Perspektivenwechsel

Der Streit um die Kunst in Luttrum

Von Andreas Mertin

aus: Kunst und Kirche 4/94, S. 226-228.

Eine Dorfkirche in Luttrum

Manchmal scheinen die Dinge in einer Gemeinde auf dem Kopf zu stehen.

Da werden Selbstverständlichkeiten des Alltags wie Offenheit und die Bereitschaft, sich auf Ungewohntes, Neuartiges, vielleicht auch Verstörendes einzulassen, zu Ausnahmeerscheinungen. Ein Beispiel dafür ist der aktuelle Konflikt um die Kunst in Luttrum im Kreis Hildesheim.

Die Luttrumer Annenkirche ist eine kleine weiße Fachwerkkapelle vom Ende des 17. Jahrhunderts, die Decke wurde im Jahr 1716 bemalt, der Kanzelaltar stammt aus dem Jahr 1604. 1973 wurde die Annenkirche renoviert. Der äußere Eindruck der Kirche ist idyllisch, es handelt sich eine jener kleinen Kirchen am Wegesrand, wegen derer man schon einmal eine Reise unterbricht, um sich das Kleinod näher anzuschauen. Auch das Innere der Kirche enttäuscht Baedecker-Christen nicht: der Altar verleiht dem Ganzen eine fast süßliche Stimmung, Ornamente bestimmen den Raumeindruck. Man wird diese Inszenierung nicht als besonders herausragend bezeichnen, sie verleitet nicht zur weitergehenden Reflexion der zeitgenössischen Gestalt des Christentums in der Welt. Aber das war vielleicht auch gar nicht erwünscht, dieses Gotteshaus dient vielmehr der ungestörten Selbstvergewisserung der Gläubigen und dem kulturhistorisch interessiertem Blick des Besuchers. In dieser Perspektive schien in dieser Kirche alles in Ordnung zu sein, alles stand, wenn auch mit kleinen Schönheitsfehlern, am rechten Platz.

In diese geordneten Verhältnisse platzte nun ein Geschenk, das die Gemüter aller Beteiligten in Aufruhr versetzte. Durch die Demontage der Kanzel war inmitten der Altarwand der kleinen Kirche eine weiße Fläche entstanden, die den harmonischen Eindruck störte. Die Verhältnisse riefen nach einer Veränderung. Da kam die Idee auf, einen zeitgenössischen Künstler, einen der bekanntesten der bundesdeutschen Kunstszene, der zudem gleich in der Nachbarschaft wohnt und arbeitet, um Hilfe zu bitten. Der Pfarrer der Gemeinde, Hans-Joachim Dose, hatte schon 1987 den Künstler Georg Baselitz in seinem Atelier besucht und dieser hatte kurz darauf die Kirche besichtigt und die Schenkung eines Werkes angeboten. Damit war für die kleine Kirche plötzlich die Gelegenheit gegeben, durch ein repräsentatives Werk der Gegenwartskunst ein Stück Zeitgenossenschaft in die Kirche zu bringen. Werke vergleichbarer Bedeutung haben bisher nur selten Eingang in deutsche, zumal protestantische Kirchen gefunden. Nachdem sich ein erstes in Aussicht genommenes Werk "Anna Selbdritt" als für die Kirche zu überdimensioniert erwiesen hatte, brachte Baselitz 1991 drei Bilder in die Annenkirche mit und entschied, dass das Bild "Tanz um das Kreuz" am besten in die Kirche passte und schenkte dieses der Gemeinde unter der Auflage, das Bild anstelle der vorhandenen Altarinszenierung im Kirchenraum aufzustellen.

Georg Baselitz: Tanz ums Kreuz

Manchmal stehen auch in der Kunst die Dinge auf dem Kopf.

Der "Tanz um das Kreuz" ist ein solcher Blickwechsel. Hier unterbricht ein Kunstwerk die gewohnte Weltwahrnehmung mittels einer 180° Drehung der Perspektive. Man muß sich nicht auf den Kopf stellen, um dieses Werk zu verstehen, es versteht sich - wenn auch nicht von selbst - so doch mit der Bereitschaft, nicht nur das Selbstverständliche, sondern auch das Ungewohnte wahrzunehmen. Es gehört zu den Charakteristika der Kunst von Georg Baselitz, die Welt auf den Kopf zu stellen. Er hat sich, wie sein Freund Markus Lüpertz sagt, "ein auf dem Kopf stehendes Universum eröffnet", er benutzt einen "Kunsttrick", um "das Traditionelle bewusst begreifbar (zu) betreiben". In seiner Kunst prüft Baselitz die künstlerischen Gestaltungsmittel: "Programmatisch mache ich Bilder, ich male ja keinen Gegenstand ... Die Umkehrung des Motivs gab mir die Freiheit, mich mit malerischen Problemen auseinander zusetzen". Auch beim "Tanz ums Kreuz" handelt es sich nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Jesus Christus, sondern um die Beschäftigung mit spezifischen malerischen Problemen anhand eines "klassischen", überlieferten Sujets, dem Christusbild.

