzählung entstammt einer dreibändigen Bibel, die wahrscheinlich um 1362 im Auftrag des Matheus de Planisio, einem Abt des Coelestiner-Klosters S. Michele in Neapel, entstanden ist. Die Bibel sollte reich mit Miniaturen und Verzierungen ausgestattet werden, jedoch bricht die Ausmalung in der Mitte des ersten Bandes ab. Neben den Miniaturen und den Initialen verfügt die Handschrift über rahmende Zierleisten mit Blatt- und Blütenmotiven, Vögeln, Tieren, Grotesken sowie menschlichen Figuren, welche häufig unbekleidet sind. Der Maler hat ein bis heute noch nicht endgültig entschlüsseltes ikonographisches Programm entfaltet, u.a. auch mit apokryphen Episoden aus der Mosesgeschichte, welche vermutlich auf die jüdische Midrasch zurückgehen. Seine Informationen könnte der Maler von Petrus Comestors "Historia Scholastica" bezogen haben. Der lateinische Text der Bibel ist in der Regel zweispaltig mit 42 Zeilen. Das Blatt, dessen Miniaturen Genesis 1-3 behandeln, ist nur einspaltig und enthält neben einer reichhaltigen Randverzierung mit zahlreichen Tieren (u.a. Elefanten, Hirsche, Löwen, Drachen, Hasen) 12 Miniaturen, von denen 6 das Sechstagewerk und 4 die Paradieserzählung behandeln. Die restlichen zwei Miniaturen zeigen die Übergabe von Schriften an zwei Heilige [A], sowie den Weltenrichter in der Mandorla, umgeben von den Engeln, angebetet von einem Mönch auf der linken und den menschlichen Stammeltern auf der rechten Seite. Unter der Mandorla die Symboltiere der vier Evangelisten [B]. Die erste Miniatur zeigt den ersten Schöpfungstag. Zu sehen ist der dreieinige Gott im Kreis der ihm treuen Engel. Einige Engel sind jedoch dunkel gezeichnet und fallen nach unten. Dieses traditionelle Motiv des Engelsturzes wird ikonographisch mit der Scheidung von Licht und Finsternis in Verbindung gebracht. Die Welt, über der Gott schwebt, ist in Form konzentrischer Kreise dargestellt, in deren Zentrum das Lamm Gottes steht. Die zweite Miniatur zeigt den zweiten Schöpfungstag und Gott als Baumeister der Welt. In der Rechten hält der dreieinige Gott einen Stab, mit dem er die Feste gestaltet. Dieses Bild ist sehr sparsam gestaltet. Die dritte Miniatur zeigt Gott bei der Differenzierung von Wasser und Land und der Begrünung der Erde. Die vierte Miniatur zeigt mit der Erschaffung der Gestirne und der Sonne und des Mondes den vierten Schöpfungstag. Die fünfte Miniatur zeigt die Erschaffung der Vögel und der Meerestiere. Die abschließende sechste Miniatur der Schöpfung zeigt neben der knapp angedeuteten Erschaffung der Landtiere, die Erschaffung Adams und, überleitend auf Gen 2, die Erschaffung Evas aus Adam. Damit endet zugleich die kreisförmige Darstellung der Szenen, welche auf ein kosmologisches Geschehen verweisen.

Die nächsten drei Miniaturen beziehen sich auf das Geschehen im Garten Eden. Die Schwierigkeit für den Illustrator besteht darin, daß er ein Element dieser Geschichte, die Erschaffung Evas, bereits im vorigen Zyklus untergebracht hat, was ihn nun an einer wörtlichen Illustration von Gen 2 und 3 hindert. Er muß die Szenen raffen, so daß die geänderte Reihenfolge nicht ins Auge fällt. Gemeinsame Elemente sind die Mauer mit Tor und die vier Paradiesflüsse. Alle drei Miniaturen plazieren Gott jeweils mit belehrender, mahnender Geste am linken Bildrand. Die siebte Miniatur zeigt die Schaffung des Garten Edens mit den Bäumen und den Paradiesflüssen (Gen 2, 8-14). Zu sehen sind Adam und Eva in andächtiger Haltung vor dem Schöpfer (vielleicht ein Verweis auf Gen 2, 15) sowie die Schar der Engel. Die achte Miniatur zeigt auf der linken Seite das Verbot vom Baum der Erkenntnis zu essen (Gen 2, 16f.), wobei die Schlange schon am Baum der Erkenntnis lauert. Auf der rechten Seite folgt sogleich der Sündenfall (Gen 3, 1-6). Die Darstellung ist symmetrisch, Adam und Eva halten je eine Frucht in der Hand. Die um den Baum gewundene Schlange trägt ein menschliches Antlitz. Die neunte Miniatur zeigt die Vertreibung aus dem Paradies mit einem Cheruben vor dem Paradiestor. Adam und Eva sind nun bekleidet, die Schlange kriecht zu ihren Füßen. Die zehnte Miniatur zeigt Gott am oberen linken Bildrand durch eine Aura deutlich vom Erdenpaar distanziert. Adam und Eva sind bei der Feldarbeit, sie treten dabei auf den Körper der Schlange.

Das Blatt bietet eine bildliche Zusammenfassung von Gen 1-3 ohne gravierende dogmatische Überfrachtungen. Es bietet sich zur parallelen Lektüre von Bild und Text an. Im Blick auf die Bearbeitung ist zunächst die dicht am Text liegende Illustration des Sechstagewerks auffällig. Abgesehen von der Darstellung des dreieinigen Gottes und dem Motiv des Engelsturzes treten keine größeren Abweichungen auf. Für die Erschaffung des ersten Menschenpaares bezieht sich der Maler auf Gen 2, komprimiert sie aber in einem Bild. Die Darstellung ist von großer Nüchternheit, der Maler hält die wichtigsten Details im Bild fest. Für die Beobachtung wichtig scheinen die standardisierten Elemente, wie die kosmischen Kreise, die Mauer um das Paradies, die Plazierung Gottes. Für die Erarbeitung der Unterschiede von erstem und zweitem Schöpfungsbericht bietet sich die Betrachtung der sechsten Miniatur als Einstieg an.

Zunächst könnte die Frage nach der formalen Gestaltung der beiden Erzählzyklen besprochen werden. Welche Gemeinsamkeiten haben die Miniaturen, wie lassen sie sich gliedern, wo gibt es Übergänge? Die Tiere am Blattrand lassen nach ihrer symbolischen Bedeutung fragen (Drache = Chaos/Teufel Hirsch = Seele der Gläubigen oder Christus Löwe = hier Symbol des Teufels Hase = Symbol der flüchtigen Zeit oder der verfolgten Seelen Elefanten = Gegner des Drachen).


Paul von Limburg, Sündenfall und Austreibung aus dem Paradies, Anfang 15. Jh.

