Kunst - Erfahrung - Religion

Ein Zitaten-Kaleidoskop

Von Andreas Mertin

Eröffnungsvortrag der Tagung "Kunst - Erfahrung - Religion" in Bad Segeberg 21.-25.08.1995

Im Jahr 1907 eröffnet der Philosoph und Soziologe Georg Simmel einen Essay zum Thema "Christentum und Kunst" mit den Worten: Die geschichtlichen Fäden, die sich zwischen Religion und Kunst spinnen, sind unzählige Male verfolgt worden: wie die Kultzwecke das Götterbild entstehen ließen, wie sich aus der religiösen Feier und der Anrufung der Götter die poetischen Formen entwickelten, wie die Erhebungen und wie der Verfall der Religion die Kunst oft in gleichem, oft in völlig entgegengesetztem Sinn beeinflussten - alles dies ist zu begriffenen Tatsachen der Kulturgeschichte geworden. Allein die Motive, mit denen aus dem Wesen der Sache heraus das eine das andere anzieht oder abstößt, durch die alle jene historischen Verknüpftheiten nur als die mehr oder weniger vollkommenen Verwirklichungen tieferer und prinzipieller Zusammenhänge erscheinen - diese Motive harren noch ihrer Klärung.[1] Um die Erörterung dieser Zusammenhänge von Kunst und Religion, von Ästhetik und Theologie geht es im Folgenden, vornehmlich aufgrund der Entwicklungen und Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Die Frage Wie verhalten sich die Erfahrungsformen von Kunst und Religion zueinander? ist gar nicht so leicht zu beantworten. Umstritten ist so gut wie alles, was das Thema bestimmt, bis hin zur Notwendigkeit und Möglichkeit einer Theorie ästhetischer Erfahrung.[2]

Nach dem ersten Kolloquium "Kunst und Philosophie" zum Thema "ästhetische Erfahrung" summierte Willi Oelmüller 1980 die Erträge der damaligen Veranstaltung so: Die gegenwärtige Konjunktur der Rede von ästhetischer Erfahrung - und übrigens von Erfahrung überhaupt - ist kein Zeichen für die Sicherheit, sondern für die Unsicherheit darüber, was dieser Begriff bezeichnen soll. Die Konjunktur spricht nicht für den Bestand, sondern für den Verlust, zumindest für den radikalen Wandel der Bedingungen, unter denen es bisher möglich war, über ästhetische Erfahrungen zu sprechen. Die Diskussion über den Begriff ästhetischer Erfahrung war daher erwartungsgemäß kontrovers und erörterte sehr verschiedene Fragen: Man plädierte für die Eliminierung dieses Begriffs oder versuchte eine radikale Neubestimmung. Man fragte etwa: Wodurch unterscheidet sich die in der Neuzeit entwickelte Möglichkeit ästhetischer Erfahrung von den Erfahrungsmöglichkeiten der Kunst und des Schönen, die bis weit in die Neuzeit auch eine religiöse, metaphysische, soziale oder politische Dimension hatten bzw. immer noch haben? Ist ästhetische Erfahrung geschichtsfrei, unmittelbar durch Reflexionsprozesse verständlich zu machen, oder ist sie nur aus einem bestimmten sozialgeschichtlichen Kontext verstehbar und erklärbar? Wenn ästhetische Erfahrung nicht eine anthropologisch invariante Kompetenz des Menschen ist, unabhängig von benennbaren Raum und Zeitbedingungen, was sind dann die Bedingungen ihrer Möglichkeit? Geht es in der ästhetischen Erfahrung um den Vorschein und die Utopie einer humanen Gesellschaft oder um die quasi-religiöse Versöhnung mit einer schlechten Wirklichkeit? Beschränkt ästhetische Erfahrung sich nur auf Kunstwerke, oder schließt sie auch das ein, was man einst Naturschönes nannte? Was ist bzw. was war das Subjekt, das ästhetische Erfahrungen machen konnte, sind das Individuen oder soziale Schichten? Ist ästhetische Erfahrung, zu der Unmittelbarkeit und Singularität gehören, von dem, was Kunst- und Literaturwissenschaften und andere Wissenschaften mit verallgemeinerungsfähigen Kategorien zu beschreiben versuchen, abgekoppelt, und wenn ja, droht sie dann nicht, eine freischwebende, beliebige, bloß subjektive Reflexionstätigkeit zu werden? Lässt sich ästhetische Erfahrung als ästhetische Revolte, die, wenn auch nur für Augenblicke, die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufsprengen will, noch mit den Kategorien, die mit dem Begriff ästhetische Erfahrung konnotiert werden, z.B. als Schein, Fiktion, Imaginäres, hinreichend genau beschreiben? Ist ästhetische Erfahrung an sogenannte "Kunstwerke" gebunden oder gar an die in Kunstwerken erscheinende Wahrheit, oder ist sie nur noch eine bloß subjektive Kompetenz von Individuen, die Entlastung von bzw, Flucht aus der durch vielschichtige Systemzwänge funktionierenden gegenwärtigen Lebenswelt suchen? Erfahren wir Kunstwerke in Museen in der gleichen Weise wie Ausstellungsgegenstände in modernen Dokumentationen?[3]

