"Postmoderne als kritisches Konzept"

Eine Rezension

von Andreas Mertin

aus: Kunst und Kirche 1/93, S. 73f

Thorsten Scheer Postmoderne als kritisches Konzept. Die Konkurrenz der Paradigmen in der Kunst seit 1960. Wilhelm Fink Verlag München 1992. 176 S. 58.- DM


Wie verhalten sich die Entwicklungen der Kunst zu den Großparadigmen "Moderne" und "Postmoderne"? In den Veröffentlichungen zur Postmoderne und den Texten der Postmodernen herrscht hier allzumal Verwirrung. Von Marcel Duchamp und Barnett Newman über Daniel Buren und den Neuen Wilden bis zur italienischen Transavantgarde und den Eklektizisten Tansey oder Scholte wuchern die Spekulationen.

Thorsten Scheer unterbreitet im vorliegenden Buch einen philosophisch und kunsthistorisch fundierten Vorschlag zur Zuordnung der Paradigmen zur zeitgenössischen Kunst. Dazu geht er zunächst der Frage nach, wie sich das Paradigma Moderne (Kapitel 1) in der Kunst spiegelt (Kapitel 2). Das hervorstechende Merkmal der Moderne ist die ästhetische Negation, philosophisch auf den Begriff gebracht in Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie. Die Arbeit der modernen Kunst besteht in der Kritik der Repräsentation, im Bruch mit dem Tafelbild als einem repräsentierenden Bild. Diese kritische Arbeit erfolgt auf den unterschiedlichen Sprachebenen der Kunst, semantisch z.B. in den Werken Rene Magrittes ("Dies ist keine Pfeife"), syntaktisch in Jackson Pollocks action paintings und pragmatisch in den Happenings.

Collage, Assemblage, action painting, Environment und Happening sind so exemplarischer Ausdruck der Kunst der Moderne. Diese findet ihren "virtuellen Endpunkt", wenn eine weitere Ausdifferenzierung nicht mehr möglich erscheint und die historische Avantgarde zum allgemeinen Kulturgut wird und Aufnahme in die Museen findet. "In dem Maß, wie die Kritik der Tradition total geworden ist, ist ... die Tendenz des Diskurses, sich permanent zu verschärfen, an einem toten Punkt angekommen ... Wenn die Möglichkeit des kommunikativen Überbietens aber an eine Grenze stößt, gerät das Modell insgesamt in die Krise" [62f.].

Die Kunst antwortet darauf mit Werken, die der Autor als "Protopostmoderne" zu bezeichnen vorschlägt (Kapitel 3). Pop Art, Minimal Art, Land Art und Concept Art stellen so Versuche dar, auf dem erarbeiteten Niveau der künstlerischen Moderne über sie hinaus zu gelangen. Als charakteristische Merkmale dieser Kunst können die scheinbare Rückkehr zum Tafelbild und die Thematisierung von Original und Reproduktion bezeichnet werden. Gerade jene Mittel, die nach Walter Benjamin zum Verlust der Aura führen - Fotografie und Film - leiten nun die Re-Auratisierung ein, die Werke der 60'er Jahre "erscheinen als auratisch unter den Bedingungen des nichtauratischen" [82]. "Die Kunst der Protopostmoderne drückt sich nicht mehr in dem Akt der fortschreitenden dialektischen Negation aus, sondern stellt die konkurrierenden Strukturprinzipien von Tradition und Moderne als Differenz in einem Werk (dar) ... Moderne und Tradition werden als historisierte und damit verwendbar gewordene Inhalte verstanden" [99]. dass die Werke der 60'er Jahre nicht unter das Paradigma "Postmoderne" zu verrechnen sind, liegt daran, dass sie weiter in der modernen Linie der Dematerialisierung und der Repräsentationskritik arbeiten. Erst mit der Concept Art, und dabei mit der freien Verwendbarkeit des Materials, ist der Übergang zur Postmoderne erreicht.

Das Paradigma Postmoderne (Kapitel 4), dessen Strukturen und Bedingungen Scheer anhand von Lyotard (Pluralität), Baudrillard (Simulation) und Derrida (Differenz) entwickelt, führt auch zu einer veränderten Ästhetik. "Die postmoderne Reaktion auf die Aporien der Moderne besteht in der Einsicht, dass die Repräsentation, wenn ihre Abschaffung zum Schweigen führt, ... neu reflektiert werden muss ... Der postmoderne Künstler, der nochmals über die Kritik der Repräsentation sprechen will, kann dies nur mit den Zitaten der Verfahren, die sich durch den Bruch mit diesen Verfahren unverwechselbar macht" [147]. Scheer zeigt, dass die postmodernen Werke "'List' als ästhetische Praxis vollziehen, d.h. die Werke erscheinen jeweils als etwas anderes als sie tatsächlich sind" [150]. Als Beispiele für das Erscheinen der List im postmodernen Werk führt der Autor Werke von Gerhard Richter und der britischen Gruppe "Art & Language" vor (Kapitel 5).

Alles in allem stellt Scheers Arbeit eine plausible und fundierte philosophische Rekonstruktion der Kunst des 20. Jahrhunderts dar. Auch wenn das letzte Kapitel über konkrete Kunstwerke der Postmoderne etwas knapp geraten ist - man hätte gerne noch mehr über weitere KünstlerInnen und Werke unserer Zeit erfahren -, kann das Werk doch als Beitrag zu einer veritablen, und das heißt eine das Reflexionsniveau der Moderne aufnehmenden Postmoderne verstanden werden. Wer sich philosophisch darüber versichern will, warum die Kunst unserer Tage ist, wie sie ist, dem sei dieses Buch zur Lektüre empfohlen.

© Andreas Mertin