Fast wie auf einem modernen Comic versammelt Paul von Limburg die Einzelszenen der Paradieserzählung auf seinem Bild. Im Auftrag des Herzogs Jean de Berry haben die drei Brüder von Limburg, Paul, Hermann und Jan, zwischen 1413 und 1416 zwei Werke geschaffen, die zu den Meisterwerken der internationalen Gotik zählen: die beiden Stundenbücher Les Belles Heures Du Duc De Berry und Les Très Riches Heures Du Duc De Berry. Aus letzterem stammt die vorliegende Miniatur. Im Zentrum eines kreisrunden Gartens (als Symbol der Vollkommenheit), der durch eine Mauer von der unwirtlichen Umwelt abgegrenzt ist, befindet sich ein goldener gotischer Brunnen, der über den vier Paradiesflüssen thront. Im Halbkreis sind Szenen aus der Paradieserzählung um diesen Brunnen zu sehen und zwar vom Sündenfall bis zur Vertreibung. Links erhält Eva, welche schon eine goldene Frucht in der linken Hand hält, eine zweite Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen aus der Hand der Schlange, welche als Reptil mit weiblichem Oberkörper und ähnlichem Aussehen wie Eva dargestellt ist. In der Szene rechts darunter gibt sie diese Frucht an Adam weiter, welcher am Boden kniet und eine eher abwehrende Geste macht, während Eva ihn vertraulich an der Schulter faßt. Rechts unten sieht man dann Gottvater mit langem weißen Bart, strahlender Aureole und blauer Toga im ernsten Gespräch mit Adam und Eva. Beide haben den Kopf leicht gesenkt und bedecken mit der linken Hand ihre Blöße, während Adam mit der rechten Hand auf Eva als wahrer Schuldiger deutet. Die Szene wird abgeschlossen durch die Vertreibung am rechten Bildrand. Ein roter Engel drängt Adam und Eva aus dem Paradies, welche beide ihre Nacktheit notdürftig mit einem Laubblatt bedecken. Auffällig am gesamten Bild ist die Darstellung von Adam und Eva. Während Eva mit einem vortretenden Bauch gemalt ist, wie er bei den Frauen dieser Zeit Mode war, scheint Adam eher nach dem Vorbild hellenistischer Statuen gebildet worden zu sein. Die Konzeption des Bildes zielt vollständig - auch wenn das auf den ersten Blick nicht sofort auffällt - auf die Sünde der Eva, ihre Schuld ist das Thema dieses Bildes, welches so von Maria als Mutter des Erlöser und neuer Eva abgesetzt wird.


Albrecht Dürer, Adam und Eva, 1507

In der christlichen Kunst wurde Nacktheit inhaltlich-thematisch begründet, sie trat bei Themenstellungen wie Adam und Eva, Bathseba oder Susanna im Bade auf und stand in der Regel nicht für sich, sondern war in den Verlauf der jeweiligen Bilderzählung integriert. Mit dem 15. Jahrhundert tritt in der Darstellung der Nacktheit jedoch eine Veränderung auf. Schlägt man unter den ikonographischen Stichworten Adam und Eva, Susanna, Bathseba nach, so findet sich regelmäßig der Hinweis, daß dieses Motiv im 15. und 16. Jahrhundert einem besonderen Interesse unterlag. Als die ersten Akt-Porträts gelten die Figuren Adams und Evas am Genter Altar von Jan van Eyck (1432 vollendet). An Albrecht Dürers Bildern von Adam und Eva kann (wie auch bei den entsprechenden Werken von Lukas Cranach d.Ä., Hugo van de Goes und anderen) der Umschlag von der Darstellung einer Erzählung in die sich verselbständigende Darstellung des nackten menschlichen Körpers beobachtet werden. Diese Bilder sind nicht mehr illustrativ, sie sind vielmehr von dem Interesse getragen, den Körper als nackten zu zeigen. Es ist von milder Ironie und sicherlich nicht zufällig, daß in den Hausbibeln, die ansonsten sich der christlichen Ikonographie verpflichtet wissen, gerade diese ins Säkulare übergehenden Aktstudien sich größter Beliebtheit erfreuen. Aber bei aller Tendenz zur weltlichen Darstellung war die Zeichnung des menschlichen Körpers nicht beliebig, auch die Nacktdarstellung unterlag weiterhin einem religiös orientierten dogmatischen Ideal, dem Ideal des ursprünglichen Menschen als Gottes Ebenbild: "Die Proportionen des Menschen, das waren freilich nicht die Proportionen der in den Gassen herumwimmelnden Giovannis. Sie kamen in der Wirklichkeit, streng genommen, nur dreimal vor - das erstemal bei Adam, das zweitemal bei Christus und schließlich - sozusagen als Folge einer instinktiven Wahrheitserkenntnis - bei gewissen antiken Götterstatuen wie beispielsweise dem Apollo vom Belvedere. Nach Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies waren sie von Generation zu Generation degeneriert. In der Gegenwart schienen sich die Proportionen des Mannes von der Straße zu den göttlichen ungefähr so zu verhalten wie die Proportionen der gotischen zu denjenigen der klassischen Architektur. Sie ergaben von der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit nur noch ein Zerrbild. Dieses Zerrbild, das sich in Dünn- oder Fettleibigkeit, Stiernacken oder Schwanenhälsen, Buckeln, Hühnerbrüsten, Adler- oder Himmelfahrtsnasen manifestiert, galt es zu entzerren. Das war allein schon deswegen nötig, weil die Gegenstände der meisten damaligen Bilder Personen waren, die Adam zeitlich und somit auch körperlich näher standen als der Gegenwart", also auch entsprechend diesem Ideal darzustellen waren (Alexander Perrig, Der Renaissance-Künstler als Wissenschaftler in: Funk-Kolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, hg. von Werner Busch, München/Zürich 1987, S. 649-677, hier S. 668f.)