Analoge Fragen lassen sich auch zum Thema "Religion und religiöse Erfahrung" stellen. Auch im Blick darauf, was "Religion", was "religiöse Erfahrung" auszeichnet, und in welchem Verhältnis sie sich zum Christentum, zur Offenbarung und zur Dogmatik befinden, dürfte nicht nur unter Theologen kaum Übereinstimmung zu erzielen sein. Religion im Alltag der Moderne ist ein komplexes Thema, denn, wie Henning Luther ausführt, spätestens seit der Aufklärung tritt ins Bewußtsein, dass offizielle, kirchlich institutionalisierte Religion und private Religion auseinander treten können ... Wenn die Religion der einzelnen nicht in der bloßen Übernahme offizieller, dogmatisch fixierter Lehre besteht, sondern als subjektiver Akt der selbständigen Auslegung von und auch kritischen Auseinandersetzung mit den Deutungsangeboten der Religion zu verstehen ist, verändert sich die Aufgabe der Praktischen Theologie ... Sie hat dann vielmehr davon auszugehen, dass die einzelnen Subjekte nicht (nur) Empfänger theologischer Lehre sind, sondern selbständige und kreative Produzenten religiösen Denkens ... Theologie kann nicht länger als normative Lehre verstanden werden, die verbindlich klärt, was und wie die einzelnen zu glauben haben. Wenn Theologie Reflexion des Glaubens ist, dann "produziert" jeder, der über Religion und Glauben nachdenkt, so etwas wie Theologie ... Das Auseinanderfallen von kirchliche Lehre einerseits und subjektiver Religiosität andererseits hat seine Ursachen gerade darin, dass nicht länger allen alles an der überlieferten religiösen Tradition einleuchtend, plausibel und subjektiv nachvollziehbar erscheint. Vieles an der offiziellen Religion lässt sich immer weniger mit den Erfahrungen der einzelnen Menschen zusammenbringen. Dies hängt nicht zuletzt an der notorischen Erfahrungsschwäche und Lebensferne der theoretisch ausdifferenzierten dogmatischen Systeme ... Dem "Test" durch die "Erfahrung" werden sie nicht ausgesetzt.[4] Der Rekurs auf die Perspektive der Erfahrung ist daher - zumindest im Bereich von Theologie und Religion - auch ein kritisches Unternehmen.

