Leben - Kunst - Lebenskunst

Zwei Positionen zur Bedeutung der Kunst für das Leben

von Andreas Mertin

Statement auf der Tagung "Lebenskunst" der Theologie und Ästhetik Gruppe, Arnoldshain 28.10.1994.

Wie Kunst und Leben sich aufeinander beziehen, ist ein seit Jahrhunderten umstrittenes Problem. Im folgenden möchte ich kurz zwei Positionen des 20. Jahrhunderts skizzieren, die in ihrer Antithetik vielleicht erhellend sind. Die eine Position entnehme ich Theodor W. Adornos Aphorismensammlung Minima Moralia, in der dieser sich wiederholt zur ästhetischen Perspektivierung des Lebens äußert, die andere Position der kritischen Selbstbesinnung dessen, was Kunst und Leben heute noch verbindet, Wolfgang Max Fausts Tagebuch Dies alles gibt es also - Alltag, Kunst, Aids.

Beide Positionen reflektieren das Verhältnis von Kunst und Leben. In Frage steht zwischen beiden, was Karl Heinz Bohrer als weiterhin gültige Maxime zur Grenzziehung des Ästhetischen gegenüber dem Leben so benennt: "Die Grenzziehung des Ästhetischen ist notwendig, weil sonst die ... banalisierenden Missverständnisse des Ästhetischen als das Hedonistische oder das Humane oder das Soziale auftreten. Je reiner der ästhetische Kern erhalten ist, um so größer die Strahlkraft nach außen. Dies geschieht allerdings nicht als sozialkritische Korrektur des generellen Diskurses, sondern vielmehr als dessen Irritation".


Theodor W. Adorno, Minima Moralia

Jürgen Habermas hat vermutet, die "Minima Moralia" verständen sich "ohne Ironie" als Lehre des richtigen Lebens. Albrecht Wellmer urteilt, in den "Minima Moralia" sei Adornos Lehre vom richtigen Leben "wie in Spiegelschrift" enthalten. Nur vor dem Hintergrund der Adornoschen Hoffnung, die vollendete Negativität könne "zur Spiegelschrift ihres Gegenteils" zusammenschießen, also der unterstellten "Genese der Wahrheit aus dem falschen Schein" lassen sich Spuren einer "Lehre vom richtigen Leben" gewinnen. Von einer entfalteten Ethik im Sinne einer "Magna Moralia" kann keine Rede sein, "die Wahrheit übers Leben" muss "von dessen entfremdeter Gestalt abgelesen werden". Angesichts der objektiven Bedingungen, so meint Adorno, sei Philosophie als Anweisung zum richtigen Leben nicht ohne weiteres möglich. Eine Philosophie, die dennoch affirmativ "sich anheischig machen würde, ... zu sagen, wie sich richtig leben läßt, wäre von vornherein so vereidigt auf ihr heteronome äußerliche Zwecke, dass sie ihren Begriff verfehlte". Kein isoliertes Subjekt könne sich ausdenken, was das richtige Leben sei, der Begriff des richtigen Lebens unterliege einer Art philosophischen Tabus. Übrig bleibe, die Spannung zwischen dem notwendigen Leben und dem Wissen um die falsche Verfasstheit dieses Lebens auszuhalten, sie ins Auge zu fassen, zu reflektieren in der Hoffnung darauf, dass diese Reflexion "selber etwas Lösendes" hat, dass sie die eigene Praxis wenn auch nur um ein Geringes zu verändern mag, so dass die Verhältnisse durchsichtig werden.