Am Anfang der Bearbeitung kann zunächst der Rekurs auf einige Verse der Paradieserzählung stehen: Und die beiden waren nackt, der Mensch und seine Frau, aber sie schämten sich nicht voreinander (Gen 2, 25) - Da wurden beider Augen aufgetan, und sie erkannten, daß sie nackt wahren, und sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze (Gen 3, 7) - Gott, der Herr, aber rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? Der aber sprach: Ich habe einen Laut von dir gehört im Garten, da hatte ich Angst, weil ich nackt bin so verbarg ich mich. Er aber sprach: Wer hat dir gesagt, daß Du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir gebot, nicht zu essen? (Gen 3, 9-11). Dazu bemerkt der Kunsthistoriker John Berger: "Was ist das Bemerkenswerte an dieser Geschichte? Sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, weil jeder - durch das Essen des Apfels - den anderen als anders erkannte. Nacktheit wurde im Geist des Betrachters geboren" (John Berger, Das Bild der Welt in der Bilderwelt, Hamburg 1974, S. 45). Dieser Gedanke kann im Unterrichtsgespräch erörtert werden. Ist Nacktheit vom Blick des anderen abhängig? Wie entsteht Scham? Während bis zur Renaissance in der Kunst eher der Moment der gegenseitigen Scham dargestellt wurde, bezieht sich seit dem 15. Jahrhundert die Scham von Adam und Eva weniger aufeinander als vielmehr auf den Betrachter. Die Bedeckung ihrer Blöße geschieht nicht mehr, weil sie aneinander erkennen, daß sie nackt sind, sondern weil sie sich vom Betrachter beobachtet wissen. Eva "ist nicht nackt, wie sie ist. Sie ist nackt, weil der Betrachter sie sieht" (Berger, S. 47). Am Beispiel der Darstellungen von Adam und Eva von Albrecht Dürer (und anderer ähnlicher Bilder der vorhergehenden und nachfolgenden Zeit) kann diese Entwicklung studiert werden. Nun ist Nacktheit als solche für heutige Betrachter nichts Besonderes. Es ist deshalb vielleicht hilfreich, herauszuarbeiten, daß die Darstellung der Nacktheit im vorliegenden Fall denselben Vorstellungen und auch Zwängen unterliegt, wie die Darstellung von Nacktheit in der heutigen Werbung. Sie soll uns schöne, ideale Menschen präsentieren, sie soll die Aufmerksamkeit fesseln und uns von der Perfektion des Körpers überzeugen, die zugleich für die Perfektion des Produkts steht. Auch heute orientieren sich die Menschen in der Werbung weniger an den Menschen, die in den Straßen wimmeln, sondern sie sind nach anderen Gesichtspunkten ausgewählt. Die Werbeindustrie unternimmt aufwendige Recherchen nach dem perfekten Gesicht, dem idealen Körper. Zugleich darf der dargestellte Körper aber nicht anstößig sein, sein erotischer Mehrwert darf das Produkt nicht verdecken.

Für die Schülerinnen und Schüler sollte die Frage nach der Konstruktion des schönen nackten Menschen (im Vergleich mit der Werbung vielleicht) im Vordergrund stehen. Wie konstruiert man einen idealen Menschen? Darüber hinaus sollten sie die Frage der Nacktheit und der Scham erörtern. Was unterscheidet z.B. Nacktheit, Aktdarstellung und Pornographie?


Lukas Cranach d.Ä., Das Paradies, 1530

Lukas Cranach hat im Laufe seiner Tätigkeit zahlreiche Bilder zur Paradieserzählung geschaffen, vor allem Studien von Adam und Eva. Der Sündenfall war neben Darstellungen der Venus und der Lukretia Cranachs bevorzugtes Thema für Aktstudien. Damit reiht sich Cranach in die Tradition der Entdeckung des Körpers im 15. und 16. Jahrhunderts ein.

Zweimal hat Cranach das Geschehen im Paradies narrativ gestaltet, d.h. er hat die gesamte Erzählung von der Erschaffung Adams über den Sündenfall bis zur Vertreibung ins Bild gesetzt. Das eine Gemälde befindet sich in der Dresdener Gemäldegalerie, das andere im Kunsthistorischen Museum in Wien.

Beim hier vorgestellten Gemälde aus Wien blickt der Betrachter auf eine ausgedehnte Gartenlandschaft, die sich weit bis zum Horizont erstreckt. Sie ist gefüllt mit Pflanzen und Bäumen, deren Fülle von rechts nach links abnimmt und am linken oberen Bildrand in einer zerklüfteten Felsenlandschaft endet. Vor der Felslandschaft liegt ein Teich, auf dem Schwäne schwimmen und an dessen Ufer Reiher und Störche leben. Den ganzen Garten durchstreifen Tiere, deren symbolische Bedeutung häufig aus dem Physiologus vertraut ist, jenem Werk aus der zweiten Hälfte des 2. Jh., das die Natur in christlicher Perspektive deutet und die mittelalterliche Malerei tief beeinflußte. Wir sehen auf dem Gemälde, vorzugsweise paarweise auftretend: Hirsch, Reh, Fasan, Rebhuhn, Pfau, Storch, Schwan, Reiher, Kranich, Bär, Pferd, Einhorn etc. Man muß diese Tiere nicht unbedingt symbolisch deuten, sie können auch einfach Freude an der Abbildung der Vielfalt der Natur sein. Die dargestellte Tierwelt fügt sich harmonisch in die Gesamtkonzeption ein. Freilich läßt sich der Garten nicht verorten, kein Detail der Landschaft weist charakteristische Merkmale auf, diese Gegend könnte "überall und nirgends" liegen. Im Vordergrund und gegenüber allen anderen Szenen des Bildes durch die Größe herausgehoben steht Gottvater als alter Mann mit Bart und roter Toga und blauer Tunika im Gespräch mit Eva und Adam, welcher vertraulich Eva bei der Hand genommen hat [A]. Die Szene läßt sich keiner Textstelle unmittelbar zuordnen, am ehesten versinnbildlicht sie den vertrauten Umgang der Menschen mit Gott vor dem Sündenfall, vielleicht auch das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Adam und Eva sind in der für die Zeit typischen Aktdarstellung gezeichnet, Adams Geschlecht wird durch die Arme verdeckt, Evas Scham durch die Zweige einer geflückten Frucht. Die fünf Szenen innerhalb des Bildes, die die Paradieserzählung darstellen, werden in der Anordnung nicht einer linearen Erzähllogik unterworfen, sondern gehorchen allenfalls künstlerischen Gesichtspunkten. Am rechten Bildrand, fast schon aus dem Bild herausragend, formt Gott Adam aus der Erde [1]. Adam ist noch sehr klein, wie ein Kind hockt er am Boden. In allen weiteren Szenen ist Adam jedoch bärtig dargestellt. In der übernächsten Szene [2] sieht man, wie Gott Eva aus dem inzwischen erwachsenen und schlafend daliegenden Adam "entnimmt". Zwischen diesen beiden Szenen ereignet sich der Sündenfall [3]. Von einem ausgewachsenen Apfelbaum reicht eine Schlange, welche mehr Frau als Schlange ist, Adam und Eva die Früchte vom Baum der Erkenntnis. Eva ist als Rückenakt dargestellt, den Apfel hält sie wie eine Boulekugel in der rechten Hand. Adam kratzt sich mit der linken Hand am Kopf, während er mit der rechten den Apfel zum Mund führt. Wiederum in der übernächsten Szene verstecken sich Adam und Eva im Gebüsch und blicken angsterfüllt nach oben, während Gott über ihnen in einer Gewitterwolke schwebt und auf sie herabblickt [4]. In der letzten Szene jagt ein laufender Engel das immer noch vollständig nackte erste Menschenpaar aus dem Paradies, beide haben die Arme wie zur Abwehr erhoben und rennen panisch aus dem linken Bildrand [5].