Allerdings sind mit der Wendung von der institutionalisierten Religion zur privaten Religion die Probleme noch nicht gelöst. Der Gefahr, Religion in jeder Form und Präsentation schon als etwas fraglos Wünschenswertes anzusehen, sind nach Walter Sparn nicht zuletzt protestantische Christen ausgesetzt, die des kühlen Intellektualismus ihrer konfessionellen Tradition müde sind - nicht wenige lassen sich sozusagen in die sanften Arme von Religiosität sinken, auch wenn deren substantiellen Gehalte einigermaßen heterogen oder auch obskur anmuten. Ohne nun das Glück spiritueller Erfahrung kränken zu wollen, möchte ich doch an zwei Eigenarten des protestantischen Christentums erinnern: daran, dass es immer wieder in kritische Distanz zu den empirischen Phänomenen und Realitäten von Religion tritt, auch den eigenen, sowie daran, dass es stets ein Anwalt der Unterscheidung von religiöser und säkularer Praxis gewesen ist - beides in wohlverstandenem religiösem Interesse! ... Das protestantische Krisenbewusstsein reagierte dabei stets ... auch auf synchrone Differenzierungen zwischen dem Bereich direkt religiöser Lebensgestaltung und solchen Lebensbereichen, die allmählich und schließlich primär von anderen Faktoren geprägt wurden. Es reagierte, anders gesagt, auf Säkularisierung. Doch bedeutete Säkularisierung in keinem Fall die einfache Verabschiedung oder Verdrängung von Religion, sonder vielmehr die Emanzipation bestimmter Lebensbereiche, z.B. der Politik, der Wissenschaft, der Sozialpolitik usw., aus der direkten Kontrolle der Institutionen von Religion, d.h. der Kirche. Es handelt sich also um gesellschaftliche Differenzierungs- und Segmentierungsvorgänge. Im Blick auf die Religion selbst lässt sich aber klar feststellen, dass sie keineswegs zur Verarmung und Verkümmerung religiöser Praxis führten, im Gegenteil. Der Ausgliederung von nicht mehr direkt religiösen Lebensbereichen entsprach regelmäßig die innere Intensivierung von Religion, ihre Spiritualisierung, wenn man so will, oder genauer gesagt: ihre Individualisierung.[5]

Das Interesse an der Differenzierung der Diskurse wird jedoch nicht von allen geteilt, einige Dogmatiker möchten den Diskurs von Kunst und Ästhetik gerne in engen Schranken halten. Eberhard Jüngel insistiert deshalb darauf, dass auch das Schöne sterben muß und betrachtet deshalb die künstlerische Schönheit im Lichte der theologischen Wahrheit.[6] Und bei dem katholischen Kollegen Josef Wohlmuth findet sich der Satz: Der Diskurs um Schein oder Wahrheit von Schönem und/oder Kunst betrifft nicht nur das philosophische Denken, sondern auch die Theologie, sofern sie gegen allen Fatalismus die Rettung des Menschen und der Welt sowie gegen alle Selbstherrlichkeit des Menschen das Erscheinen Gottes in Jesus zu vertreten hat und so nicht hinnimmt, dass die Kunst nach der Entlarvung von mythologischer und modern-rationalistischer Vernunft zum bevorzugten oder gar einzigen Ort der "Offenbarung" von Wahrheit (Heidegger) oder der ausstehenden Versöhnung (Adorno) wird.[7]

Dagegen findet sich bei Alfred North Whitehead der trockene Satz: Was den Aufbau eines individuellen Geistes angeht, so hat er teil an der Wahrheit und an der Kunst. Daher zeugt das einseitige Interesse an der Durchsetzung von Dogmen von einer gewissen Grobheit des ästhetischen Feingefühls. Die Dialektik von Dogmatik und ästhetischer Vermittlung bestimmt Whitehead so: Ein ganz offensichtliches Problem besteht darin, wie man die vermittelnden phantasievollen Darstellungen spiritueller Wahrheiten vor dem Verlust ihrer Wirksamkeit bewahren kann, wenn die Möglichkeit der Modifikation von Dogmen eingeräumt wird. Religiöser Geist ist nicht dasselbe wie dialektischer Scharfsinn. Daher spielen diese vermittelnden Darstellungen im religiösen Leben eine wichtige Rolle. Sie sind eingeschlossen in Formen des Gottesdienstes, in der populären religiösen Literatur und in der Kunst. Die Religion kommt nicht ohne sie aus; gelangen sie aber, ohne die Kritik durch Dogmen oder durch den Rückgriff auf die primären Quellen religiöser Inspiration, zur Vorherrschaft, dann kann man sie zurecht als Idole bezeichnen. In der christlichen Geschichte ist der Vorwurf der Idolatrie zwischen konkurrierenden Theologien hin und her gereicht worden. Wahrscheinlich trifft er, im weiten Sinn verstanden, mit gleicher Berechtigung alle Großkirchen, protestantische wie katholische. Idolatrie ist das notwendige Produkt statischer Dogmen.[8]