Baselitz hat das 314x210 cm große Bild 1983 geschaffen. Man sieht eine nimbusbekrönte blaue bärtige Figur, die am Kreuz hängt, während das Kreuz die Bildfläche in vier Farbzonen teilt. Die linke Bildhälfte wird von den Farben Blau und Grün dominiert, die rechte Bildhälfte wird aus Fleisch-Farben und einem hellen Blau gebildet. Auch Hände und Füße der Figur sind in unterschiedlichen Farben dargestellt. Das Kreuz selbst ist in einem kräftigen Grün gemalt. Insgesamt erhält man so den Eindruck von Flächenmalerei, und die durch Kreuz und Nimbus indizierte Ikonographie dient dabei (lediglich) als Organisationsprinzip.

Begegnung mit dem Fremden

Manchmal muß man die Dinge auf den Kopf stellen, um sie richtig wahrnehmen zu können.

In Luttrum ist die Begegnung mit dem Fremden, mit dem Gast namens Kunst nicht allzu freundlich ausgefallen: diesen Gast wollte man nicht, er störte das vertraute Ambiente, den rustikalen Charme der Dorfkirche, den traditionsbewussten Gang zur Kirche. Zu radikal stellte dieser fremde Gast das Gewohnte auf den Kopf, verstörte die alltäglichen Wahrnehmungen und durchbrach das Altvertraute. Schon kurz nach Bekannt werden des Beschlusses des Kirchenvorstandes, das Geschenk des Künstlers anzunehmen, wurde eine Unterschriftensammlung gegen die Veränderung der bisherigen Zustände in der Annenkirche initiiert. Um die Gemeinde nicht mit dem für manche Augen sicher konfliktträchtigen Bild zu überfallen, wird beschlossen, das Werk zunächst provisorisch neben dem Altar aufzustellen. Allerdings war schon bei der Annahme des Geschenks durch den Kirchenvorstand klar gewesen, dass dafür die Altarrückwand in der Kirche entfernt werden muß. Dies sollte aber in einem reversiblen Prozeß geschehen.

Am 4. November 1992 kommt das Bild schließlich in die Kirche und wird eine Woche später von Friedhelm Mennekes der Gemeinde und der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt. Kurz darauf beginnt die Presse sich für das Bild in der Kirche und die Äußerungen der Gemeindeglieder zu interessieren, es kommt zu ersten kritischen Reaktionen und vehementen Ablehnungen des Bildes. Gemeindeglieder wenden sich an den Landessuperintendenten und beschweren sich über das Bild wie über den das Bild verteidigenden Pfarrer. In einem offenen Brief wendet man sich an den Künstler und verlangt von ihm, das Bild wieder zurückzunehmen. Selbst die Kirchenvorstandswahlen werden zu einem Mittel im Kampf um die Auseinandersetzung um die Kunst in Luttrum. Es geht darum, mit allen Mitteln die Aufstellung des Werkes zu verhindern.

Die Argumente der Kontrahenten

Manchmal stellen sich auch Menschen auf den Kopf.

Und das nur, um Dinge, die sie nicht sofort verstehen, nicht weiterhin wahrnehmen zu müssen. Welche Argumente werden gegen das Kunstwerk vorgebracht? Zunächst einmal geht es um das Verfahren. Wer entscheidet in der Gemeinde über die Kunst? Hier optieren die Bildgegner für das plebiszitäre Element. Wohl wissend, wie schwer es moderne Kunst in der Gesellschaft hat, und darauf hoffend, dass das bloße Abstimmen die qualifizierte Argumentation ersetzt, verlangen sie eine Abstimmung aller. Dieses zunächst einsichtige Begehren offenbart schnell seine Schwächen. Zunächst spielt in einem derartigen Abstimmungsprozess tatsächlich nur noch das subjektive Geschmacksurteil eine Rolle. Ungewohntes, Verstörendes oder auch Provokatives hat in plebiszitären Prozessen nur selten eine Chance. Es fragt sich zudem, wofür eine Gemeinde einen Vorstand hat, wenn dessen Entscheidungen von Gemeindeabstimmungen wieder aufgehoben werden. Denn darum geht es doch, wenn gegen den Pfarrer und "seine ihm ständig ihm zustimmenden Kirchenvorsteher" gewettert wird. Jede Forderung nach qualifizierter Auseinandersetzung wird abgelehnt. Es gehe nicht um Kunstverständnis, es gebe hier auch keine Verantwortung gegenüber späteren Generationen. Vielmehr gehe es um den Wunsch, diese Kirche in ihrem jetzigen Bestand als Kirche zu erhalten. Diesem Empfinden stehe die Kunstbesessenheit der Bildbefürworter entgegen. Nicht fehlen darf der Hinweis auf das Teuflische der Kunst. War es im Heidelberger Fensterstreit die rote Farbe, die auf den Teufel deutete, so ist es hier die stürzende Figur, die als Luzifer gedeutet wird. Wenn Gemeindeglieder dem Künstler vorwerfen, er habe nur ein Bild und nicht einen Christus geschaffen, dann fragt man sich doch, wie sie bisher den Kruzifixus auf dem Altar wahrgenommen haben. War für sie hier Jesus Christus vergegenständlicht, im Bild anwesend?