Das Bild versammelt in frühmittelalterlicher Manier und in bewußtem Rückgriff auf ältere Traditionen temporär getrennte Ereignisse, die sich aber zu einer zeitlichen Abfolge zusammenfügen lassen, auf einem Bild. Zunächst entsteht der Eindruck, hier geschehe - wie etwa auf einem Gemälde von Hieronymus Bosch - vielerlei gleichzeitig, erst der zweite Blick offenbart die Zusammengehörigkeit der Szenen. Jede Episode auf dem Gemälde ist so gemalt, daß sie auch für sich ein eigenständiges Bild abgeben könnte. Es ist die Aufgabe des Betrachters, die Erzählung aus dem einzelnen Puzzleteilen des Bildes zusammenzufügen. Das Gemälde erzählt zunächst von sich aus keine Geschichte, ganz im Gegenteil wird die Logik der Erzählung zugunsten einer eher oszillierenden Betrachtungsweise gebrochen. Gerade dadurch wird der Betrachter provoziert und herausgefordert, eine ihm bereits vorher bekannte Erzählung auf dem Bild zu rekonstruieren.


Johann Heinrich Füssli, Erschaffung Evas, 1793

Wie vielleicht sonst nur Dantes "Göttliche Komödie" hat John Miltons (1608-1674) "Paradise Lost" (1667) die künstlerische Darstellung der Paradieserzählung bis in die Gegenwart beeinflußt. Ende des 18. Jahrhunderts ist kaum noch erkennbar, ob ein Künstler die ersten Kapitel der Genesis oder vielmehr das Werk von Milton illustriert. Bereits 1688 erschienen die ersten illustrierten Ausgaben. Von den Illustratoren in der Folgezeit verdienen William Hogarth (1697-1764), William Blake (1757-1827), Johann Heinrich Füssli (1741-1825) und Gustave Doré (1832-1883) genannt zu werden. Versuchten die ersten Illustratoren noch, biblische Motivik und Themendarstellung bei Milton miteinander zu verbinden, so brach der theologisch im Geist des Calvinismus gebildete Füssli ganz mit den biblischen Konventionen, während William Blake Milton als Anwalt der Imagination und der geistigen Energie des Menschen wahrnahm. Bei beiden kommen mythisierende Vorstellungen zum Tragen, die durchaus ihren Anhalt in Miltons "Paradise Lost" haben. Auffällig bei William Blake ist die Rückkehr zur ganzfigurigen Gottesgestalt. In seiner "Erschaffung Evas" von 1803 sieht man die eben aus Adam gebildete Eva unter der Segensgeste Gottes stehend, während Adam noch träumend am Boden liegt. Der Schöpfergott ist als ein mit einer Lichtaura umgebener bärtiger Mann gezeichnet. Noch wesentlich radikaler - zumindest im Blick auf die christliche Ikonographie - ist Füssli diese Szene angegangen. Dargestellt sind die Teile des VIII. Buchs von "Paradise Lost", in denen Adam dem Erzengel Raphael seine Erinnerungen über die erste Zeit im Paradies erzählt und dabei auch auf die Erschaffung Evas zu sprechen kommt:

Was jetzt ich bringe, das gefällt Dir sicher; Ist ganz Dein Abbild, das Dir Hülfe bietet, Dein andres Selbst; es wird den Wunsch genau, Ganz nach Verlangen Deines Herzens stillen. Er schwieg, vielleicht hört' ich das Andre nicht. Hinfällig ward mein irdisch schwaches Wesen Vom Himmlischen bewältigt, welches mich Durch sein erhabnes Reden angestrengt, Gleichsam von einem Gegenstand geblendet, Der für den Sinn zu hoch, so sank es nieder Und suchte durch den Schlummer sich zu stärken, Der plötzlich mich befiel, wie von Natur Berufen, und mein müdes Auge schloß. Mein Auge schloß er, aber offen blieb Der Sitz der Phantasie, mein innrer Blick, Durch den ich, dünkt mich, in Verzückung sah Obwol im Schlafe, wo ich lag, und herrlich Die Gottgestalt, vor der ich wachend stand. Sie öffnete die linke Seite mir, Nahm eine Ribbe draus, die lebenswarm Vom Herzensäther noch und frischem Blut; Weit war die Wunde, doch sie füllte schnell Mit Fleisch sich aus und war darauf geheilt. Die Ribbe formt er mit der eignen Hand, Und unter seinen Schöpferhänden wuchs Bald ein Geschöpf, das zwar dem Menschen gleich, Doch im Geschlecht verschieden war, so lieblich, So schön, daß Alles, was bisher als schön Der Welt gegolten, jetzt gemein erschien, Ja oder wie in Einem Bild vereint, In ihr und ihren Blicken nur enthalten, Die mir in's Herz noch nie vorher gefühlte Anmuth und Süße flößten; jedem Ding Ertheilten ihre Mienen Liebeswonnen. Doch sie entschwand und ließ im Dunkel mich; Und ich erwachte, sie mir aufzufinden, Wo nicht, wollt' ich auf ewig den Verlust Beweinen und auf jede Lust verzichten. Milton, Paradise Lost VIII

Außer den drei beteiligten Figuren ist nichts auf dem Bild zu erkennen, Füssli verzichtet auf jedes ausschmückende Detail oder auch auf die Darstellung des umgebenden Paradiesgartens. Am Boden liegt Adam, im schweren Traum gefangen, die rechte Hand über den Kopf gelegt, die linke vom Körper abgespreitzt. An seiner linken Seite sieht man Eva mit langem wallenden Haar als Rückenakt wie aus oder in einer Wolke emporschwebend, die Hände zusammengelegt und die Arme emporgehalten, den Kopf zurückgelegt. Ihre Geste gilt einer ebenfalls nach oben blickenden lichtumfangenen auratischen Gestalt, die mehr Ähnlichkeit mit einer antiken Herme (Pfeiler mit dem Kopf des Hermes, später auch anderer Götter und berühmter Männer) als mit dem Schöpfergott hat. Diese Figur könnte ebensogut Apoll, Demeter wie Aphrodite sein. Schon der Auftraggeber hatte Zweifel über diese drapierte Herme, aber Füssli antwortete, setze doch noch Milton um und erklärte die Herme als "ein höheres Wesen". Am ehesten erklärt sich die Unschärfe dieser Figur aus der Scheu des calvinistischen Künstlers Füssli, das höhere Wesen bildlich so exakt darzustellen, wie wir es bei Blake finden. Aus der Schöpfungs- und Paradiesgeschichte wird so ein ein von anderen nicht unterscheidbares mythologisch-allegorisches Thema. Sogar auf den deutschsprachigen Raum der Literatur hatte Miltons Epos Auswirkungen, der Streit zwischen der Lehrbarkeit von Dichtung, wie sie der Aufklärer Gottsched propagierte, und der gefühlsorientierten Poesie, wie sie von den Schweizern Bodmer und Breitinger vertreten wurde, entzündete sich nicht zuletzt an seinem Werk. Phantasie unter Einschluß des Wunderbaren wurde in der Nachfolge Miltons zu einer poetischen Grundkraft, die auch in der Malerei Blakes und Füsslis ihren Ausdruck fand.

