Sex ist meine Religion
Madonna: Sexualität als Schau-Spiel
von Andreas Mertin
aus: medien praktisch 4/94, S. 26-29.
Der Mythos Madonna ...
Madonna Louise Veronica Ciccione, 36, Kind katholischer, italienischer Einwanderer, hatte es in kürzester Zeit nicht zuletzt aufgrund einiger kalkulierter und - in einem Amerika, das der öffentlichen Zurschaustellung von Sexualität sehr zurückhaltend gegenübertritt - kalkulierbarer Skandale, zum Medienstar gebracht. Die spektakuläre Kündigung eines Werbevertrages durch Coca-Cola, weil die Company negative Rückwirkungen auf ihr Image fürchtete, gehört ebenso dazu wie gezielte Tabuverletzungen und Provokationen der katholischen Kirche.
Die Rocksängerin Madonna ist - ganz im Stil der Zeit - ein Multimedia-Star, sie agiert ebenso auf der Bühne als Tänzerin, wie im Film als Schauspielerin, im Video-Clip als Sängerin und Tänzerin oder im öffentlichen Leben als Femme fatale. Madonna erweist sich als schwer zu fassendes, immer wieder anderes, darin aber gleiches Chamäleon.
... ein Mythos der Oberfläche
Wer das Erscheinungs-Bild "Madonna" kritisch befragen will, dringt nicht weiter als bis zur Oberfläche, denn unter dem Medienglanz ist - nichts. Weder lässt sich eine Differenzierung von Privatperson und öffentlicher Erscheinung durchführen, noch lässt sich ein Substrat der Kunstfigur Madonna jenseits des Glamours benennen. Man muß sich daher vom Gestus des "durch die Oberfläche zum Kern der Sache dringen", des Entlarvens im wörtlichen Sinn verabschieden. Dieses Phänomen der Gegenwart ist ein Kokon ohne Inhalt, reiner Schein, pure Oberfläche.
Vilem Flusser hat zur Wirkungsweise dieser Oberflächenphänomene bemerkt: "Die sogenannten Simulakra, die wir auf dem Fernseh- oder Computerschirm sehen, sind wirklich in dem Sinn, dass sie wirken. Wir müssen endlich aufhören, ewig nach dem Ding an sich zu fragen, also anfangen, Kant ernst zu nehmen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, nach der Effektivität zu fragen. Diese von uns durch Computer hergestellten Welten sind ebenso effektiv wie diese eine armselige Welt, in die wir angeblich hineingeworfen wurden, ohne gefragt zu werden, als wir geboren wurden".[1]
Fragen wir also nach der Wirkungsweise des Mythos' Madonna, so fragen wir aufgrund des Bildes, das uns die Medien davon vermitteln. Der Gestus, den ich mir im folgenden zu eigen mache (ihn simuliere), lässt sich mit einem Zitat so bezeichnen: "Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift. Sie lehrt aus seinen Zügen das Eingeständnis seiner Falschheit lesen, das ihm seine Macht entreißt und sie der Wahrheit zueignet."[2] Das Bild, das Madonna von sich, das die Medien von Madonna vermitteln, gilt es als Schrift zu lesen, als Signatur der Zeit.
Sexualität als Schauspiel
Der Stern hat vor einiger Zeit anlässlich des Erscheinens ihres Sex-Buches, Madonnas sexuelle Attitüden als Ende der sexuellen Revolution bezeichnet, Madonna entmystifiziere Sex und desensibilisiere den Betrachter. Madonna bringe Sexualität auf die Formel: "Sex in jeder Form ist einfach cool. Wie ein Glas Wasser - mit etwas Gift drin".[3] Aber die Betrachtung des Stern geht eigentümlich am Phänomen vorbei. Der Artikel, der Madonnas Auftreten durchaus zutreffend als inszeniertes Geschehen, als Theater, als Show analysiert, verwechselt, was die Wirkungen betrifft, permanent Fiktion und Wirklichkeit. Was Madonna dem Betrachter, der Betrachterin anbietet, ist eine Fiktion, eine Traumwelt, deren Effekte entsprechend betrachtet werden müssen. Natürlich ist keine Fiktion davor gesichert, von den Rezipienten als Handlungsanweisung für die Lebenspraxis (miss-) verstanden zu werden, Goethes "Wahlverwandtschaften" und ihre Rezeptionsgeschichte sind ein schlagendes Beispiel dafür. Aber Madonna gibt deutliche Signale dafür, wie ihre Zur-Schau-Stellung der Sexualität verstanden werden will. Nach jedem Foto, nach jedem ihrer öffentlichen Auftritte könnte sich, wie am Ende des Videoclips zu ihrem Hit "Like a prayer", der Vorhang senken und der Schriftzug the end erscheinen. Einmal unterstellt, Madonna spielt wirklich Theater, dann muß ihr Kokettieren mit der Sexualität, dann müssen ihre Sado-Maso-Phantasien ebenso wie ihre visualisierten Backfisch-Träume eben wie ein zeitgenössisches Theaterstück beurteilt werden.
