Die Erlebnisgesellschaft

Eine Rezension

von Andreas Mertin

aus: Kunst und Kirche, 1993

Gerhard Schulze Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt: Campus 3/1993. 765 S. 98,- DM (Studienausgabe 49,80 DM)


Seit Pierre Bourdieus Analyse der feinen Unterschiede in der Kulturwahrnehmung gab es nur wenige grundlegende Arbeiten über die Kultursoziologie. Gerhard Schulze, Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Bamberg, hat mit Die Erlebnisgesellschaft nun eine Arbeit vorgelegt, die explizit die bundesrepublikanischen Bedingungen der Kulturwahrnehmung untersucht und dabei den gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seit den 60er Jahren Rechnung trägt.

Welche Bedeutung hat die Ästhetisierung des Alltagslebens für die Gesellschaft? Was geschieht, wenn Glück, Spaß, Genuss zum Paradigma des Handelns wird, wenn das Handlungsmuster der aufgeschobenen Befriedigung veraltet? Wie ist eine Gesellschaft zu beschreiben, bei der das zapping, die erlebnisorientierte Wahl zur charakteristischen Handlung wird? Welche Gruppierungen lassen sich in dieser Gesellschaft beschreiben, über welche Zeichen werden Abgrenzungen und Identifizierungen vollzogen?

Nach der Restauration der Industriegesellschaft zwischen dem Ende der 40er Jahre und der Mitte der 60er Jahre und dem sich anschließenden Kulturkonflikt bis Ende der 70er Jahre sind wir seit Anfang der 80er auf dem Weg in die Erlebnisgesellschaft. Das vorrangige Problem des Alltagslebens ist nicht mehr die Sicherung der Existenz, sondern die Orientierung in einer Flut von Möglichkeiten. Statt "Wie erreiche ich dies oder das?" fragen wir "Was will ich eigentlich?", die Parole lautet: Erlebe dein Leben! An die Stelle der Außenorientierung (Qualifikation, Reproduktion der Arbeitskraft, Einkommen, Altersvorsorge) ist die innenorientierte Lebensauffassung getreten: das Projekt des schönen Lebens als Verlangen, etwas zu erleben.

Die Folgewirkung ist die allen gegenwärtige Ästhetisierung des Alltagslebens. "Angebotsexplosion, Ausweitung der Konsumpotentiale, Wegfall von Zugangsbarrieren, Umwandlung von vorgegebener in gestaltbare Wirklichkeit: die Erweiterung der Möglichkeiten führt zu einem Wandel der Lebensauffassungen ... Im Entscheidungssog der Möglichkeiten wird der Mensch immer wieder auf seinen eigenen Geschmack verwiesen ... Wissen, was man will, bedeutet wissen, was einem gefällt" [58f.].

Die Kehrseite der Erlebnisorientierung sind Verunsicherung im Blick auf die Wahl jener Momente, welche das Leben als gelungen erscheinen lassen, und Enttäuschung, weil das erstrebte Glück sich nicht dauerhaft inszenieren lässt. "Das Projekt des schönen Lebens verbindet sich mit seinen Folgeproblemen von Unsicherheit und Enttäuschung zu einem dynamischen Motivationsgemenge, aus dem neue kollektive Strukturen hervorgehen. An die Stelle von Gesellschaftsbildung durch Not tritt Gesellschaftsbildung durch Überfluss" [67].

Dass die Menschen in der Flut der Erlebnisangebote nicht die Orientierung verlieren, liegt daran, dass sie Stiltypen entwickeln, "eine zwar unscharfe, aber keineswegs unbestimmte Menge von Zeichen (zusammengefasst) zu einem alltagsästhetischen Syndrom, das in bestimmten sozialen Gruppen als normal gilt" [123].

Als derartige alltagsästhetische Schemata im Sinne von kollektiven Hauptmustern lassen sich das Hochkulturschema (Kontemplation, anti-barbarisch, Perfektion), das Trivialschema (Gemütlichkeit, anti-exzentrisch, Harmonie) und das Spannungsschema (Action, anti-konventionell, Narzissmus) differenzieren. Die Zeichen, anhand derer sich daraus bestimmte Milieus segmentieren, sind insbesondere Alter, Bildung und Stil. Andere Zeichen, die früher noch das Erscheinungsbild der Gesellschaft wesentlich geprägt haben, wie etwa die Stellung im Produktionsprozess, der Lebensstandard, die Umgebung oder auch die Religion haben dagegen an Bedeutung verloren.