Für die Bearbeitung könnte (muß aber nicht) kurz auf die Wirkungsgeschichte von Miltons "Paradise Lost" eingegangen werden. Aber auch für sich ist die Tendenz bei der Darstellung der Erschaffung der Eva in Richtung auf eine mythologisch-poetische Traumwelt auf dem Werk von Füssli ablesbar. Die Schülerinnen und Schüler könnten sich zunächst in diese Traumwelt einfinden, sie sollten ihre Reaktionen auf das Werk schildern und - sofern der Kontext der Paradieserzählung nicht vorgegeben ist - eine thematische Bestimmung des Bildes versuchen. Es ist nicht einfach, die Verbindung zu Adam und Eva herzustellen, alles am Werk spricht eher für antike Mythologie als für biblische Geschichte. Zum Vergleich könnte schließlich William Blakes Erschaffung der Eva herangezogen werden.

Wie kann die Stimmung auf diesem Bild beschrieben werden? Das Bild schildert keine Realität, sondern eine poetische Phantasie. Wie lassen sich die drei Figuren auf dem Bild charakterisieren? Handelt es sich nur um eine Illustration oder um eine eigenständige neuartige Bildschöpfung? Worauf hat der Künstler dabei Wert gelegt?


Max Klinger, Opus III. Eva und die Zukunft, 1880

Der symbolistische Maler, Graphiker und Bildhauer Max Klinger (1857-1920) sucht in seinem Werk antike Mythologie und christliche Gedankenwelt zu vereinen. Sein Zyklus "Eva und die Zukunft", vom Künstler mit 23 Jahren geschaffen, behandelt die Paradieserzählung auf ungewöhnliche und überraschende Weise. Die Deutung des Bildes ist dementsprechend selbst in der Fachwelt höchst kontrovers. Die sechs Radierungen werden als verschlüsselter, pessimistischer Kommentar zur Geschlechterfrage gedeutet. Auf dem ersten Bild "Eva" sitzt Eva sinnend an einem Gewässerrand, während Adam schlafend unter einem dreigeteilten Baum liegt. Eva, an die sich die Versuchnung richtete, ist die Mutter der Zukunft schreibt der Künstler dazu. Die Versuchung - also auch die Zukunft - drängt sich Eva erst als Denken daran, dann als Versuchung selbst auf und trägt dann die benannten Folgen. Auf dem zweiten Bild "Erste Zukunft" ist Eva die Hauptfigur, ohne jedoch explizit in Erscheinung zu treten. Statt dessen sieht man einen Tiger, der eine enge Felsschlucht beherrscht. Der Tiger verkörpert nach Klinger die Zukunft als ein zu fürchtendes Wesen an einem festbegrenzten Weg. Die Herausforderung dieses Tigers, als Sinnbild des besitzergreifenden männlichen Eros, gilt Eva. Das dritte Bild "Die Schlange" zeigt eine interessante Variante des Sündenfalls. Eva steht vor einem Baum, an dem sich die Schlange windet, und schaut in ihr eigenes Bild in einem Spiegel, den die Schlange ihr hinhält. Eva gelangt über Selbstbespiegelung zur Selbsterkenntnis. Weniger der Apfel in ihrer rechten Hand als vielmehr ihr eigenes Ebenbild, das sie im Spiegel erblickt, scheint sie sehend und wissend zu machen. Die Szene greift in der Art ihrer Darstellung zugleich das kunstgeschichtlich verbreitete Motiv der weiblichen Eitelkeit auf und erzeugt auf diese Weise die Ambivalenz dieses Bildes.

Im vierten Bild "Zweite Zukunft" scheint Eva wieder in der betrachtenden Perspektive zu sein. Zu sehen ist ein männlicher Faun mit Harpune in der Hand auf einem fischartigen Wesen. Die Zukunft ist hier nach Aussage des Künstlers ein aus der anderen Welt zu schwimmender Dämon. Das fünfte Bild "Adam" zeigt Adam und Eva nach der Vertreibung in einer kargen Landschaft, während im Hintergrund ein Engel das Felsentor zum waldreichen Garten Eden versperrt. Adam trägt Eva auf Händen, aber wie schon alle anderen Szenen vorher, bleibt auch diese Szene ambivalent, sie beinhaltet sowohl Schutz und Geborgenheit wie auch Gewalt und Aggression. Im letzten Bild "Dritte Zukunft" sieht man den Alleszerschmetterer Tod beim Einstampfen von Schädeln. Der Tod als Alleszermalmer. Der Tod ist nach Klinger die einzige bestimmte und sicher eintreffende Zukunft, also eigentlich keine Zukunft mehr. Im Hintergrund links ein erhöhtes Kreuz und rechts eine entweder abweisend oder flehend erhobene Hand.

Jedes einzelne Bild des Zyklus' ist in sich ambivalent, jedes läßt äußerst kontroverse Deutungen zu. Gerade diese Ambivalenz könnte der Ansatzpunkt zur Bearbeitung sein. Reduziert man den Zyklus auf die Bilder "Adam", "Eva" und "Die Schlange", schildert er die Abfolge von Idyll, Fall und Strafe. Liest man nur die symbolischen Zwischenszenen, dann deuten sie auf scheinbare und reale Fatalitäten und Zwänge vor allem des weiblichen Lebens: der lauernde Mann, die Verletzbarkeit, der Tod. Als Konstellation betrachtet verändert sich die Bildaussage je nach Auslegung der Symbole Tiger, Felsschlucht, Harpune, Faun, Fisch, Tod, Kreuz. Die Schülerinnen und Schüler könnten vielleicht zunächst die symbolischen Zwischenbilder betrachten und sie dann mit der Bilderzählung zur Paradiesgeschichte in Beziehung setzen. Schließlich können sie durch Umstellung der Einzelbilder einen ganz anderen Ablauf der Erzählung oder auch eine völlig neue Geschichte entwerfen.