Thema dieser Überlegungen sind Gemeinsamkeiten und Differenzen von ästhetischer und religiöser Erfahrung. Dabei gibt es ebenso viele energische Verteidiger der Allianz von Kunst und Religion wie warnende Kritiker. So meint Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik ließe sich als Geschichte der Selbstbefreiung von theologisch-metaphysischer, schließlich idealistisch-geschichtsphilosophischer Bevormundung beschreiben. Der Standort der heutigen Ästhetik wäre danach zu beurteilen, wie überzeugend diese Loslösung gelungen ist.[9] - Die Grenzziehung (scil. des Ästhetischen) ist notwendig, weil sonst die ... banalisierenden Missverständnisse des Ästhetischen als das Hedonistische oder das Humane oder das Soziale auftreten. Je reiner der ästhetische Kern erhalten ist, um so größer die Strahlkraft nach außen. Dies geschieht allerdings nicht als sozialkritische Korrektur des generellen Diskurses, sondern vielmehr als dessen Irritation ... Die Irritation des Diskurses vollzieht sich ... als Subversion der Gültigkeit seiner normativen Begriffe.[10]

Auch der eingangs zitierte Georg Simmel hält fest: An und für sich haben Religion und Kunst nichts miteinander zu tun, ja sie können sich in ihrer Vollendung sozusagen nicht berühren, nicht ineinander übergreifen, weil eine jede schon für sich, in ihrer besonderen Sprache, das ganze Sein ausdrückt. Man kann die Welt religiös oder wissenschaftlich auffassen: es sind die gleichen Inhalte, die jedes Mal unter einer anderen Kategorie einen Kosmos von einheitlich- unvergleichbarem Charakter formen.[11]

Aber es gibt auch andere Stimmen. So meint Georg Picht: Die Stellung, die wir zur Kunst einnehmen, ist mit der Stellung des Menschen zu Gott, seiner Stellung zur Wahrheit und seiner Stellung in Natur und Gesellschaft unauflösbar verkoppelt, denn Kunst entsteht am Schnittpunkt dieser Dimensionen unseres Daseins. Und er hebt hervor: Für Kant, für Schelling wie für Hegel gilt in je verschiedener Weise der Satz: Wer Kunst nicht versteht, kann nicht denkend begreifen, was der Name "Gott" bedeutet. Bei dieser Nähe der Kunst zu Gott steht es um die Theologie schlecht: es zeigt sich, dass beim Durchdenken des Problems, auf das die Namen "Kunst" und "Mythos" verweisen, Theologie und Kirche insgesamt mit einer Radikalität in Frage gestellt werden, die alle zeitgenössische Theologie- und Kirchenkritik weit hinter sich lässt. Die Frage nach Kunst und Mythos bricht aus dem Gehege der theologischen Disziplinen aus. Sie stößt in den Bereich der Fundamente von Theologie und Kirche vor.

Aber es kann nicht nur um die gemeinsame Geschichte und die Beurteilung ihrer Entwicklung gehen, sondern auch um die Verbindungen und Differenzierungen in der Sache, also um die Aufklärung des Tatbestands, dass wir zur Beschreibung ästhetischer Phänomene immer wieder auf religiöse Sprache zurückgreifen, oder dass die Religion im Zuge des 20. Jahrhunderts ihre eigenen ästhetischen Grundlagen entdeckt hat. Schon klassisch ist Goethes Beschreibung seines Besuchs der Dresdner Schlossgalerie: Ich trat in dieses Heiligtum und meine Verwunderung überstieg jeden Begriff, den ich mir gemacht hatte. Dieser in sich selbst wiederkehrende Saal, in welchem Pracht und Reinlichkeit bei der größten Stille herrschten, die blendenden Rahmen, alle der Zeit noch näher, in der sie vergoldet wurden, der gebohnerte Fußboden, die mehr von Schauenden betretenen als von Arbeitenden benutzten Räume gaben mir ein Gefühl der Feierlichkeit, einzig in seiner Art, das umso mehr der Empfindung ähnelte, womit man ein Gotteshaus betritt, als der Schmuck so manchen Tempels, der Gegenstand so mancher Anbetung hier abermals, nur zu heiligen Kunstzwecken aufgestellt schien.[12]