Der erste Teil der "Minima Moralia" trägt als Motto einen Satz des Schriftstellers Ferdinand Kürnberger (1821-1879): "Das Leben lebt nicht". Damit ist eine Frontstellung bezeichnet, die heute nur annäherungsweise nachvollzogen werden kann. Die Philosophie des Lebens war in der Zeit zwischen 1880 und 1930 das beherrschende Thema: "Im Zeichen des Lebens geht es gegen das Tote und Erstarrte, gegen eine intellektualistische, lebensfeindlich gewordene Zivilisation, gegen in Konventionen gefesselte, lebensfremde Bildung, für ein neues Lebensgefühl, um 'echte Erlebnisse', überhaupt um das 'Echte': um Dynamik, Kreativität, Unmittelbarkeit, Jugend. 'Leben' ist die Losung von Jugendbewegung, Jugendstil, Neuromantik, Reformpädagogik und biologisch-dynamischer Lebensreform. Die Differenz zwischen dem Toten und dem Lebendigen wird zum Kriterium der Kulturkritik, und alles Überkommene wird 'vor den Richterstuhl des Lebens' zitiert und befragt, ob es echtes Leben repräsentiert, 'dem Leben dient', oder lebenshemmend, lebensfeindlich ist ... 'Leben' erscheint als Maßstab des Gesunden, Wahren und Guten, während das Abzulehnende meist unter dem Oberbegriff des 'Kranken' zusammengefasst wird. Man kann die Lebensphilosophie geradezu dadurch definieren, dass in ihr 'Gesundheit-Krankheit' der alles dominierende normative Gegensatz ist" (Schnädelbach). Vor dem Hintergrund der nachklingenden Dominanz der Philosophie des Lebens sind jene Aphorismen zu verstehen, die ebenso eine Kritik der Lebensphilosophie, der Apotheose des Lebendigen bzw. des Kultus des Lebens darstellen, wie sie untergründig mit ihr korrespondieren.

Kern des Aphorismus' 48 ist die Frage, ob alles Daseiende den gleichen Anspruch auf Beachtung hat. Nachdem Adorno anhand der Analytik des Schönen gezeigt hat, dass dem einzelnen Gegenstand Gerechtigkeit nur durch die Ungerechtigkeit gegenüber allen anderen widerfährt, überträgt er diesen Gedanken auf das Leben bzw. das Lebendige. Wie für das Schöne gilt, dass, "wer alles schön findet, ... nun in der Gefahr (ist), nichts schön zu finden", so gilt für die Güte, dass unterschiedslose Güte gegen alles in Kälte gegen jedes umschlägt, und für das Leben, dass es als hypostasiertes ins Zerstörende oder Böse übergeht. Dagegen gilt es sowohl im Blick auf das Schöne, das Gute wie das Leben, sich dem Besonderen zuzuwenden, die jeweiligen Qualitäten kritisch zu entfalten. Dieser Zuwendung zum Besonderen wird von den Kritikern entgegengehalten, dass alles Lebendige positiver Betrachtung wert sei, dass noch im Entstelltesten die Heiligkeit des Lebens aufscheine. Adorno meint dagegen, einem emphatischen Begriff des Lebens könne nur treu sein, wer seinen aktuellen Zerfallsformen kritisch gegenüberstehe. Der Rekurs auf das Leben selbst verzichte auf das Mögliche, er sei unkritisch affirmativ gegenüber dem Bestehenden. Dagegen ist die am Besonderen wahrgenommene und nicht mit dem Universalen verrechnete Schönheit eine heilsame Krankheit, die dem Leben und seinem Verfall Halt bieten kann.

Adorno geht in diesem Aphorismus so vor, dass er Einsichten, die in der Analytik des Schönen bzw. in der ästhetischen Erfahrung gewonnen werden, auf die Betrachtung der Gesellschaft überträgt und sie dort evident zu machen sucht. In diesem Falle geht es darum, dass Adorno die ethischen Implikationen ästhetischer Erfahrung gesellschaftskritisch geltend macht. Ästhetische Erfahrung geschieht nicht im abstrakten Vergleich zwischen verschiedenen als schön deklarierten Objekten, sondern in einer Bewegung, die sich ausschließlich auf das besondere Objekt konzentriert. Dadurch enthält das ästhetische Urteil - und diese Einsicht ist nicht mehr ästhetisch, sondern muss als ethische beschrieben werden - ein Moment der Ungerechtigkeit und der Gerechtigkeit zugleich. Gerechtigkeit widerfährt dem einzelnen durch Ungerechtigkeit gegenüber allen anderen. Diese ethische Qualifizierung des ästhetischen Urteils macht Adorno nun im Feld der Ethik fruchtbar. Die Übertragbarkeit gewinnt sich aber aus einer geschichtsphilosophischen Entscheidung, sie läßt sich nicht aus dem ästhetischen Urteil bzw. aus der ästhetischen Erfahrung selbst plausibel machen. Allerdings kann Adornos Übertragung von Kunstwahrnehmung auf Gesellschaftskritik als Allegorie im Sinne des mittelalterlichen Homologiemodells gedeutet werden: die ästhetische Erfahrung verhält sich zu ihrem Gegenstand wie die Erkenntnis zum Leben. Damit wird zugleich ein Moment des Ästhetischen erhalten: "Eine Allegorie erfassen heißt eine Proportionsbeziehung erfassen und diese Beziehung - auch dank einer Interpretationsbemühung - ästhetisch genießen" (Umberto Eco).

