Repräsentation

Ein Kapitel der Kulturgeschichte

von Andreas Mertin

[Originalbeitrag]

Carlo Ginzburg: "Repräsentation - das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand", Freibeuter 53, 1992, S. 2-23.


Zusammenfassung

Ginzburg sucht in diesem Artikel, "unsere trügerische Vertrautheit mit Worten wie Repräsentation, die zu unserem alltäglichen Wortschatz gehören, zu zerstören" [3]. Dazu untersucht er das Wortfeld und die Forschungsgeschichte, welche neben der Repräsentation auch effigies, imago, ossa, kolossos umfaßt. Das Ergebnis seiner Untersuchung beschreibt er so: "Die reale, konkrete, körperliche Präsenz Christi im Sakrament des Abendmahls ermöglichte - zwischen dem Ende des 13. und dem Anfang des 14. Jahrhunderts -, dass jenes außergewöhnliche Ding, das mein Ausgangspunkt war, feste Gestalt annahm, jenes konkrete Symbol der Abstraktion des Staates: das Bildnis des Königs, das man Repräsentation nannte" [20].


Wortfeld

In älteren Lexika wie Furetières Dictionnaire universel von 1727, darauf hat Roger Chartier hingewiesen, gibt es zwei Sinnfamilien für das Wort Repräsentation: "auf der einen Seite vergegenwärtigt die Repräsentation etwas Nichtgegenwärtiges, was eine klare Unterscheidung zwischen dem Repräsentierenden und dem Repräsentierten voraussetzt, auf der anderen Seite ist die Repräsentation die Zurschaustellung eines Gegenwärtigen, die öffentliche Darstellung eines Dinges oder einer Person" [Roger Chartier, zit. nach Ginzburg, 4]. Im Artikel représentation des Petit Robert gibt es dagegen zwei Rubriken: 1. jemandem etwas vergegenwärtigen, vor Augen führen 2. jemanden ersetzen, an seiner Stelle handeln. Beide Bestimmungen haben den Gedanken der Substitution, des Ersetzens (der Abwesenheit evoziert)" [5] gemeinsam und unterscheiden sich nur dadurch, dass im ersten Fall das evozierende oder mimetische Moment im Vordergrund steht. Ausgefallen ist dagegen der in älteren Lexika noch vorhandene Hinweis auf das konkrete historische Phänomen der sog. Repräsentationen der Könige im Mittelalter, die im folgenden den Ausgangspunkt der Überlegungen von Ginzburg bilden.

Zwei Körper

"Wir wissen, dass eine Puppe als Bildnis des Königs in England 1327 (Tod Eduards II.) und in Frankreich 1422 (Tod Karls VI.) erstmals verwendet wurde" [5]. Der amerikanische Historiker Ralph Giesey hat die im 16. und 17. Jahrhundert explizit theoretisch ausgearbeitete Vorstellung von den zwei Körpern des Königs erarbeitet. "Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts lassen die Bestattungen des Herrschers eine deutliche Trennung zwischen dem toten König und seinem Bildnis erkennen: In Gieseys Worten 'nahm der Leib seinen Weg ins Grab, während die Puppe im Triumphzug durch die Straßen getragen wurde'" [6]. Was veranlasste die Herrschenden dazu, ein derartiges Verfahren zu wählen, warum "entschloss man sich 1327 in London dazu, einen Holzschnitzer dafür zu bezahlen, dass er quandam ymaginem de ligno ad similitudinem dicti domini Regis, ein hölzernes Bildnis verfertigte, das dem verstorbenen König Eduard II. ähneln sollte?" [6].

"Diese Fragen sind", so meint Ginzburg, "mit einem zentralen Problem verbunden - mit dem sich ändernden und häufig zwiespältigen Status der Bilder in einer Gesellschaft" [6].

Doppelte Bestattung

1929 hatte Elias Bickermann in einem Aufsatz über die römische Kaiserapotheose auch das Phänomen der zweifachen Feuerbestattung beschrieben: "auf die Einäscherung des kaiserlichen Leichnams folgte einige Tage später die Verbrennung seines Wachsportraits. Durch diesen funus imaginarium, die 'Bestattung des Bildnisses', wurde der Kaiser, der bereits seine sterbliche Hülle nieder- und abgelegt hatte, in den Kreis der Götter aufgenommen" [7]. Bereits 1907 hatte sich Robert Hertz mit dem Ritual der zweifachen Bestattung auf allgemeiner Ebene auseinander gesetzt: "Er zeigt, dass der Tod - jeder Tod - ein traumatisches Ereignis für die Gemeinschaft ist - eine wirkliche Krise, die mit Hilfe von Ritualen gemeistert werden muss, die das biologische Ereignis in einen sozialen Prozess verwandeln und damit den Übergang des verwesenden Leichnams zum Skelett überwachen" [8]. Dieses Phänomen des öffentlichen Umgangs mit dem Leichnam bzw. einem Substitut läßt sich ebenso für das Rom des 2. Jahrhunderts, England und Frankreich im 15.-17. Jahrhundert und sogar für die Inkas in Peru nachweisen.