Aber auch hier werden wir vor vorschnellen Schlussfolgerungen gewarnt. Niklas Luhmann hält zwar fest Ähnlich wie die Religion lässt die Kunst sich durch das faszinieren, was ihr entgeht; und ihre Anstrengung könnte darin kulminieren, sich genau dies nicht entgehen zu lassen. Aber er betont auch: Jede der Religion entlehnte (wenn auch "säkularisierte") Beschreibung der Kunst wäre ... unangemessen. Man muß den Problembezug eines solchen Vergleichs abstrahieren. Es geht um verschiedene Formen des Umgangs mit dem, was durch Beobachtung unbeobachtbar wird.[13]

Ähnlich klingt es in John Deweys »Kunst als Erfahrung«. Er verhandelt die Neigung, bei der Beschreibung ästhetischer Erfahrung auf religiöse Begriffe zurückzugreifen, unter der Rubrik Kategorienverwechslung bzw. Verwirrung der Werte: Kritiker ebenso wie Theoretiker sind der Versuchung ausgesetzt, das spezifisch Ästhetische in Begriffe irgend einer anderen Art von Erfahrung zu übersetzen ... Das Kunstwerk wird behandelt, als ob es eine Neuausgabe von Werten wäre, die schon auf anderen Gebieten der Erfahrung kursieren ... Es kann zum Beispiel kein Zweifel darüber herrschen, dass religiöse Werte einen fast unvergleichbaren Einfluss auf die Kunst ausgeübt haben. Während einer langen Periode in der europäischen Geschichte bildeten jüdische und christliche Legenden den Hauptinhalt aller Künste. Aber dieser Umstand für sich genommen sagt uns nichts über die spezifisch ästhetischen Werte. Byzantinische, russische, gotische und frühe italienische Gemälde sind alle in gleicher Weise "religiös". Aber ästhetisch hat jedes seinen eigenen Wert. Zweifellos sind die verschiedenen Formen mit der Verschiedenheit religiösen Denkens und seiner Praxis verknüpft. Aber ästhetisch gesehen ist der Einfluss des Mosaiks ein treffenderes Thema.[14]

Hans Robert Jauß verweist darauf, dass der Prozeß der Emanzipation der Künste nicht mit dem Einverständnis der Religion erfolgte: Wenn sich an dieser Schwelle zur Moderne aber Dichtung und Kunst kühnlich an die Stelle des Sakralen setzen, ist ihre ästhetische Aura nicht mehr aus der Erfahrung religiöser Kunst erborgt, sondern dieser provokativ entgegengesetzt. Es handelt sich hier ... nicht um eine Profanierung des Sakralen, sondern umgekehrt: um eine Sakralisierung des Profanen.[15] Misstrauisch seien die Theologen gegenüber der Kunst wegen deren Unbotmäßigkeit: Vom Standpunkt der religiösen Autorität aus gesehen muß die ästhetische Erfahrung ständig in den Verdacht der Unbotmäßigkeit geraten: wo sie in den Dienst genommen wird, um eine übersinnliche Bedeutung zu vergegenwärtigen, macht sie zugleich die sinnliche Erscheinung vollkommen und bereitet den Genuss erfüllter Gegenwart... Was Bernhard verwirft, ist die concupiscentia oculorum, eine für den frommen Rigorismus illegitime Form der Neugier, die am symbolischen Gegenstand die sinnenhafte Erscheinung mitgenieße und sich mehr und mehr in ihr verfange. Die Kritik lässt erkennen, dass auch die religiöse Kunst nie ganz davor gefeit ist, ein ästhetisches Verhalten auszulösen, das die vom Dogma verordnete Bedeutung überschreitet.[16]

