Der Mensch als Ästhet

Eine paraphrasierende Rezension

von Andreas Mertin

[Originalbeitrag]

Luc Ferry Der Mensch als Ästhet. Die Erfindung des Geschmacks im Zeitalter der Demokratie [Homo Aestheticus], übers. von Petra Braitling, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 1992. 373 S.

Ferry möchte eine Geschichte des demokratischen Individualismus bzw. der modernen Subjektivität schreiben. [1] Diese Geschichte ist in der Gegenwart durch den Widerspruch zwischen dem verkündeten Tod des Subjekts und einer gleichzeitigen radikalen Inanspruchnahme der Autonomie des Menschen gekennzeichnet [3f.]. Intention ist die Begründung eines nicht-metaphysischen Humanismus (gegen die Bewegung zurück zum metaphysischen Humanismus)[5] Paradigma für das gesamte Vorhaben ist die Ästhetik. [5f.] Die Ästhetik wird als Paradigma gewählt, weil:

  1. der Tod des Subjekts die Stellung des als Schöpfer aufgefassten Menschen (Autor, Künstler etc.) problematisiert [5]
  2. im Bereich der Ästhetik sich die Probleme des Subjekts am reinsten beobachten lassen (z.B. die Frage der Beziehung zwischen dem Individuellen und dem Kollektiv). [68]

Während das Kunstwerk bei den Alten als ein Mikrokosmos betrachtet wurde - was erlaubte zu glauben, dass außerhalb seiner in einem Makrokosmos ein objektives oder besser ein substantielles Kriterium des Schönen existiert-, hat es bei den Modernen nur insofern Sinn, als das Kunstwerk einen Bezug zum Subjekt hat, um dann bei den Zeitgenossen zum reinen und einfachen Ausdruck von Individualität zu werden: ein absolut einzigartiger Stil, der sich nicht länger als Spiegel der Welt begreift, sondern als Erschaffung einer Welt, innerhalb derer sich der Künstler bewegt, zu der wir ganz ohne Zweifel Zugang haben, die sich für uns jedoch in keiner Weise als ein a priori allgemein gültiges Universum darstellt. [11]

In der antiken Ästhetik ist "die Idee des Schönen grundsätzlich mit der Idee der Verwirklichung einer Ordnung zusammengebracht" [11], d.h. mit Harmonie verbunden. Diese Vorstellung wird von der modernen Ästhetik aufgegeben: "Das Objekt gefällt nicht mehr deshalb, weil es aus seinem Wesen heraus schön ist, sondern allenfalls weil es eine gewisse Art von Vergnügen hervorbringt, das man nunmehr schön nennt" [11]. Die moderne Ästhetik versucht dabei, trotz der eintretenden Subjektivierung einen Bezug zur Objektivität zu retten [12f.]. In der zeitgenössischen Ästhetik "gibt es keine eindeutig einheitliche Welt mehr, sondern eine Vielheit von für jeden Künstler besonderen Welten es gibt nicht mehr eine Kunst, sondern eine nahezu unendliche Mannigfaltigkeit von individuellen Stilarten. Diese Entwicklung läßt sich als Rückzug der Welt [10-18] beschreiben.

Fazit: "Das Verschwinden von Welt, das die postmoderne Kunst auszeichnet, ebenso wie das Trachten nach einer wissenschaftlichen Objektivität und die beabsichtigte Wiederaneignung seiner selbst mittels historischer Erkenntnisse sind nur drei Gesichter ein und derselben Revolution: derjenigen, durch die sich der Mensch zum Prinzip und Telos des Universums macht. Diese Revolution nun ist eine Revolution des Geschmacks" [18].

Geschmack "ist die Fähigkeit, das Schöne vom Hässlichen zu unterscheiden, und die Regeln einer solchen Trennung durch das unmittelbare Gefühl (aisthesis) wahrzunehmen" [19]. Geschmack in diesem Sinne tritt als neues Vermögen in der Mitte des 17. Jahrhunderts auf.