Der Aphorismus 153 "Blick der Erlösung" kann als Aufriss der Aufgabenstellung und Grenzen der gesamten "Minima Moralia" verstanden werden. Adornos Reflexion kreist in diesem Aphorismus um die Frage, wie Philosophieren noch denkbar ist, ohne in Affirmation umzuschlagen oder gar dem Unrecht Vorschub zu leisten. Der reale Ort der Philosophie und damit auch aller Reflexionen zum guten Leben ist "im Angesicht der Verzweiflung", ist die Wahrnehmung des Grauens, der Hölle, die die Welt ist. Will Philosophie nicht selber verzweifeln, müsste sie eine Perspektive einnehmen, die den wahren Zustand der Welt zu erkennen ermöglicht sie benötigte quasi einen archimedischen Punkt der Erkenntnis. Dieser Standpunkt ist aber nicht möglich, weil jeder reale Ort der Philosophie in der Welt und mit ihr lädiert ist. Daher sieht Adorno sich gezwungen einen unmöglichen, irrealen Ort der Erkenntnis anzunehmen, den "Standpunkt der Erlösung". Verantwortete Philosophie müsste die Entstellung der Welt im Licht dieses Standorts wahrnehmbar denken, um überhaupt noch über Deskription hinauszukommen. Erst in der messianischen Perspektive erweist sich die Welt als so erlösungsbedürftig, wie sie tatsächlich ist. In dieser Perspektive wäre das Denken ganz mimetisch, es ließe die Dinge zu ihrem Recht kommen. Aber alle diese Überlegungen bleiben an den Konjunktiv gebunden. Allenfalls proleptisch könnte vom Standpunkt der Erlösung gesprochen bzw. das Licht der Erlösung in Anspruch genommen werden. Dennoch bleibt die Forderung, die Welt im Lichte der Erlösung zu betrachten, als unaufgebbar bestehen.

Das Modell, das diesem Denken zugrunde liegt, ist das Modell der Kunst. Das wird deutlich in Adornos "Aufzeichnungen zu Kafka": "Absolute Entfremdung, preisgegeben dem Dasein, von dem sie sich abgezogen hat, wird als die Hölle durchforscht, die sie an sich schon, ohne es zu wissen, bei Kierkegaard war. Als Hölle aus der Perspektive der Erlösung. Kafkas künstlerische Verfremdung, das Mittel, die objektive Entfremdung sichtbar zu machen, empfängt ihre Legitimation aus dem Gehalt. Sein Werk fingiert einen Ort, von dem her die Schöpfung so durchfurcht und beschädigt erscheint, wie nach ihren eigenen Begriffen die Hölle sein müsste ... Das mittlere Reich des Bedingten wird infernalisch unter den künstlichen Engelsaugen".

Was Adorno hier betreibt ist eine ästhetische Perspektivierung des Lebens und der Welt im ethischen Interesse. Hier fingiert, wie Adorno schreibt, das Kunstwerk "einen Ort, von dem her die Schöpfung so durchfurcht und beschädigt erscheint, wie nach ihren eigenen Begriffen die Hölle sein müsste". Die "künstlichen Engelsaugen" dienen dabei als Mittel, "die objektive Entfremdung sichtbar zu machen". Die Parallelität in Wortwahl und Argumentation zwischen den "Aufzeichnungen zu Kafka" und dem Aphorismus 153 der "Minima Moralia" macht es wahrscheinlich, dass der in den MM 153 als unmöglich beschriebene Standort, der dem Bannkreis des Daseins entrückt wäre, zwar nicht eingenommen, aber von der Kunst fingiert werden kann.

Alles, was im Aphorismus 153 unter dem Vorbehalt des Konjunktivs steht, wird in den "Aufzeichnungen zu Kafka" ästhetisch realisiert. Zwar kann kein ethischer Standort bzw. Standpunkt eingenommen werden, der der Welt, wie sie ist, entronnen wäre, aber die Welt kann in der Perspektive der Kunst, d.h. ästhetisch, betrachtet werden, "wie sie wäre, wenn sie in sich und d.h. ohne unser Zutun sinnvoll strukturiert wäre" (R. Bubner). Von dieser Perspektive fällt ein Licht auf die Schöpfung bzw. die Welt, das diese in ihrer Entstelltheit wahrnehmbar werden läßt. Dies ist der "Glutkern" der Auffassung von der Ästhetik als Vor-Schein, hier kritisch gegen die Gesellschaft gewendet.