Edvard Munch, Aug in Aug, 1893

Immer wieder hat der norwegische Maler Edvard Munch (1863-1944) Motive gemalt, bei denen man sich unwillkürlich an die Paradieserzählung erinnert fühlt. Dabei illustriert er keineswegs das Thema, sondern er interpretiert Alltagssituationen wie die Begegnung zweier Menschen, eine Eifersuchtsszene oder das Altwerden, indem er sie auf den Sündenfall-Mythos zurückbezieht. Auf dem Bild "Eifersucht" (1895) sieht man etwa ein gramverzehrtes, sorgenvolles Antlitz eines Mannes in der rechten Bildhälfte, während auf der linken Seite des Bildes ein junges Liebespaar in einer Gartenlandschaft sich gegenübersteht. Der junge Liebhaber kehrt dem Betrachter den Rücken zu, während die Geliebte, deren Kleid sich geöffnet hat, eine Frucht aus einem Obstbaum pflückt. Die Gesichter der beiden sind absichtlich verschwommen gezeichnet, sie sind Prototypen, diese Szene kann sich überall ereignen. Der Künstler malt weniger eine reale Begebenheit, als vielmehr den Wesenskern eines Geschehens: "wird einem Menschen ein neuer vorgezogen, so tut man jenem allemal Böses an, indem die Vergangenheit des gemeinsamen Lebens annulliert, Erfahrung selber gleichsam durchgestrichen wird" (Theodor W. Adorno). Auch im Gemälde "Aug in Aug" (1893) geht es nicht um ein reales Ereignis (so sehr sich auch Kunsthistoriker bemühen, dieses festzumachen), sondern um einen paradigmatischen Vorgang. Zwei Menschen blicken einander an, sie "blicken sich tief in die Augen". Zwischen ihnen ist ein Baum gezeichnet, der die Assoziation an die Paradieserzählung erst in Gang setzt. Oberhalb der Köpfe der beiden Menschen hat der Baum eine Schnittfläche, die sich als Frucht deuten läßt. Und mit viel gutem Willen läßt sich die malerische Schlängelbewegung im Geäst des Baumes als Schlange deuten. Doch keine Verführungsszene, kein Sündenfall wird hier ins Bild gesetzt, ja nicht einmal die sonst bei Munch übliche erotische Spannung zwischen den Geschlechtern läßt sich auf dem Bild finden. Dieses Paar ist in seiner Melancholie gleichgestellt, eher von einer dunklen Ahnung als von der Erkenntnis des Guten und des Bösen durchdrungen. Damit widerspricht die Darstellung der beiden Figuren der klassisch christlichen Ikonographie, die sich der einseitigen Schuld der Eva gewiß war. "Das Mädchen ist nicht die dämonisierte Versucherin, der sich der Mann ausgeliefert weiß. Da keine Verführung geplant ist, wird der Baum zum Lebensbaum. Er scheint dieser Aug-in-Aug-Beziehung zu entwachsen und ihr zugleich Schutz zu gewähren" (Luther und die Folgen für die Kunst, München 1983, S. 577). Gott kommt in dieser Paradiesdarstellung nicht vor, obwohl Munch durchaus dessen humane Notwendigkeit anerkennt: "Selbst wenn es keinen Gott geben sollte, können wir es nicht aufgeben so zu leben als ob es einen gäbe. Wer Güte sät, erntet Güte. Daran glaube ich. Nein, dessen bin ich auch nicht ganz sicher. Nicht zu jeder Zeit". Im Gemälde ist das Paradiesgeschehen eine rein menschliche Angelegenheit.

Eingesetzt werden kann das Bild "Aug in Aug" im Blick auf ähnliche Erfahrungen, die die Schülerinnen und Schüler gemacht haben. Zunächst sollte das Bild erarbeitet werden. Die Bildsprache von Munch dürfte in der Regel vertraut sein, vielleicht kennen einige Schülerinnen und Schüler sein bekanntestes Werk "Der Schrei". Sie sollten das Bild beschreiben und dabei auch die Farbenwahl und die Art des Malstils (der sich nicht in eine der gängigen Stilrichtungen einordnen läßt) berücksichtigen. Danach sollten sie zum Bild eine Geschichte, ein Erlebnis (von sich, von anderen oder auch erfunden) erzählen, die zu seinem Inhalt und insbesondere zur Stimmung der dargestellten Figuren paßt. Dabei sollte zunächst noch kein Bezug zur Paradiesgeschichte hergestellt werden. Vielmehr geht es vor allem darum, mit Hilfe der Erzählungen die Stimmung des Bildes einzufangen und festzustellen, ob die Schülerinnen und Schüler damit etwas anfangen können bzw. meinen, daß sie sich von Zeit zu Zeit darin wiederfinden könnten. Die Arbeit von Munch vergegenwärtigt kein problemloses, zwangloses Mit- und Nebeneinander zweier Menschen, sondern vermittelt eher eine tragische oder problembeladene Situation. Nach der Bildbeschreibung und dem Austausch der Erzählungen können dann die für einen Betrachter des 20. Jahrhunderts eher versteckten Hinweise auf die Paradieserzählung erarbeitet werden. Die Frage lautet, was es bedeutet, eine vorfindliche, mehr oder weniger alltägliche Situation auf die Paradieserzählung zu beziehen. Denn der Künstler versucht ja nicht, die Paradiesgeschichte zeitgemäß umzusetzen, sondern er erkennt im Alltagsgeschehen etwas aus dem Paradigma "Sündenfall" oder "Adam und Eva" wieder. Damit reproduziert er aber auch eine Situation der Entstehung der Paradieserzählung, insofern zu irgendeinem Zeitpunkt ein Erzähler seine Lebenswelt ebenso aufmerksam beobachtet hat und dann eine Ursprungserzählung für all das Leid, die Notwendigkeit der Feldarbeit, die Schmerzen bei der Geburt, der Entfremdung zwischen Menschen aufgeschrieben hat. Fraglich ist, ob sich die Schülerinnen und Schüler auf ähnliche Weise in der Paradieserzählung wiederfinden könnten, ob die Erzählung vom Fall des Menschen heute noch ein aussagekräftiges Bild abgibt. Mit dieser Frage könnte die Betrachtung des Bildes abgeschlossen werden.

Für die Schülerinnen und Schüler stellt sich zunächst die Frage, was sie auf dem Bild sehen, dann, was sie angesichts der auf dem Bild dargestellten Situation empfinden und ob sie sich in die Szene einfühlen können. Darüber hinaus sollten sie nach der Plausibilität einer Verknüpfung von existentiellen Lebenssituationen mit biblischen Geschichten fragen. Können Erzählungen der Bibel Antworten, Hinweise, Erklärungen für heutige Lebensumstände geben (jenseits der Rezepte die Dr. Sommer oder wer auch immer in den einschlägigen Illustrierten bietet)? Wie läßt sich eine Verbindung von Einst (Paradieserzählung) und Jetzt (eigene Situation) herstellen?