Das Problem ... "Wie ist es möglich, innerhalb der in der Subjektivität gelegenen radikalen Immanenz der Werte deren Transzendenz - für uns selbst und für die anderen - zu begründen" [20].

... in der Ästhetik "Wie kann man in dieser Angelegenheit zu einer 'objektiven' Antwort gelangen, seitdem sich die Begründung des Schönen innerhalb innerster Subjektivität, mithin des Geschmacks, vollzieht? Aber wie sollte man andererseits auf die Vorstellung einer solchen Objektivität verzichten können, wo doch das Schöne - wie alle anderen modernen Werte - beansprucht, sich an alle zu wenden und der größt möglichen Anzahl zu gefallen" [24].

Mit dem Übergang von der antiken zur modernen, d.h. von einer objektiven zu einer subjektiven Ästhetik treten drei Folgeprobleme auf: 1.) die Irrationalität des Schönen, 2.) das Problem der Kriterien und des Urteils, und damit zusammenhängend 3.) die Kommunikabilität des Schönen.

In der antiken Ästhetik ist die intelligible Welt dem Bereich des Sinnlichen übergeordnet. Mit der modernen Ästhetik wird diese Vorstellung revolutioniert: "Der Gegenstand der Ästhetik, die sinnliche Welt, existiert nur für den Menschen, sie ist im strengen Sinne das dem Menschen Eigentümliche. Die Geburt der Ästhetik symbolisiert das Vorhaben, eine Rechtfertigung aus der Perspektive des Menschen zu liefern" [26]. Schon bei Baumgarten und Lambert "wird die menschliche Sinnlichkeit so vorgestellt, als habe sie eine spezifische Struktur, die aus der Sicht Gottes nicht relativiert werden könnte" [26]. Mit Kant und Nietzsche wird schließlich die "vollkommene Autonomie der Sinnlichkeit in Bezug auf das Intelligible philosophisch begründet" und jeder Bezug zu Gott ausgeschaltet [26f.]. Dies impliziert aber auch, dass das Schöne irrational wird: "Ausgegeben als vollkommen nichtintelligibel wird der schöne Gegenstand ipso facto irrational" [27]. Das Subjekt ist nun nicht mehr in der Lage, das Schöne nach vernünftigen Regeln zu erfassen, sondern bedarf eines neuen Vermögens, des Geschmacks, welcher als Korrelat zur Irrationalität des schönen Gegenstands aufgefasst wird [28].

Die Subjektivierung des Schönen läßt die Frage nach den Kriterien entstehen. Wenn nicht mehr das bloße Alter für den Wert einer Sache bürgt, müssen Kriterien entwickelt werden, nach denen Kunstwerke beurteilt werden können. So wird Originalität "eine der Eigenschaften, die man berechtigterweise von einem Künstler, der seines Namens würdig ist, verlangt. Er wird zu einem Individuum, das mit der Fähigkeit origineller Schaffenskraft ausgestattet ist" [29]. Dabei ändert Originalität seine Bedeutung: "Es handelt sich nicht mehr nur darum, angesichts einer gegenwärtig gegebenen Struktur originell zu sein, sondern die Originalität bemisst sich nunmehr an der Elle einer Kunstgeschichte, innerhalb derer man innovativ tätig sein muss". Auf diese Weise entsteht der Kult des Neuen.

Wenn aber die Beurteilung des Schönen auf einem subjektiven Vermögen aufbaut, wie ist dann ein konsensuelles Urteil möglich, wieso können Menschen in Geschmacksfragen zu übereinstimmenden Urteilen kommen? Überraschen muss doch, dass "der Konsens, der sich über die großen Kunstwerke herausbildet, so dauerhaft und so umfassend ist wie in keinem anderen Bereich" [32]. Offensichtlich scheint es möglich, "Objektivität auf der Basis von Subjektivität" zu begründen, Objektivität aus der Intersubjektivität zu entwickeln.