Mit Kierkegaard gilt, dass, wenn die Forderungen der Kunst in ihrer ganzen Strenge geltend gemacht werden, man wahrscheinlich gar wenig Schönes im Leben findet, m.a.W., dass die Kunst selbst sich als das Optimale erweist, in dessen Perspektive die Welt als beschädigt erscheint. In diesem Sinne kann der Aphorismus 153 als Modell der ästhetischen Befragung der nichtästhetischen Realitäten verstanden werden.

Adorno betrachtet die nichtästhetische Realität so, dass er im Durchgang durch die ästhetische Erfahrung ein neues Bild dieser Realität gewinnt, das im Kontrast zu dem steht, dass wir uns ohne die ästhetische Erfahrung gemacht hätten. M.a.W. erst der ästhetische Blick generiert jene grundsätzlichen Probleme, die ein Projekt der Lebenskunst zu lösen angehen müsste.


Wolfgang Max Faust, Dies alles gibt es also: Alltag, Kunst, Aids

Angesichts der Parusieverzögerung des romantischen Projekts der Versöhnung von Kunst und Leben, angesichts einer gescheiterten Beschreibung der Kunst als Form höherer Wahrheit, wird aktuell nach einer Neubestimmung von Kunst und Leben gefragt. Es geht um die De-Zentrierung der Kunst unter Anerkenntnis ihrer faktisch eingetreten Vergleichgültigung. Die Kunst bildet demnach keinen Fokus mehr, durch den die Probleme der Moral und der Ethik gebündelt werden können, das Leben selbst bzw. die Kunst des Lebens rücken ins Zentrum des Interesses.

In diesem Sinne kann das Wolfgang Max Fausts Tagebuch Dies alles gibt es also: Alltag, Kunst, Aids als dekonstruktiver Text zu Adornos "Minima Moralia" gelesen werden dekonstruktiv, weil es zwar in vielem den "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" konform geht, aber an entscheidenden Stellen Korrekturen vornimmt. Diese Korrekturen betreffen insbesondere das Verhältnis von Kunst und Leben. Immer wieder kreist Faust um jenen Satz, den Novalis 1798 in sein philosophisches Arbeitsbuch geschrieben hat: Mensch werden ist eine Kunst. Die Frage ist, was die Kunst zum Leben leistet, was der Beitrag der Künste zum Projekt Menschwerdung sein könnte. "Auf bizarre Weise - so sehen wir im Rückblick - war die Kunst der Moderne für die westliche Zivilisation Hoffnung und Scheitern zugleich. Die Hoffnung verblasst. Das Scheitern wird überdeutlich. Kunst zeigt sich zunehmend gebunden an das ungelebte Leben. Folgenlos bleibt ihr 'ästhetischer Vor-Schein'. Nichts da von einer 'gesellschaftlichen Antithesis zur Gesellschaft'". Die historische Investition Kunst, die sich die Menschheit geleistet hat, ist zu einem Abschreibungsprojekt verkommen, sie ist nur noch 'Kunst' und kein Leben mehr.

Fausts Vorbehalt gegenüber der Kunst im Zeichen von Aids lautet: "Kunst wird genau durch das, was sie zur Kunst macht - das Ästhetische -, in der Gegenwart fragwürdig. Sie kann das Ästhetische kaum noch überzeugend legitimieren. So entdecken wir überall eine Art Offenlegung der 'Banalität des Ästhetischen'. Sie haftet der Gegenwartskunst als notwendiges Problem, als konstitutiver Bestandteil an". Was Faust als 'Banalität des Ästhetischen' beschreibt ist der Verlust des implizit immer unterstellten ethischen bzw. gesellschaftlichen Moments der Kunst: "Die Kunst als utopisches Moment ist immer auch Lebenshilfe. Vor dem Hintergrund des Verschwindens der Kunst besitzt dies heute Züge einer Selbsttäuschung. Je deutlicher sich die Kunst verabschiedet, desto illusionärer wird das, was man auf sie projiziert".