Frantisek Kupka, Creation de L'Homme, 1904

Dieses Werk von Frantisek Kupka ist ein Dokument der um die Jahrhundertwende verbreiteten Religionskritik. Kupka, der später der Theosophie nahestand und fast vollständig abstrakte Werke schuf, zeigt sich auf dem vorliegenden Werk als ironischer Kritiker der Religionen, denen er ganz im Stil Feuerbachs vorhält, sich ihre je eigenen und allzu menschlichen Vorstellungen von der Schöpfung gemacht zu haben. Zwei bzw. drei Ursprungsmythen konkurrieren auf diesem Bild. Auf der linken Seite der karikaturhaften Zeichnung sehen wir den Göttervater Zeus, der gerade Pandora erschafft, die erste Frau in der Geschichte der Menschheit nach der griechisch-römischen Überlieferung. Während Prometheus, der mythische Ur-Rebell und Vorkämpfer der Menschheit gegen die Feindseligkeit der Götter am Anfang der Zeiten nur Männer geschaffen hatte, schufen diese nun zur Strafe Pandora, die "Allbegabte". Hephaistos modellierte sie aus Lehm, Athene hauchte ihr Leben ein und bekleidete sie und Aphrodite schenkte ihr Schönheit (so daß die Männer diese neue Plage liebten) und von Hermes lernte sie List und Verrat. Durch Pandora kamen alle Übel auf die Welt (nach einer anderen Version entwichen durch sie alle guten Gaben). Auf der rechten Seite der Karikatur wird im Gegenzug die Erschaffung Evas aus der Rippe des Adam nach Genesis 2, 21f. geschildert. Jahwe, mit dreieckigem Nimbus in der Gestalt eines brillentragenden alten Mannes und einem mit Gestirnen übersäten Mantel dargestellt, hat gerade mit einem Messer die Rippe aus Adam entnommen. Schließlich hangeln ein paar Affen am Baum und verweisen auf Charles Darwin, einen weiteren Erzähler einer Ursprungsmythologie.

Innerhalb des Bildes wird man zunächst dazu angeregt, einen Vergleich zwischen der biblischen Erzählung von der Erschaffung Evas und dem griechisch-römischen Mythos von der Erschaffung Pandoras durchzuführen. Beide Erzählungen weisen eine überraschende Übereinstimmung, aber auch zahlreiche charakteristische Abweichungen auf. Schließlich können diese beiden Erzählungen noch mit Darwins Versuch einer naturwissenschaftlichen Theorie in Beziehung gesetzt werden. Insgesamt aber zielt das Bild auf die Kritik der Religion, auf die - nicht nur in den Augen des Künstlers - lächerliche Beschreibung des göttlichen Demiurgen als Menschenbildner, die letztlich nichts anderes als unreife Projektionen der Menschen sind.


Henri Rousseau, Eva, nach 1904.

1795 schreibt Friedrich Schiller: "Der Dichter ist entweder Natur, oder er wird sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter". Was für die Dichter gilt, trifft auch für bildende Künstler zu. Als Inbegriff des naiven Künstlers gilt Henri Rousseau (1844-1910), ein Steuerbeamter, der in seiner privaten Zeit malte. Rousseau war Autodidakt und kopierte zunächst Gemälde im Louvre. 1886 nahm er erstmalig am "Salon des Indépendants" teil und erregte die Aufmerksamkeit von Paul Signac, Henri Toulouse-Lautrec und Paul Gauguin, die seine naive, ursprüngliche, aber doch kunstvolle Art schätzten. Der meist farbenfreudigen Heiterkeit seiner Gemälde entspricht die unbefangen gesehene und detailreich aufgefaßte Naturschilderung. Die meist frontal wiedergegebenen Figuren sind selten anatomisch richtig, aber in ihren Stimmungswerten aussagekräftig. Was der Fähigkeit der Naiven zur meist beabsichtigten Illusion fehlt, kann sich auf genaue, in sich folgerichtige und liebevolle Empfindungen konzentrieren.Gemalt wird, was man kann, und das immer wieder. Was man nicht kann, wird weggelassen und gar nicht erst versucht. Auf dem vorliegenden Bild sieht man Eva in einer idyllischen, südländischen Gartenlandschaft, wie sie gerade von der Schlange eine Frucht entgegennimmt.

Die Bilder von Rousseau sind nicht realistisch, sie bemühen sich nicht um einen präzisen naturgetreuen Ausdruck der Natur, sondern sie sind naiv. D.h. seine Motivwahl und Motivgestaltung erfolgt aus dem Herzen und damit der Intention. Henri Rousseau malt die Welt so, wie er sie sehen möchte. Hier kommt viel von den Wünschen und Sehnsüchten der Menschen zum Ausdruck. Diese Sehnsüchte nach einem irdischen Paradies, der Traum vom ungestörtem Tierfrieden, der Wunsch nach überströmender Fülle der Natur sind vielen Bildern Rousseaus zu entnehmen. Bei der Bearbeitung kommt es darauf an, sich diese Wünsche und Sehnsüchte deutlich zu machen. Zunächst sollte die Malweise charakterisiert werden, dazu sind nach Möglichkeit auch andere Werke des Künstlers heranzuziehen, denn nicht zuletzt in der Werkschau wird das Besondere dieses Künstlers deutlich. Gerade paradiese Motive hat Rousseau sehr häufig verwendet. Auf dem vorliegenden Paradiesbild gibt es keine Schuldzuweisung, hier spielt sich der "Sündenfall" eher im Rahmen einer ungetrübten Naturidylle ab.

Wie läßt sich die Malweise dieses Künstlers beschreiben? Malt er die Natur so, wie sie ist, wie sie sein sollte oder wie er sie sieht? Das Motiv ist der Sündenfall: Wie hat der Künstler dieses Motiv verarbeitet? Was von den traditionellen Elementen der künstlerischen Gestaltung des Sündenfalls hat er aufgegriffen, welche Elemente hat er bewußt weggelassen?


Fernand Leger, Adam und Eva, 1935/39.

Das vorliegende Bild ist in einer Zeit entstanden, in der Fernand Léger mit Aufträgen für Wandbilder und Theaterdekors beschäftigt war. Gesprächsweise hat Léger zu seiner damaligen Malweise gesagt: "Ich wage mich an das große Sujet heran, aber ... meine Malerei bleibt stets eine Objekt-Malerei. Es beginnt gegen 1936 mit 'Adam und Eva'. Meine Figuren vermenschlichen sich wieder doch ich bleibe immer beim bildnerischen Zustand keine Beredsamkeit, keine Romantik". Kein Überschwang der Gefühle, wohl aber Poesie charakterisiert das Bild Légers. Nicht ohne Einfluß dürfte die naive Malerei Henri Rousseaus sein, dessen Arbeiten Léger bewundert hat. Die Betrachter sehen auf der rechten Seite des Werkes ein Akrobatenpaar, das gerade mal durch einige Accessoires, wie etwa die Schlange oder den tätowierten herzförmigen Apfel, auf die menschlichen Stammeltern verweist. Der Mann hält eine Balancestange in den Händen, um welche sich eine Schlange kringelt. Auf der linken Seite des Bildes bilden braune und blaue Farbflächen zusammen mit einigen gelben Rechtecken eine undurchdringliche Fläche. Zwischen diesem abgeschirmten Bereich und dem Menschenpaar befindet sich ein Blumengesteck, welches die Frau in der linken hält. Die Komposition zeigt verwandte Züge zu anderen Arbeiten, die Léger in dieser Zeit fertiggestellt hat. Stiltypisch für diese Phase Légers - und deshalb kein Spezifikum dieses Bildes - sind die Akrobaten, die wolkenartigen Gebilde und die rechteckigen Stäbe, auch wohl das Blumengebinde.