Verfolgt man die Geschichte der Ästhetik als Geschichte der Subjektivität, dann wird eine Fährte erkennbar, welche von Leibniz und Baumgarten über Kant und Hegel bis zu Nietzsche und der Postmoderne führt.

Am Anfang der modernen Ästhetik stehen sich nicht nur zwei Betrachtungsweisen der Kunst, sondern auch zwei unterschiedliche Konzeptionen von Subjektivität gegenüber. Ästhetisch bilden sich zwei Fraktionen, die eine betrachtet Kunst nach der Analogie der Wissenschaft und weist ihr die Aufgabe zu, Wahrheit darzustellen, die andere erblickt im Kunstwerk "vornehmlich einen Ausdruck dessen, was die Regungen der Leidenschaft an Unbeschreiblichem zu bieten hat" [33]. Diese Differenz läßt sich als die von "Herz und Vernunft" begreifen. Bezogen auf das Subjekt wird dieses in beiden Fällen als Monade gedacht. Auf der einen Seite, für die der Name Leibniz steht, "kann Intersubjektivität, die durch den schönen Gegenstand ausgelöst wird, nur ausgehend von einer Idee Gottes - die Monade der Monaden -, die die Übereinstimmung zwischen den Besonderen verbürgt, gedacht werden. Auf der anderen Seite, für die der Name Baumgarten steht, wird die Autonomie der Sinnlichkeit als jener Sphäre, innerhalb derer die Schönheit ihre eigentliche Ausdrucksform findet, um den Preis des "Rückzugs des göttlichen Standpunkts zugunsten desjenigen des Menschen" konzipiert [34].

Freilich gelingt es erst Kant, "der Schönheit einen so ausgezeichneten Stellenwert zu verleihen, wie er dem Wahren und Guten zukommt" [34]. Bei Kant wird das Sinnliche zu dem, "durch welches sich der Mensch von Gott unterscheidet. Die Bejahung der Autonomie des Sinnlichen bedeutet nichts weiter als die radikale, vielleicht endgültige Trennung des Menschlichen und des Göttlichen. Sie impliziert, dass eine Sphäre existiert - diejenige des eigentlich Menschlichen -, die jeder göttlichen Rechtfertigung entgeht" [35]. Die Ästhetik muss von nun an "den Sensus communis, der durch den schönen Gegenstand hervorgebracht wird, anders als in theologischer Weise erfassen, sie muss auf eine bestimmte Vorstellung von Intersubjektivität rekurrieren, um eine solche Übereinstimmung der Subjekte zu begreifen" [36].

Während es Hegel im Gegensatz zu Kant gelingt, die Geschichte der Kunst konstitutiv in sein System einzubeziehen und damit den Gedanken der Geschichtlichkeit in die Ästhetik aufzunehmen, "verliert die Sinnlichkeit jene Autonomie, die sie bei Kant erreicht hatte, dergestalt, dass die Ästhetik erneut zum sinnlichen Ausdruck einer Idee wird" [37].

Mit Nietzsche erreicht die moderne Ästhetik die Epochenschwelle zur zeitgenössischen Ästhetik [38]. Nietzsche setzt das Kantische Projekt, dem Sinnlichen in Bezug auf das Intelligible Autonomie zu gewähren, fort. Wenn es keine Tatsachen mehr, sondern nur noch Interpretationen gibt, wenn also "die Wahrheit aufhört, sich als Identität (als Widerspruchsfreiheit von Sätzen) oder als Übereinstimmung (des Urteils mit der Sache) auszugeben, dann wird das Reale von Nietzsche als Vielheit, Bruch und Unterschied aufgefasst, und nur die Kunst vermag dies angemessen zu erfassen [38]. Zwei Momente der Ästhetik Nietzsches werden für die Avantgardekunst produktiv: "der Hyperrelativismus, wonach es keine Wahrheit an sich gibt, sondern nur unendlich viele nicht zu vereinbarende Standpunkte der Hyperrealismus einer Kunst, die auf eine zerrissene Wahrheit abzielt, die tiefgründiger, geheimnisvoller und realer als diejenige ist, zu welche die Metaphysik und die Wissenschaft gelangen" [38]. Man muss innerhalb der jüngeren Avantgarde zwei divergierende, ja kontradiktorische Momente unterscheiden: auf der einen Seite der Wille - elitär, historistisch und ultra-individuell - mit der Tradition zu brechen, um vollständig Neues zu schaffen auf der anderen Seite das Vorhaben, die klassische Ästhetik an ihr Ende zu bringen, sich dem Ausdruck dessen zuzuwenden, was das Wirkliche an Chaotischem oder Widerstreitendem birgt" [287].