Vom Schicksal zur Wahl
Das amerikanische Nachrichtenmagazin TIME urteilt über Madonnas Auftreten: "Madonna wechselt ihr Erscheinungsbild wie eine Schlangenhaut: Einmal ist sie das schlimme Mädchen, Spielzeug für große Jungs, dann die unausstehliche Feministin, dann wieder die lüsterne Sexbombe, dann erscheint sie als Marilyn Monroe, wiedergeboren als Geist aus einer Wasserstoff-Flasche, die sich an Dick Tracy anschmiegt. Sie ist verschlagener und begabter als jeder andere, der in diesen Tagen auf der Bühne steht. Alle ihre Identitäten haben nur eins gemeinsam: Sie sind offensichtlich verführerisch künstlich. Sie dringen darauf, dass sie sorgfältig kalkuliert erscheinen. Darin schwelgen sie - und stiften das Publikum an, dasselbe zu tun".[4]
Tatsächlich variieren die Bilder, die Madonna vermittelt, nur Gestalten der sexuellen Traum- und Phantasiewelt: vom unschuldig-träumenden Backfisch auf der Blütenwiese, über das Mädchen, das vom Löwen "Mann" erobert wird und sich "Like a virgin" fühlt, über die klassischen Vater-Tochter-Konflikte bis zum demonstrativen und exzessiven Ausleben sado-masochistischer Phantasien. Nur dass es zwischen diesen verschiedenen Bildern für Madonna keine Präferenzen gibt, jedes Bild von ihr in der Öffentlichkeit ist gleich gültig und bleibt was es ist: nur ein Bild. Die Botschaft, die Madonna vermittelt, lautet: was wir sind, wie wir wirken, welche unserer Träume sich erfüllen, ist kein Schicksal, sondern es unterliegt unserer Wahl, wir selbst können, einschließlich unserer Sexualität, das Leben (zumindest in der Phantasie) zum Erlebnis machen, unsere Biographie unterliegt unserem eigenen Design.[5]
Der unterschwellige Moralismus, mit dem selbst Magazine wie der Stern auf Madonnas Auftreten reagieren, so als ob die Verknüpfung von Gewaltphantasien mit Sexualität oder das ostentative Zuschaustellen von Nacktheit ein Ende der sensiblen Sinnlichkeit bedeuten würde, ist bigott. Die kühle Erotik der Werbung, die sexuellen Phantasien in den Videoclips, die Erotisierung der Musiksongs, das massenmediale Goutieren der Bilder von Robert Mapplethorp sind nicht nur ein Spiegel der gesellschaftlichen Wirklichkeit - als solche werden sie nicht nur vom Stern fast ausschließlich aufgefasst -, sondern auch ein Dokument des von der Gesellschaft weiterhin Ausgeschlossenen und doch (gerade deshalb) Erträumten. Wir möchten gerne auch einmal so cool agieren, wie es das Sexualitätstheater von Madonna uns vorspielt, auch einmal die Grenze überschreiten, um zu wissen, wo unsere Grenzen liegen. Aber gerade weil wir wissen, dass dies nicht der Alltag ist, dass in unserer Lebenswelt weiterhin "Sexualität als Kommunikation" funktioniert, können wir Madonnas Phantasien wie ein Theaterstück - eine Phantasie des "was wäre wenn", des "sich einmal verhalten als ob" - wahrnehmen.