Vielleicht hat ja auch der Theologe, Philosoph und Künstler Thomas Lehnerer recht, wenn er noch für die Gegenwart feststellt, dass alle religiös-theologischen Bemühungen, Kunst zu verstehen, limitiert bleiben. Weder die Autonomie noch den totalisierenden Übergriff der Kunst kann Religion und kirchliche Theorie in sich integrieren - auch nicht begrifflich.[17]

Den Preis für die ästhetische Betrachtung der Kunst hat Wolfgang Preisendanz mit einer Protestnote auf einem Kolloquium so benannt: Ich denke da an den Isenheimer Altar, der vom Auftrag her bekanntlich nicht nur die krasseste Darstellung der Passion, sondern dazu noch der Pest- und Syphilissymptome erforderte. Ist es nicht empörend, wenn einem demonstriert wird, wie dieses Sujet, dieses Syndrom von Marter, Krankheit und Agonie, zum Träger ästhetischer Valenzen werden konnte? Ich wenigstens habe es als unerträglich empfunden, in diesen wie in ähnlich Fällen auf Farbenbeziehungen, Linienverhältnisse usf. aufmerksam gemacht zu werden; irgendetwas rebelliert da gegen ein solches Vorwalten der ästhetischen Relation. Denn je werkimmanenter die Erläuterung wird, desto unausbleiblicher ist doch die Verdrängung aller anderen, den ästhetischen Zustand beeinträchtigenden Beziehung zur Darstellung. Für den modernen, auf Museum eingestellten und so primär oder gar ausschließlich am Kunstcharakter und dessen historischen Hintergrund interessierten Betrachter ist es ja nicht die Satisfaktion durch das Exemplarische der von Grünewald dargestellten Bresthaftigkeit und Qual, was mit dem Eindruck des Grässlichen interferiert, und so müsste er sich eigentlich damit auseinandersetzen, was alles ausgeklammert oder verdrängt werden muß, wenn die Begegnung mit dieser Darstellung rein im Bann ästhetischer Kommunikation bleiben soll. Ich frage mich, ob wohl auch für den mittelalterlichen Betrachter die Möglichkeit bestand, die kunsthafte Integration des Grässlichen als kunstimmanentes Faktum zu akzeptieren, oder ob seine ästhetische Satisfaktion andere Voraussetzungen hatte.[18]

Den Voraussetzungen, unter denen wir Kunstwerke betrachten, und der Analogie und Differenz zur Religion sind auch die beiden folgenden Theoretiker auf der Spur, der eine soziologisch, der andere historisch. Pierre Bourdieu schreibt: Unter der Voraussetzung, dass das Kunstwerk als solches, d.h. als ein mit Sinn und Wert ausgestattetes symbolisches Objekt, nur existiert, wenn es von Betrachtern erfasst wird, die mit einer stillschweigend verlangten ästhetischen Disposition und Kompetenz ausgestattet sind, lässt sich sagen, dass das Kunstwerk als solches vom Auge des Ästheten erschaffen wird, aber nur, wenn man sogleich daran erinnert, dass dieser dies nur in genau dem Maße vermag, in dem er selbst das Produkt einer langen Beschäftigung mit dem Kunstwerk ist. Dieser Kreis, der jenem des Glaubens und des Heiligen entspricht, ist auch der Kreis der Institution, die nur funktionieren kann, wenn sie gleichzeitig in der Objektivität eines gesellschaftlichen Spiels und in den Dispositionen gegründet ist, die zu Interesse und Teilnahme an diesem Spiel führen. Die Museen könnten über ihren Eingang schreiben (aber sie brauchen es nicht zu tun, da es sich von selbst versteht): Keiner trete ein, der nicht Kunstliebhaber ist.[19]