kolossos

Ein verwandtes Phänomen sieht Ginzburg im griechischen kolossos. 1931 hatte Pierre Chantraine darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Bedeutung des Wortes kolossos einfach nur "Statue" gewesen sei. Emile Benveniste hat 1933 ergänzt: "Dies also ist die wahre Bedeutung des Wortes: es bezeichnet Begräbnis-Statuetten, rituelle Substitute, Doppelgänger, die den Platz der Abwesenden einnehmen und ihre irdische Existenz weiterführen" [Benveniste, zit. n. Ginzburg, 11]. Ginzburg fügt hinzu: "es sind Repräsentationen. Zwischen den griechischen kolossoi und den effigies aus Wachs, Leder oder Holz bei der Bestattung der französischen oder englischen Herrscher gibt es frappierende Analogien, auf der Ebene der Form wie der Funktion" [11]. Hinweise auf weitere Analogien findet Ginzburg in Ernst Gombrichs Verweis auf die Rolle der Substitution in der primitiven oder der ägyptischen Kunst und in K. Pomains Untersuchung von Grabbeigaben.

Religiöse Zeichen

Jean-Pierre Vernant hat Benvenistes Untersuchungen über den kolossos weitergeführt. Einerseits gehöre kolossos zur (psychologischen) Kategorie des Doppelgängers, "was einen Aufbau des Geistigen voraussetzt, der sich von dem unseren unterscheidet". Doch andererseits gelte: "Vielleicht rühren wir hier an ein Problem, das weit über den Fall des Wortes kolossos hinausgeht und einem Charakteristikum des religiösen Zeichens entspricht. Das religiöse Zeichen stellt sich nicht als einfaches Werkzeug des Denkens dar. Es zielt nicht ausschließlich darauf ab, im Geist des Menschen die sakrale Macht zu vergegenwärtigen, auf die es verweist. Es will immer eine Verbindung, ein Gespräch mit ihr herstellen, sie in der Welt der Menschen präsent werden lassen. Doch im Bestreben, eine Brücke zum Göttlichen zu schlagen, muss es zugleich die Distanz deutlich machen, die Inkommensurabilität zwischen der sakralen Macht und allem, was sie - notwendigerweise unzureichend - in den Augen der Menschen sichtbar macht. In diesem Sinn ist der kolossos ein gutes Beispiel für die Spannung, die man im Herzen des religiösen Zeichens findet und die ihm seine ureigene Dimension verleiht. Durch seine praktische Funktion strebt der kolossos danach, mit dem Jenseits eine Verbindung herzustellen, es hienieden präsent zu machen. Doch damit unterstreicht er zugleich, wie völlig anders das Jenseits des Todes für die Lebenden ist" [Vernant, zit. n. Ginzburg, 13].

Reliquien

Wenn vielleicht das Verbot der Bestattung intra muros den römischen Ritus der zwei Körper evozierte - auf diese Weise konnte der Tote mittels Stellvertreter intra muros präsent gehalten werden -, so veränderte sich mit dem Christentum die Ausgangslage. Zum einen gab es kein Verbot, die Toten innerhalb der Stadt zu begraben, zum anderen trat nun das Phänomen der Märtyrer auf. Ihrer durch Reliquien vermittelten Präsenz kommt eine besondere Rolle zu, der "metonymische Status gewinnt hier seine volle Bedeutung" [14]. Die Reliquien verändern die Haltung zum Bild tiefgreifend.

Idolatrie

"Zunächst einmal gibt es das Phänomen, das die christlichen Polemiker Idolatrie nannten. Wir sollten versuchen, es endlich ernstzunehmen und zwei Dinge anzuerkennen: dass wir sehr wenig darüber wissen, und dass dieses wenige schwierig zu interpretieren ist .. Was noch weitgehend zu erforschen bleibt, ist die ganze Bandbreite von Reaktionen (Aufnahme, Metamorphose, Ablehnung), die sich auf religiöser Ebene durch das Zusammentreffen zwischen diesen Bildern (die Bilder aus Landes- und Volkskulturen eingeschlossen), und den in der jüdisch-christlichen Tradition verwurzelten teilweise unbildlichen, ja gar offen bildfeindlichen Tendenzen ergibt" [14]