Zum Ende des Jahrtausends verliert die Avantgarde ihre Attraktivität, die Post-Moderne ist gekommen. "Die Gründe für diese Veränderung sind tiefgehend: Sie beinhaltet eine neue Haltung des Subjekts und dessen Beziehung zur Welt - zu jener Welt, von der man geglaubt hat, sie könne mit Rückzug am treffendsten charakterisiert werden" [40]. Dabei differenziert sich Postmoderne in einen Ultra-Modernismus [Lyotard], einen Eklektizismus [Jencks] und eine Überwindung des Modernismus [Wellmer]. Während ersterer und letzterer auf Innovation nicht verzichten, sieht die zweite Spielart einen "Erschöpfungszustand der abendländischen Kultur", "eine Schwächung der schöpferischen Kraft der Individuen innerhalb des liberalen Universums". Im Klima des zynischen Relativismus läßt sich keine Kreativität entfalten. Allerdings ist - nach Castoriadis, den F. hier referiert - der Zusammenbruch der liberalen Kultur nicht das letzte Wort der Geschichte: "Es geht vielmehr darum, auf die Tatsache zu setzen, dass eine autonome Gesellschaft, innerhalb derer autonome Individuen gemeinschaftlich ihre eigenen Lebensmodi aufstellen, einen für Reinvestitionen von kollektiven Werten möglichen Raum eröffnet, also einen Neuanfang der schöpferischen Kraft der Individuen" [303]. Neben dieser optimistischen Lesart der kulturellen Zukunft ist aber ebenso eine pessimistische denkbar, nach der "vornehmlich der Rückgang zur Tradition uns retten könnte - und nicht eine Demokratisierung der Welt, von der nur schwer erkennbar ist, inwieweit sie nicht die Zersetzungsbewegung, die durch den Kapitalismus so weit vorangetrieben ist, weiter vorantreibt?" [304].

"Das ganze Problem läuft auf die Frage hinaus, ob aus der Sicht der Tradition Liberalismus und Demokratie im Grunde nicht 'das Gleiche' sind: Die gleiche Autonomieforderung, die durch die Demokratie genau genommen nur verstärkt wird, läßt die Vorstellung eines 'festen Sockels von Werten' noch problematischer werden. Denn die Auflösung der Traditionen und der gemeinsamen Werte kommt von einer Autonomieforderung, von der man sich nur schwer vorstellen kann, wie sie das Heilmittel für die Krise einer Kultur sein könnte, zu deren Erzeugung sie so nachdrücklich beigetragen hat. Aus einer solchen Sicht wäre das Charakteristikum der zeitgenössischen Kultur weniger deren 'Nichtigkeit' als - weil sie zur Autonomie tendiert - der Abwesenheit des Bezugs zu einer Welt, ihre Weltlosigkeit" [304].