Letztlich geht es in diesem Streit nicht um das Werk von Georg Baselitz, hier wird nicht um moderne Kunst gestritten. Im Zentrum steht vielmehr der Wunsch, alles möge so bleiben, wie es gerade ist. Die Luttrumer Bildergegner hängen vehement an einem Bild, nämlich an dem bisherigen Erscheinungsbild ihrer Kirche, an der überlieferten Gestalt ihrer Altarwand. Es bedarf einer genaueren Untersuchung, welche Bedeutung für sie diese Altarwand hat, welche Ängste bei ihnen ausgelöst werden, wenn das vertraute Ambiente verschwindet, ob sie sich nicht die Altar-Inszenierung zum Götzenbild gemacht haben. In Luttrum streiten zwei Bilder gegeneinander. Die Äußerungen des Offenen Briefes an Georg Baselitz sind an dieser Stelle mehr als deutlich. Da wird das religiöse Gefühl mit der Liebe zum Althergebrachten verbunden, da wird die Liebe zur Kirche eine Liebe zur überlieferten Kirchengestalt, da wird das religiöse Gefühl zum Ausdruck des Wunsches, nur ja nichts vor Augen geführt zu bekommen, das die stille Andacht stört. Die Argumente sind nicht neu, sie kehren in jeder Auseinandersetzung um Kunst in der Kirche wieder. Hier äußern sich jene, denen das Private, Nicht-Weltliche und Harmonische in der Kirche über alles geht. Auch im Heidelberger Fensterstreit ging es darum, dass Bürger sich ihre ungetrübte Idylle erhalten wollten, dass sie sich nicht vorstellen konnten, "wie Provokatives in einer alten Kirche Platz haben kann", auch damals wollte man Ruhe und Transzendenz in der Kirche statt diese als Zentrum des Lebens zu verstehen.

Die Verteidiger des Werkes von Georg Baselitz verweisen zunächst einmal auf die Wirkungen, die dieses Bild bereits gehabt hat, sie reflektieren auf seine Souveränität, seine Macht und Fähigkeit, Menschen und Verhältnisse zu verändern. Tatsächlich ist durch den Konflikt den das Bild ausgelöst hat, eine vehemente Diskussion um Funktion und Aufgabe der Kirche in Gang gekommen. Die Menschen in und um Luttrum wie auch die anreisenden Besuchergruppen, so meint Pfarrer Dose, seien durch das Bild in eine Art positiver Identitätskrise gekommen, die sie fragen lässt: Wer sind wir eigentlich? Was wollen wir? Wer ist Jesus Christus, was will er? Das Bild löse eine Art Katharsis-Effekt im Blick auf bisherige konventionalisierte Glaubensvorstellungen aus. Das Bild fördere das intensive Gespräch zwischen den Menschen über Sinn und Aufgabe der Kirche und werde so indirekt zur Anregung für den Glauben. Im Gegenzug zur Argumentation der Bildgegner verweisen die Bildbefürworter darauf, dass gerade durch das Werk von Baselitz ein bisher eher museal wirkender Kirchenraum aus seiner Erstarrung erwacht sei und sich für Menschen für heute geöffnet habe.

"Dies ist nur ein Bild" hat Georg Baselitz in einem Interview zu seinem Werk gesagt, "das ist kein Christus". So hat der Künstler besser als die protestierende Gemeinde verstanden, worum in den 2800 Jahren jüdisch-christlicher Bilderkämpfe gestritten wurde, dass es nämlich darum ging, die Vergegenständlichung des Gottesbildes, letztlich den Repräsentationsgedanken überhaupt abzuwehren. Das ist die Stärke des Bildes von Georg Baselitz im kirchlichen Kontext, das ist die spezifische Qualität des "Tanzes ums Kreuz" in der Annenkirche in Luttrum, dass niemand in der Gemeinde das Bild vergegenständlichen kann, dass es nicht als Christusbild, sondern allenfalls als Umsetzung des biblischen Bilderverbotes begriffen werden kann. Damit trifft und repräsentiert es zugleich ein wichtiges Element des christlichen Glaubens: kein Kultbild zu haben.

© Andreas Mertin