Hl. Fides in Conques

Zur Illustration beschreibt Ginzburg die Reaktionen des Bernhard von Angers gegenüber der Statue der Heiligen Fides in Conques. Dieser schildert in seinem Liber miraculorum sanctae Fidis seine Erlebnisse im Rahmen einer Pilgerreise mit dem Aberglauben des einfachen Volkes. Die Anbetung der Heiligenstatuen erscheint ihm ein missbrauche durch unwissende Menschen. Zulässige Statuen seien nur Kruzifixe, Heilige dagegen dürften nur im Konterfei an die Wand gemalt werden. In Conques freilich erkennt Bernhard, dass die Statue der Hl. Fides nicht besitze, "was dem Glauben schaden könne oder befürchten lassen müsse, dass man in die Irrtümer der Alten zurückfalle. Sie sei zur Ehre Gottes errichtet worden und sollte das Gedenken an die Heilige bewahren" [16]. Zugleich überliefert Bernhard die Geschichte eines gewissen Hulderich, der sich über die Statue der hl. Fides lustig machte. In der darauf folgenden Nacht erschien ihm die Heilige und fragte Huldrich: 'Warum, Ruchloser, hast du es gewagt, mein Bildnis zu beleidigen?' [16]. Nach Peter Brown äußert sich hier "die dumpfe, strafende Stimme" der Gemeinde.

Oppositionen

Bemerkenswert an Bernhards Text, so Ginzburg, sei eine Reihe von Oppositionen, die von einer tief gespaltenen Haltung zeugten: Gebildete/Bauern Latein/Volkssprachen Malerei/Skulptur Christus/die Heiligen Religion/Aberglauben. "Es gibt folglich im Text von Bernhard von Angers" eine unterschwellig stets präsente Hierarchie, die mit einem zweifachen, kulturellen und sozialen, Gegensatz verbunden ist: auf der einen Seite der Gegensatz zwischen der Schriftkultur (in Latein) und der mündlichen Kultur (in der Volkssprache) auf der anderen Seite der Gegensatz zwischen der Schriftkultur und den Bildern. Bei den Bildern tritt eine neue Hierarchie hervor: Die Statuen werden - in der Perspektive des Götzendienstes - als sehr viel gefährlicher betrachtet als Gemälde oder Fresken, was im übrigen der jüdischen Tradition entspricht" [16]. Am Schluss des Textes räumt Bernhard freilich ein, sich geirrt zu haben: Es handle sich bei der Reaktion der Bauern nicht um einen Aberglauben, sondern "um zulässige oder tolerierte religiöse Einstellungen (permittantur, wie es in der Überschrift des Kapitels heißt)" [16].

"Für die Leute von Conques gab es offenkundig überhaupt keinen Unterschied zwischen dem Bildnis der hl. Fides und der Heiligen selbst. Das von Bernhard gegen die Gefahr der Idolatrie vorgebrachte Argument - das Bild als Gedankenstütze - konnte nur von einer kleinen Minderheit geteilt werden. Die Verlegenheit, in die man durch die Statue der hl. Fides in Bernhards Augen stürzte, verschwand, sobald er vom gekreuzigten Christus sprach. Die Kirche verbreitet Kruzifixe als Skulptur oder Relief, um das Gedenken an die Passion wachzuhalten. Und doch beeinflusste die Möglichkeit götzenbildlicher Wahrnehmung noch die Darstellungen Christi. In ganz Europa ... findet man Bilder Christi am Kreuz oder des thronenden Christus, denen ein lateinisches Distichon beigegeben ist wie Fetwa das folgende, das mindestens aus dem 12. Jahrhundert stammt:

Hoc Deus est, quod imago docet, sed non Deus ipse:
Hanc recolas, sed mente colas, quod cernis in illa

Gott ist, was das Bild lehrt, doch es ist nicht Gott.
Sinne nach über es, doch bete an im Geiste, was Du in ihm siehst.

Furcht vor Bildern und Abwertung der Bilder - diese zwiespältige Einstellung zieht sich durch das gesamte europäische Mittelalter" [17f.].