Die Erarbeitung kann mit einer sorgfältigen Bildbeschreibung beginnen. Dabei sollte auf die genaue Bildkomposition ebenso wie auf Art der Darstellung der Figuren geachtet werden. Die Szene erweist sich eher als Einblick in die Freizeitkultur als eine grundsätzliche Bestimmung menschlichen Verhaltens. Eine genaue Verortung des Bildthemas innerhalb der Paradieserzählung will nicht gelingen, am ehesten könnte man an das Motiv von den Stammeltern bei der Arbeit nach der Vertreibung denken aber diese Arbeit ist eher spielerisch und kaum erzwungen. Um das Charakteristische dieses Werkes zu erarbeiten, sollten ähnliche Arbeiten von Léger aus dieser Zeit mit zum Vergleich herangezogen werden [so gibt es eine Vorarbeit mit ähnlicher Bildkomposition, jedoch ohne die Accessoires und die Schlange].

Welchen Eindruck vermittelt das Bild auf die Betrachter? Was würde man auf den ersten Blick als Bildthema bestimmen? Wie 'verhalten' sich Adam, Eva und die Schlange zueinander? Welche Bedeutung könnte dem Gebilde auf der rechten Seite des Werkes zukommen? Vermittelt das Werk eher einen Eindruck von Gefährdung oder von Zufriedenheit? Welche Bedeutung könnte dem Blumengesteck zukommen?


Duane Michals, Foto-Sequenz "Das wiedergewonnene Paradies", 1968-1969

Die Foto-Sequenz "Das wiedergewonnene Paradies" des 1932 in den USA geborenen Fotografen Duane Michals erzählt von der Spannung zwischen Natur und Zivilisation, vom Verlust des Natürlichen im Alltag und von den Möglichkeiten, zum Ursprung zurückzukehren. Zu sehen ist ein junges Pärchen in einer büroähnlichen Umgebung, welche zunächst über keinerlei Pflanzen, dafür aber zahlreiche Utensilien enthält. Von Bild zu Bild tauchen mehr Pflanzen auf, während im Gegenzug Ausstattungsstücke des Büros verschwinden, vor allem aber das Pärchen seine Kleidungsstücke ablegt. Am Schluß befindet sich ein nacktes Pärchen mitten in einer Fülle von Pflanzen. Dabei kann die Bildfolge sowohl von vorne nach hinten wie umgekehrt betrachtet werden. Umgekehrt als "verlorenes Paradies" gelesen, wird ein Zusammenhang von Zivilisationsprozeß und Naturverlust hergestellt. Je mehr zivilisatorische Ausstattungsstücke das Pärchen sich zulegt, desto größer der Verlust des Natürlichen. Darin entspricht die Reihenfolge der klassischen kunsthistorischen Konzeption, die das Paradies durch Naturfülle und die (natürliche) Nacktheit der Menschen ausgezeichnet hat.

Die "Bedeutung" der Sequenz erschließt sich schnell, vielleicht zu schnell. Es wird daher nicht zuletzt darauf ankommen, das Plakative der Foto-Folge zu durchbrechen. Neben der Beschreibung der Szenen sollte die Frage erörtert werden, ob die Dialektik von Natur und Zivilisation so ausschließlich ist, wie sie hier dargestellt wird. Der Kontrast erschließt sich am stärksten in der Gegenüberstellung des ersten mit dem letzten Bild, also der Steifheit in der Büroumgebung und der Nacktheit zwischen den Pflanzen. Daß der Fotograf aus diesem Kontrast eine ganze Serie gemacht hat, zeigt, daß er das Ganze als Prozeß auffaßt. Das ähnelt Jean Jaques Rousseaus Kontrastierung von freiem Naturzustand und sich allmählich durchsetzender Kultivierung des Menschen. Die Frage bleibt, ob die Forderung des "Zurück zur Natur" die SchülerInnen überzeugt.

Barry Kite, "The Eviction", 1992

Barry Kites Bilder sind, wie er nicht ohne ironischen Biß feststellt, "Made from 100% Recycled Images". Barry Kite ist Filmer, Lyriker und Maler. Seine Bilder, Collagen, die mit handcolorierten Photographien arbeiten, versteht er als visuelle Großstadtgedichte, als filmische Einzelbilder. Sie kommentieren die soziale und politische Realität im verfremdenden Medium der historischen Kunst. Seine Arbeiten sollen hier nicht primär unter der Frage des künstlerischen Anspruchs und der ästhetischen Stilentwicklung thematisiert werden, sondern als Motivation zum eigenständigen Umgang mit dem zuvor visuell erarbeiteten Material. Die Bilder von Kite sind Re-Aktualisierungen auf ihre Art und sie können dazu anregen, mit anderen Materialien ebenso zu verfahren. The Eviction konfrontiert zwei zeitlich weit auseinander liegende Kunstwerke und Stilarten. Den Hintergrund des Werkes bildet Pierre Bonnards "Das Eßzimmer auf dem Lande" (1913). Dieses in zarten Farben gehaltene, lichtdurchflutete Bild entstand in Bonnards Haus im Seinetal. Zum Werk gehört der Stuhl mit der Katze rechts vorne, das Fenster, die offene Tür, der blaue Tisch und die rote Tapete links im Hintergrund. 486 Jahre vorher ist das Figurenpaar im Zentrum des Bildes entstanden. Es handelt sich um Adam und Eva aus dem Fresko "Die Vertreibung aus dem Paradies" (1427) von Masaccio, dem Begründer der italienischen Renaissance in der Malerei. Die Fresken befinden sich in der Brancacci-Kapelle der Kirche Santa Maria del Carmine zu Florenz. Zwischen die kunsthistorischen Zitate hat Kite Momente heutiger Wirklichkeit montiert: drei amerikanische Polizisten vertreiben Adam und Eva aus Bonnards Eßzimmer auf dem Lande in die rauhe Großstadtwirklichkeit. Dabei hält jeder der Polizisten einen Apfel vom Baum der Erkenntnis in der Hand, während ein Engel den aus ihrer ländlichen Heimstatt Vertriebenen eine Reisetasche hinterherfliegt. "The Eviction" übersetzt Kunstwerke vergangener Epochen und auch die Paradieserzählung in die heutige Zeit. Der vom Himmel auf die Erde gefallene Adam gerät in die Hände von Sanitätern, eifrig gefilmt von der Sensationspresse und argwöhnisch betrachtet von der Polizei die zwei, die es sich in ihrem ländlichen Idyll gemütlich gemacht hatten, werden von den Repräsentanten des Staatsapparats, die sehr wohl Gut und Böse unterscheiden zu können meinen, in die brutale Wirklichkeit gedrängt. Jedes dieser Kunstwerke ist eine Aktualisierung der Metapher vom Sündenfall, eine Aktualisierung mit Botschaft: es gilt, sich den Realitäten des Lebens zu stellen, die historisierende Distanz zu durchbrechen, die Aktualität der Paradieserzählung im Hier und Jetzt zu erkennen.

© Andreas Mertin