Die vorstehende Skizze der Geschichte der Ästhetik als Geschichte des Subjekts wird dann von Ferry in extenso durchgeführt (wobei der Reiz des Unternehmens nicht zuletzt in einer Fülle von Beobachtungen, Zitaten und Details liegt, wie etwa in der Darstellung der Bedeutung der nicht-euklidischen Geometrie für den Kubismus): Zwischen Herz und Vernunft [41-94] * Das Kantische Moment - Das Subjekt der Reflexion [95-138] * Das Hegelsche Moment - Das absolute Subjekt und das Ende der Kunst [139-179] * Das Nietzschesche Moment - Das zerrissene Subjekt und der Beginn der zeitgenössischen Ästhetik [180-233] * Der Niedergang der Avantgarde - Die Postmoderne [234-304]

Den Abschluss des Buches bilden Überlegungen zur "ethischen Fragestellung im Zeitalter der Ästhetik" [305-323]. Das erweist sich in der Perspektive einer umfassenden Krise der Kultur, wie sie im Kapitel "Der Niedergang der Avantgarde - Die Postmoderne" dargelegt wird, als zwingend: Wie ist Ethik noch möglich seit dem Rückzug der Welt? Zwei mögliche Problemlösungen hatte das Kapitel über die Postmoderne vorgeführt: die demokratische Alternative einer freiwilligen autonomen Re-Investition von kollektiven Werten (Castoriadis) und die traditionalistische Variante der Abkehr von Demokratie und Liberalismus, vom Prinzip der Autonomie und der Reaktivierung der verloren gegangenen Tradition. Hier soll eine historische Reflexion helfen. Analog den drei Modi ästhetischer Theorie antik - modern - zeitgenössisch lassen sich auch drei Zeitalter der Ethik beschreiben: "die aristokratische Vorzüglichkeit, das demokratische Verdienst und die zeitgenössische Authentizität" [307ff.]

Ein Unterschied zwischen Antike und Moderne ist die Idee einer Ordnung der Welt, dass die Ungleichheiten in der Natur der Individuen angelegt und unüberwindbar sind. Die Natur bestimmt den Zweck des Menschen und legt die Richtung seiner Ethik fest. Das tugendhafte Lebewesen ist dasjenige, das gut funktioniert, gemäß der ihm eigenen Natur und Funktion. Eine solche "kosmische" Lesart ist für die Moderne unmöglich geworden, weil der zu erforschende Kosmos und die zu dechiffrierende Natur fehlt.

Für die Moderne besteht das Problem darin, in Ermangelung eines jeden objektiven Bezugs auf einen Kosmos, auf eine natürliche Ordnung, die unendliche Freiheit des Subjekts im Zaum halten zu können. Man muss die Transzendenz in der Immanenz begründen. Ethik versteht sich nun als Selbstbeschränkung, als Autonomie. D.h. dass dort, wo die antike Ethik die natürliche Zweckmäßigkeit des Menschen zum Ausgangspunkt macht, geht die moderne Ethik von einer Theorie des guten Willens, des freien und autonomen Willens aus. Diese Theorie entfaltet sich nach zwei Seiten: aus einer subjektiven Sicht gilt es herauszufinden, welche Geisteshaltungen als tugendhaft bezeichnet werden können aus objektiver Sicht gilt es festzulegen, welche Zwecke, die sich ein freier Wille geben kann, die 'moralischen' sind. Die Antwort der modernen Ethik ist subjektiv die interesselose Intention, das Vermögen auf interesselose Weise zu handeln, und objektiv die Allgemeingültigkeit der gewählten Zwecke. "Die Freiheit des Menschen ist vor allem das Vermögen, außerhalb der Determinierung durch die 'natürlichen', d.i. besonderen Interessen zu handeln. Im Abstandnehmen vom Besonderen erhebt man sich zum Allgemeinen" [317f.]