Realpräsenz

Guibert von Nogent betont 1125 in seiner Schrift De pignoribus sanctorum, "die einzige von Christus hinterlassene Gedächtnisfeier sei das Abendmahl. Dies führte ihn zu einer teilweisen, parallelen Abwertung der Reliquien, der repraesentata pignora ... Hier sieht man sich schon jene Bewegung abzeichnen, die 1215 in die Verkündigung des Dogmas der Transsubstantiation münden sollte" [18f.]. "Die tiefe Diskontinuität zwischen den Begriffen, die man hinter dem griechischen kolossos erahnt, und dem Begriff der Realpräsenz springt sofort ins Auge. Gewiss, in beiden Fällen handelt es sich um religiöse Zeichen. Doch könnte man der Eucharistie nicht zuschreiben, was Jean-Pierre Vernant vom kolossos sagt: "Durch seine operative und wirksame Funktion ist [der kolossos] bestrebt, mit dem Jenseits eine wirkliche Verbindung herzustellen, seine Anwesenheit in dieser Welt zu bewerkstelligen." Nach der Formulierung des Dogmas von der Transsubstantiation kann man nicht einfach nur von "Kontakt" sprechen, sondern von Präsenz im stärksten Sinn des Wortes. Die Anwesenheit Christi in der Hostie ist tatsächlich eine Über-Präsenz. Neben ihr verblasst ... jedes Evozieren oder Sichtbarwerden des Heiligen - Reliquien, Bilder" [19]. "Nach 1215 beginnt die Angst vor der Idolatrie schwächer zu werden. Man lernt ... die Bilder zu zähmen. Die Rückkehr zur Illusion in Bildhauerei und Malerei war ein Ereignis dieser historischen Wende. Ohne diese Entzauberung der Welt der Bilder hätte es keinen Arnolfo di Cambio, keinen Nicola Pisano, keinen Giotto gegeben" [19]. "Das Dogma der Transsubstantiation leugnete die sinnlichen Aspekte zugunsten einer tieferliegenden und unsichtbaren Realität und war damit sicher ein gewaltiger Sieg der Abstraktion" [20]. Diese Bewegung zur Abstraktion zeigt sich auch im Phänomen der zwei Körper des Königs, also in der politischen Theologie: Anlässlich der Bestattung des Kronfeldherrn Bertrand von Guesclin läßt sich der die Messe zelebrierende Bischof die Waffen des Verstorbenen zeigen, "um gewissermaßen seine körperliche Anwesenheit [beim Abendmahl] zu beweisen", d.h. "die reale, konkrete, körperliche Präsenz Christi im Sakrament des Abendmahls ermöglichte - zwischen dem Ende des 13. und dem Anfang des 14. Jahrhunderts -, dass jenes außergewöhnliche Ding, das mein Ausgangspunkt war, feste Gestalt annahm, jenes konkrete Symbol der Abstraktion des Staates: das Bildnis des Königs, das man Repräsentation nannte" [20].


Kritik

Ginzburg untersucht die Übertragung des religiösen Zeichens in die politische Theologie des Staates. Dazu zeigt er, wie, ausgehend von der dogmatischen Festlegung der Transsubstantiationslehre, reale Präsenz in Substituten denkbar wurde. Der Gedanke der Realpräsenz konnte durch die politische Theologie auf die Lehre von den zwei Körpern, den Repräsentationen, erweitert werden. Unterhalb der sinnlich wahrnehmbaren Gestalt gab es eine andere Realität, die eine Präsenz des Abwesenden wahrscheinlich machte. Diese Abstraktionsleistung hat Folgewirkungen für die mittelalterliche Kunst und ihre Theorie.

Wichtig ist Ginzburgs Aufsatz weniger durch die Antworten, die er gibt, als vielmehr durch die Fragen, die er stellt etwa nach der Funktionsweise des religiösen Zeichens, nach dem Entstehen und Funktionieren der Idolatrie und nach dem durch die Abendmahlslehre sich verändernden Status der Bilder in der Gesellschaft. Hier bezeichnet Ginzburg jene Punkte, an denen die Forschung weiter zu arbeiten hat, insbesondere das völlig ungeklärte Feld der historischen religiösen Semiotik.

Prinzipiell wäre die Untersuchung auf das Forschungsfeld der frühen Kirche und des byzantinischen Bilderstreits auszuweiten. Gerade hier spielt der Zusammenhang und das Zusammenspiel von Kaiserbild, Christusbild und Abendmahlslehre (insbesondere in der Theorie der byzantinischen Ikonoklasten) eine konstitutive Rolle, die die These Ginzburgs letztlich umkehren: es ist das Kaiserbild an dem sich der religiöse Gedanke der Repräsentation entwickelt. Vermutlich 'leiht' sich die religiöse Theorie im 4. Jahrhundert den Gedanken der bildlichen Repräsentanz aus der politischen Theologie des Staates nur aus, um ihn im 13. Jahrhundert wieder an die politische Theologie zurückzugeben, m.a.W. der Gedanke der Repräsentanz hat für die religiöse Theorie nur solange Geltung, wie kirchliche Theologie und politische Theologie zusammenfallen.

© Andreas Mertin