Die Vermutung, dass Erotik und Sexualität Schaden nehmen, weil eine unbekleidete Anhalterin an einer Ausfallstraße steht oder jemand sein Mineralwasser im Adams- oder Eva-Kostüm trinkt, ist jedenfalls absurd. Madonna zeigt eben nicht ihr Intimstes, sie zeigt sich nicht nackt, sondern agiert als Akt: "Als Akt wird man von anderen nackt gesehen und doch nicht als man selbst erkannt ... Nacktheit enthüllt sich selbst; ein Akt wird zur Schau gestellt ... der Akt ist eine Form der Bekleidung.[6]
"Like a prayer"
Vielleicht könnte man Madonnas Auftreten als Emanzipation des Aktmodells begreifen. Sexualität wird zum Bekenntnisfall. Insofern ist es nur konsequent, wenn Madonna sagt "Sex ist meine Religion". Aber auch umgekehrt erhält der Satz bei Madonna seinen Sinn: Religion hat etwas mit Sex zu tun. In ihrem Videoclip "Like a prayer" agiert Madonna in schwarzer Korsage in einer Kirche und re-inszeniert in zeitgenössischem Outfit die Wonnen, die einst die heilige Theresa von Avila in ihrer mystisch-orgiastischen Begegnung mit Christus hatte, diesmal allerdings - times are changing - in einer unio mystica mit einem farbigen Heiligen:
"When you call my name it's like a little prayer
I'm down on my knees, I wanna take you there
In the midnight hour I can feel your power
Just like a prayer you know I'll take you there"
Was da im Video-Clip vor den Augen der Betrachter abläuft, ist ein beziehungsreiches Amalgam: etwas christliche Botschaft ("Like a prayer" ist eine visuelle Adaption aus Jesaja 42,7 und Matthäus 25,35ff.), etwas mittelalterliche ekstatische Mystik, ein Blick in das enthusiastische Gemeindeleben farbiger Christen, alles durchmischt mit einem Hauch Erotik. Und die Sängerin mittendrin in einer Doppelrolle: einerseits als Mädchen, das sich in der Phantasie mit einem Heiligen vereint, andererseits als huldvolle Madonna, die sich der unschuldig Verfolgten annimmt. Und alles ist nur Theater: wenn die Madonna und der Heilige sich nach dem Schlussvorhang vor dem Publikum verbeugen, wird ihre Darstellung als ästhetische Umsetzung des "Hure-Madonna-Komplexes" erkennbar.
Sex und Religion
Der Pas de deux von Religion und Sexualität ist natürlich keine Erfindung von Madonna, er ist eine Dauererscheinung der Religions- und Sittengeschichte und heute ebenso in den neuen religiösen Bewegungen zu finden wie in der Werbung, in der Kunst, der Musikszene oder im simplen Pornofilm. Das Spiel mit der Vermischung von Symbolen der Sexualität und der Religion ist en vogue.
Dabei geht es schon lange nicht mehr um jene Verbindung von Religion und Sexualität, die beide aus der Tiefe des Erlebens miteinander verknüpft, jene Verbindung, die historisch das ekstatische Erleben der Religion mit dem ekstatischen Erleben von Sexualität verbunden hatte. Das gegenwärtige "Orgien-Mysterien-Theater" (Hermann Nitsch) ist wirklich up to date, es agiert konsequent an der Oberfläche, im Bereich des Erscheinungsbildes. Religion und Sexualität sind Etiketten, mit denen man sein Leben ausstaffieren kann. Selbst dort, wo wie im Ashram Religion und Sexualität in Lehre und Praxis noch unmittelbar verknüpft werden, bleiben beide in ihrer Kombination doch nur Freizeitspiele bürgerlicher Europäer.
Selbst wenn die Performance-Künstlerin Diamanda Gala sich im Rahmen ihrer Auftritte nur mit Lendenschurz bekleidet ans Kreuz hängen lässt und in blutrote Farbe getaucht die Nerven der Zuschauer kitzelt, dann reicht das zwar zum obligaten Protest katholischer Gazetten, für das Publikum kommt es aber nicht mehr auf Erfahrung, sondern nur auf den Schau-Effekt an: die Re-Vision christlicher Symbolik im Zeitalter von Aids.