Den historischen Prozeß beschreibt Rainer Piepmaier: Die Möglichkeit eines ästhetischen Interpretanten war in der Geschichte unserer Kultur nicht immer gegeben und ist prinzipiell nicht kulturinvariant. Sie bildet sich in der europäischen Geschichte erst in den Prozessen heraus, die zu dem führen, was wir "Neuzeit" und "unsere Gegenwart" nennen. Die Möglichkeit eines ästhetischen Interpretanten setzt voraus, dass die semantischen Regeln nicht mehr mythologisch oder religiös bestimmt sind. Sie setzt voraus, dass das, was wir Kunst nennen, sich aus dem religiösen Ritus und höfischen Zeremoniell löst. Erst die Herausbildung ästhetischer Rezeptionsweisen konstituiert das, was wir Kunst nennen ... Mittelalterliche Bildtafeln mit der Folge ihrer Heiligenleben und biblisch überlieferten Geschichten waren keine "Kunstwerke", die ästhetisch rezipiert wurden, sondern sie waren die Bibel der Analphabeten, d.h. sie hatten ebenso religiöse wie informierende Bedeutung. Und eine mittelalterliche Marienstatue war kein Kunstwerk im ästhetischen Sinne, sondern Teil der religiösen Verehrung. Ästhetische Rezeption ist dadurch gekennzeichnet, dass sich - wie Hegel es sagt - vor der Heiligenstatue "das Knie nicht mehr beugt" ... Es gibt also eine ästhetische Kompetenz, die als historisch-kulturvariante Möglichkeit sich herausbildete ... "Kunst" hat es also nicht "immer" gegeben. Es gibt aber seit Jahrtausenden Artefakte menschlicher Tätigkeit, die aufgrund ästhetischer Kompetenz aus ihren magischen, mythologischen, religiösen Zusammenhängen gelöst werden können. Die magisch-, mythisch-, religiös-semantischen Regelsysteme ... werden aufgrund neu sich herausbildender ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten ästhetisch umbesetzt. Die magisch-, mythologisch-, religiös-semantischen Potentiale werden nicht rezipiert und führen in der historisch-kulturellen Bedingtheit des Zeichenprozesses zu einem ästhetischen Interpretanten. Deshalb spricht man - von unserer Gegenwart aus: richtigerweise - von der "Kunst" der Osterinseln, von afrikanischer "Kunst" usw. Artefakte menschlicher Gestaltung aller Zeiten und Kulturen werden im "imaginären Museum" als "Kunst" gesammelt ... Es ist theoretisch nicht zu vernachlässigen, dass das ästhetische Zeichen Ergebnis eines Prozesses ist, in dem Institutionen wie Museen, Ausstellungen, Galerien eine konstituierende Komponente sind. Es ist ohne alle Rancune festzustellen, dass in unserem Jahrhundert viele Artefakte - auch und gerade solche, die nicht von "Künstlern" stammen - nur deshalb ästhetisch rezipiert werden, weil sie in einer Galerie, einem Museum stehen ... Es ist ja so, dass auch eine Heiligenstatue erst dadurch "Kunst" wird, dass sie im Museum steht oder prinzipiell dort stehen könnte. Es ist unter diesem Aspekt ein Sakrileg, wenn die Heiligenstatue an ihrem angestammten Platz, in Sakralgebäuden, als "Kunst" ästhetisch betrachtet wird. (Dem ästhetisch Kompetenten ist eben nichts profan und nichts heilig, aber - unter Umständen - alles ästhetisch ...).[20]

So bleibt zum Schluss im Gegenzug auf jenen Querdenker zu verweisen, für den in der Kunst ohne reale Gegenwart nichts läuft. George Steiner hat prononciert auf die notwendige religiöse Bindung aller großen Kunst hingewiesen. Seine These lautet, dass jede logisch stimmige Auffassung dessen, was Sprache ist und wie Sprache funktioniert, dass jede logisch stimmige Erklärung des Vermögens der menschlichen Sprache, Sinn und Gefühl zu vermitteln, letztlich auf der Annahme einer Gegenwart Gottes beruhen muß ... Westliche Theologie und deren bedeutendere Fußnoten wie Metaphysik, Epistemologie und Ästhetik sind "logozentrisch". Das bedeutet, dass sie den Begriff einer "Gegenwart" als fundamental und von überragender Wichtigkeit zum Axiom erheben. Es kann die Gegenwart Gottes sein (letztlich muß sie es sein) ... Diese Gegenwart, sei sie theologisch, ontologisch oder metaphysisch, macht die Behauptung glaubwürdig, dass "etwas ist an dem, was wir sagen". Steiners Ausführungen gipfeln in dem Satz, dass alles, was wir in Literatur, Kunst und Musik von zwingender Größe erkennen, religiös inspiriert, von religiösem Bezug ist.[21]