Schulze erarbeitet fünf Milieubeschreibungen, die bestimmte Segmente der bundesrepublikanischen Gesellschaft repräsentieren.

  • Das Niveaumilieu setzt sich aus über 40jährigen mit höherer Bildung zusammen und ist ganz auf das Hochkulturschema ausgerichtet und steht in Distanz sowohl zum Trivialschema wie zum Spannungsschema.
  • Das Harmoniemilieu besteht aus über 40jährigen niedriger Schulbildung und orientiert sich am Trivialschema und steht dem Hochkulturschema fremd gegenüber.
  • Das Integrationsmilieu steht in moderater Nähe zu allen drei alltagsästhetischen Schemata und wird von den über 40jährigen mit mittlerer Bildung gebildet.
  • Das Selbstverwirklichungsmilieu der unter 40jährigen mit mittlerer oder höherer Bildung zeigt eine Nähe zum Spannungsschema und zum Hochkulturschema und ist distanziert zum Trivialschema.
  • Das Unterhaltungsmilieu der unter 40jährigen mit geringer Bildung zeichnet sich durch die Nähe zum Spannungsschema und die Distanz zu den anderen Schemata aus.

Untersucht man das Gesamtbild der Milieukonstellationen, so ergibt sich, dass es sich "als eine Struktur gegenseitigen Nichtverstehens charakterisieren (lässt), die durch Altersgrenzen und Bildungsgrenzen bestimmt ist" [336] - ein Nichtverstehen, das sich vor allem im Bereich der Alltagsästhetik zeigt: hier prallen unterschiedliche Lebenskonzepte aufeinander.

Der Unsicherheit angesichts der Vielzahl von Möglichkeiten auf dem Erlebnismarkt antwortet eine Neigung zum Zusammenschluss unter ähnlichen Zeichenschwerpunkten typisch sind die Hochkulturszene (Theater, Oper, Konzerte, Ausstellungen), die Neue Kulturszene (Kleinkunst, Filmkunst, Tanztheater, Jazz-Rock-Pop-Folk-Konzerte), die Kulturladenszene (Stadtteilzentren, insbesondere in Großstädten), die Kneipenszene (Cafes, Kneipen, Diskotheken), die Sportszene und die Volksfestszene.

Von allen kulturellen Milieus ist das relativ homogene Selbstverwirklichungsmilieu dominant. Es verfügt mit der Neuen Kulturszene über eine eigene Szene und ist auch in den anderen Szenen stark vertreten. Versuche der Kulturpolitik, auf die Gestaltung des Erlebnismarktes Einfluss zu nehmen, haben sich dagegen, mit Ausnahme der Hochkultur, als folgenlos erwiesen. Der Erlebnismarkt generiert und regeneriert sich selbst.


Gerhard Schulzes Kultursoziologie liest sich als durchaus spannende Einführung in die alltagsästhetischen Befindlichkeiten der Gesellschaft (freilich nur für die alten Bundesländer - die Wiedervereinigung bedeutet einen noch ungeklärten Einschnitt für alle kultursoziologischen Beschreibungen). Mit Hilfe seiner Analysen und Beschreibungen gelingt es, bestimmte irritierende Phänomene, wie die Vergleichgültigung der Hochkultur (also etwa der bildenden Kunst) in den Augen der jüngeren Bevölkerungsschichten, präziser in den Blick zu nehmen.

Eine gravierende Veränderung in der Kulturwahrnehmung zeichnet sich ab, die, wie sich inzwischen gezeigt hat, nicht folgenlos für den gesamten Bereich der Hochkultur ist: das klassische Schema der Kontemplation wird mit Action angereichert, Kultur muß einen 'Kick' vermitteln, sie muß komplex und spontan sein, sie muß m.a.W. einen hohen Erlebniswert besitzen. Gerade für diejenigen, die im Bereich der Kulturvermittlung arbeiten, ist dieses Buch eine unentbehrliche Hilfestellung, wollen sie nicht an den kulturellen Lebensstilen derer vorbeiarbeiten, denen ihr Interesse gilt.

© Andreas Mertin