Michael Rutschky ist in seinem Beitrag zur Ausstellung "Das Aktfoto" gesprächsweise auch der Verbindung von Sexualität und religiöser Erfahrung nachgegangen. Dabei verweist er auf George Bataille. Aber seine Gesprächspartnerin antwortet: "Ach! sagt K., Bataille! Das müssen schöne Zeiten gewesen sein, wo man auf eine derart glänzende Idee kommen konnte: Dass die Sexualität das eigentliche Feld der religiösen Erfahrung sei, weil sie die Überschreitung des Verbots impliziere, das die auf Arbeit und Disziplin begründete Zivilisation gegen die 'Gewaltsamkeit' des Triebes errichtet habe. 'Das Verbot ist da, um verletzt zu werden.' Das müssen schöne Zeiten gewesen sein, wo schon die Entkleidung die entscheidende Handlung war; während heutzutage die Entblößten in vivo oder in effigie allerorten besorgen, dass dieser Zustand nichts, aber auch gar nichts mit Erotik zu tun hat!" Und Michael Rutschky antwortet seiner Gesprächspartnerin: "Ich, sagte ich, bin mir einfach nicht sicher, ob das stimmt, ... dass heutzutage die Erotik als Transzendenz eingezogen ist ... Nein, ich glaube eigentlich nicht, dass hier die Erotik abgestorben ist. Sie findet aber vor allem auf dem Feld des Schauens statt."[7] Das Schauen als Form sublimer Erotik, darauf verweist Rutschky, macht sich allerdings an der Abweichung, am Makel des betrachteten Körpers fest. Sexualität als Medienschauspiel dagegen, wie wir sie bei Madonna, bei Diamanda Gala, in den Zeitgeist-Magazinen, aber auch bei dem Künstler Jeff Koons finden, ist ein Spiel, bei dem die Sexualität, und erst recht ihre Verbindung mit der Religion, nur das akzidentielle Material bildet.
Das sieht man nicht zuletzt an der Werbung. Schon seit langem setzt Werbung auf sexuelle Konnotationen, in letzter Zeit verstärkt mit religiösen Zutaten; die Werbung für das Parfum Eden oder den Renault Clio sind Beispiele dafür. Wenn Otto Kern für seine Jeans Leonardo da Vincis Abendmahl mit einem Jesus und zwölf kaum bekleideten Jüngerinnen re-inszeniert, wenn er - nach prompt erfolgtem Protest - die Blöße der Modells wie Michelangelos Putten in der Sixtinischen Kapelle mit einigen Farbtupfern übermalen lässt, wenn er eine nackte "Christa" fotografisch ans Kreuz nagelt, wenn er ein Modell mit Puppe als Madonna agieren lässt, dann spielt er nur noch mit Chiffren, denn sein Rekurs auf die erotischen Bilder der christlichen Ikonographie hat keine substantielle Bedeutung. Wenn er die Bilder dennoch einsetzt, so deshalb, weil für die symbolische Besetzung der Oberfläche nicht unendlich viel Material bereit steht, während Sex und Religion ausreichend Anschauungsmaterial bieten.
Ausblick
Der Mythos "Madonna" mag vergehen, das "Prinzip Madonna" überlebt in den Werbeanzeigen der "Wellness"-Industrie. Madonnas zur Schau gestellten sexuellen Obsessionen verflüchtigen sich in Calvin Kleins Parfum "Obsession" oder klingen wieder in Davidoffs Duftwasser-Maxime "Relax your mind - enjoy your body". Die Anzeigen beider Produkte sind von Madonnas Bildern nicht mehr zu unterscheiden. Sie alle zeigen letztlich immer nur eins: Sexualität als Schau-Spiel.
Anmerkungen
- Vilém Flusser, Alle Revolutionen sind technische Revolutionen. Gespräch mit Florian Rötzer, Kunstforum International 97 (Ästhetik des Immateriellen? Zum Verhältnis von Kunst und Neuen Technologien), 1988, S. 120-134, hier S. 128.
- Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt 1969 (1986), S. 30.
- Die Lust alles zu zeigen. Der neue Exhibitionismus, Stern 46/1992, S. 30ff.
- TIME No. 31 vom 30. Juli 1990, S. 58, zit. nach Horst Albrecht, Die Religion in den Massenmedien, a.a.O., S. 21.
- Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 3. Auflage. Frankfurt/New York 1993.
- John Berger, Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt, Reinbek 1974, S.51.
- Michael Rutschky, "Das Bild des nackten Körpers im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Diskussionsszenen"; in: M. Köhler / G. Barche (Hg.), Das Aktfoto. Ansichten vom Körper im fotografischen Zeitalter. Ästhetik Geschichte Ideologie, München/Luzern 1985, S. 12f.
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