Statt dessen betont Faust immer wieder die Notwendigkeit des Übergangs von Kunst ins Leben: "Das Leben ist nicht anderswo" - "Kunst bleibt nicht Kunst" - "Die Parole von Joseph Beuys 'Jeder Mensch ein Künstler' ist fatal. Sie suggeriert, dass dem Künstler nicht nur sein Werk, sondern auch sein Leben exemplarisch gelingt. Doch heute - im Enden der Moderne - zeigt sich: Kunst wird zur Garantie fürs ungelebte Leben." - "Nach der Überschätzung der bildenden Kunst - Charakteristikum der Moderne - entdeckt der Rezipient die Verflechtung von 'Kunst und Leben' neu. Es geht ihm nicht um Kunst, es geht um sein Leben".

Zu den Illusionen der Moderne gehört die Überbetonung des Differenzgedankens. Faust möchte im Interesse des "Lebens" Teile des ästhetischen Denkens der Moderne revozieren, vor allem den Gedanken der ästhetischen Negativität: "Kunst läßt sich nur als ein kontextuelles Phänomen begreifen. Sie ist nicht das 'ganz andere'. Jede ihrer Differenzen ist eine Maske. Wir schrecken davor zurück, die Kunst mit dem Alltag zusammenzudenken. Die Einheit von Kunst und Leben aber ist nicht Zukunft, sie ist stets Gegenwart. Teil einer Wirklichkeit, mit der sie sich sichtbar und unsichtbar verbindet". Auch autonome Kunst war nie von der Wirklichkeit getrennt: "Die großen puristischen Entwürfe dieses Jahrhunderts - Kandinsky, Mondrian, Malewitsch - sind 'Visionen der Reinheit'. Ihr Traum: dass sich ihr Erleben in Leben verwandelt ... Doch ihre Reinheit provoziert eine Selbstinfragestellung. Dass Mondrians Ästhetik zur Designvorlage für die 'L'Oreal'-Haarkosmetikserie werden konnte, ist nicht nur ein gesellschaftlicher Missbrauch. Selbst radikale Reinheit läßt sich entfremden, weil sie offensichtlich auch Momente der Entfremdung enthält".

Aktuell ist die Kunst im Verschwinden begriffen, die Autonomie wird funktionalisierbar: Im Laufe der Zeit wurde aktuelle Kunst zur Domäne der Theoretiker. Heute verschwindet die Kunst gleichsam in den Kommentaren, die sich hypertroph um sie herumlagern. Viele Künstler produzieren mit dem Blick auf das richtige 'Theoriefeld', das sie beschreiben soll. Doch die sekundäre Erfahrung schwächt die Kunst. Sie hilft ihr beim Verschwinden."

Mit dem Verschwinden der Kunst werden aber auch Energien frei, die genutzt werden können. Was Faust vorschwebt, scheint eine Aufhebung der Kunst in das Projekt Menschwerdung zu sein: das real konstatierbare Verschwinden der Kunst in der Gegenwart soll in eine neue Konzeption von Lebens-Kunst transformiert werden. Die Kunst soll nicht mehr durch ästhetische Negativität ausgezeichnet sein, nicht neben dem Leben stehen, sondern, wie in den ästhetischen Avantgarden zu Beginn dieses Jahrhunderts, auf das Leben bezogen sein, sie soll ihre Sprengkraft im gelebten Leben erweisen.

Damit ist zugleich eine Wiederkehr von Motiven der Lebensphilosophie vorgezeichnet, freilich - wie bei Adorno - unter umgekehrten Vorzeichen: "Krankheit ist ein Negativum. dass sie die Erfahrungen auszuweiten vermag, dass sie zu neuen Dimensionen des Denkens führt, dass sie ein 'Mehr' sein kann, wird kaum als Gewinn wahrgenommen. Doch genau darum geht: Ein Denken, dass sich der Krankheit anvertraut, besitzt die Chance, das 'Gesunde' als Konstrukt zu zeigen. Es wird zu einer unter vielen Möglichkeiten. Hinter der Favorisierung des 'gesunden Diskurses' steht nichts anderes als die Angst. Die Angst vor der Konfrontation mit dem anderen, vor dem Disparaten, den Widersprechen und Brüchen, die den Menschen ausmachen.".

Fausts - Adorno entgegegengehaltener - Gegengedanke "Es gibt ein richtiges Leben im falschen" zielt darauf, die souveränen Gehalte der Kunst im Leben zur Geltung zu bringen statt sie dem Leben gegenüberzustellen, es gilt, die Potentialität der ästhetischen Subversion zu einer lebensweltlichen Realität werden zu lassen.

© Andreas Mertin