Nachweise

  1. Georg Simmel, Das Christentum und die Kunst, in: Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984, S. 120-129, hier S. 120.
  2. So Peter Bürger: Probleme gegenwärtiger Ästhetik; in: W. Oelmüller (Hg.), Kolloquium Kunst und Philosophie 1: Ästhetische Erfahrung Paderborn u.a. 1981, S.200-210 (210-244): Mein Problem ist genau dies: In der Spannung zwischen dem Ästhetizismus als Proklamierung der reinen Kunst und dem radikalen Aufhebungsmodell muß es etwas geben, und dieser Punkt interessiert mich theoretisch und von den Erscheinungsformen her. Die Frage ist gerade: Brauchen wir eine allgemeine Theorie der ästhetischen Erfahrung? ... Ich halte eine allgemeine Theorie der ästhetischen Erfahrung für nicht möglich. (238)
  3. Willi Oelmüller, Vorwort; in: ders. (Hg.), Kolloquium Kunst und Philosophie 1: Ästhetische Erfahrung, Paderborn u.a. 1981, S. 7-12
  4. Henning Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992.
  5. Walter Sparn, Protestantisches Christentum und Säkularisierung. Entwicklungen und Lernprozesse; in: Das Wiedererwachen der Religionen als pädagogische Herausforderung, hg. von J. Lähnemann, Hamburg 1992, S. 28-37
  6. Eberhard Jüngel, 'Auch das Schöne muß sterben' - Schönheit im Lichte der Wahrheit. Theologische Bemerkungen zum ästhetischen Verhältnis, ZThK 1984, S. 106-126
  7. Josef Wohlmuth, Art. Schönheit/Herrlichkeit. Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe Bd 4, 1984. S. 104-113.
  8. Alfred North Whitehead, Wie entsteht Religion? (Religion in Making). Frankfurt: 1985.
  9. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik am Ausgang ihrer Unmündigkeit, Merkur 10/11 1990, S. 851.
  10. Karl Heinz Bohrer, Die Grenzen des Ästhetischen, Die Zeit Nr. 37, 4. Sept. 1992, S. 56f.
  11. Georg Simmel, Das Christentum und die Kunst, a.a.O., S. 129.
  12. JWv Goethe, zit. nach Walter Grasskamp, Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums. München 1981, S. 39.
  13. Niklas Luhmann, Weltkunst. In: ders., Unbeobachtbare Welt: über Kunst und Architektur (Niklas Luhmann, Frederick D. Bunsen, Dirk Baecker). Bielefeld 1990, S. 7-45, hier S. 44f.
  14. John Dewey, Kunst als Erfahrung. Frankfurt 1980, S. 365ff.
  15. Hans Robert Jauß: Über religiöse und ästhetische Erfahrung (H. Belting, G. Steiner). Merkur 45, 1991, S. 934-946.
  16. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt 1984, S. 31f.
  17. Th. Lehnerer, Kunst - Selbstzweck und Totalität; Kunst und Kirche 1987, S. 41.
  18. Wolfgang Preisendanz, Statement; in: H.R. Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968, S. 604.
  19. Pierre Bourdieu, Die historische Genese einer reinen Ästhetik; In: Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus, hg. von Gebauer/Wulf. Frankfurt 1993, S. 14-32.
  20. Rainer Piepmeier, Zu einer nachästhetischen Philosophie der Kunst; in: W. Oelmüller (Hg.), Kolloquium Kunst und Philosophie 1: Ästhetische Erfahrung. Paderborn u.a. 1981, S. 111-125.
  21. George Steiner: Von realer Gegenwart: Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990