Mit dem "Aufstieg des demokratischen Individualismus" drängen sich hedonistische und narzisstisch Ideologien in den Vordergrund, die sich der moralischen Fragestellungen bemächtigen. Das Schlüsselwort lautet Authentizität. Als wesentlich erscheint nun, "zum Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit, zur Entfaltung seiner selbst zu gelangen" [319]. Kompensiert wird dieser Narzissmus durch einen Überschuss an Toleranz und Achtung vor dem Anderen. Hervorgehoben wird das "Recht auf Differenz". "Die ganze Schwierigkeit der zeitgenössischen Ethik und der Heiligsprechung der Authentizität als solcher ist, dass der Bezug zur Idee einer Grenze sich zu verflüchtigen scheint, da sie durch die gebieterische Forderung nach individueller Entfaltung und durch das Recht auf Differenz ungerechtfertigt erscheint" [320]. Freilich besteht kein Grund zur Besorgnis: "zwischen der Animalität des Lebenszyklus' und der tugendhaften Handlung, mit der wir Autonomie in Anspruch nehmen, gibt es einen ganzen Bereich von vermittelnden Handlungen, die der Individualität Ausdrucksformen von großer Reichhaltigkeit ermöglichen" [322].

Eine Perspektive besteht für Ferry in der Erkenntnis, "dass sich die drei Zeitalter der Ethik, wenngleich sie antithetisch erscheinen, nicht gegenseitig aufheben: Die Authentizitätsforderung impliziert nicht einen vollständigen und letztendlichen Rückzug der Prinzipien der Vorzüglichkeit (= Aristoteles) und des Verdienstes (= Kant). Im Gegenteil, wir erleben heute einen Rückgang auf das Prinzip der Vorzüglichkeit inmitten des demokratischen Weltganzen, während die Wirkung des Prinzips des Verdienstes seinerseits niemals wirklich aufgehört hat. Die Authentizität neigt in der Tat mehr und mehr dazu, nur dann aufgewertet zu werden, wenn sie einhergeht, sei es mit der Macht der Tugend oder mit der Macht der Verführung, wenn sie also Authentizität von innerem Reichtum ist, dessen Äußerung Zustimmung oder Bewunderung des anderen bewirkt" [322]. "Damit das Individuum als solches erscheine, muss es gleichzeitig reich an besonderem Inhalt und dennoch verallgemeinerbar sein. Um diesen Preis und nur um diesen Preis kann die Authentizitätsforderung aufrechterhalten werden. Die Individualität gleich daher jenem Ideal, mit welchem die Hegelsche Ästhetik den Höhepunkt der Kunst bezeichnet." [323]


Kritik

Ferrys Arbeit ist charakterisiert durch den Gestus des "so geht es nicht". Seine Stärke besteht darin, die Relativität und Grenzen der historischen wie aktuellen Diskurse über Ästhetik wie Ethik aufzuweisen, welche zugleich als Spiegel der Geschichte der menschlichen Subjektivität gelesen werden. Ist die Antike durch einen heute unplausibel gewordenen Bezug auf ein vorgegebenes Ganzes charakterisiert, unterminiert sich die moderne Orientierung an der Autonomie des Subjekts selbst und terminiert im zeitgenössischen demokratischen Individualismus, der keine Werte mehr vorzugeben in der Lage ist und damit an der - für Ferry besonders wichtigen - Frage der notwendigen Grenzziehungen scheitert. Eine Schwäche der Arbeit sehe ich in der Unfähigkeit, über diese historische Deskription in irgend einer Weise plausibel hinauszugelangen, m.a.W. die intendierte Begründung eines nicht-metaphysischen Humanismus zu liefern. Insofern ist und bleibt es ein Werk der (Kultur-) Kritik und ist den kulturkritischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts einzugliedern. Die Frage ist, inwieweit es hier über die bereits bekannten kulturkonservativen (Arnold Gehlen) oder ideologiekritischen (Theodor W. Adorno) Fragestellungen hinauszugehen vermag. Von diesen unterscheidet es sich allenfalls durch eine solidere philosophiehistorische Bearbeitung des Stoffes und eine weniger durch die Intentionen des Autors getrübten Thematisierung der behandelten Autoren.

Die hermeneutischen Schwierigkeiten, auf die auch eine gutwillige Lektüre des Buches stößt, beruhen nicht auf der Konzeption und der Sprache seines Autors, sondern sind im wesentlichen durch die geradezu "unanständig" schlechte Übersetzung und das vollständig fehlende Lektorat bedingt. Nahezu jede Seite enthält mehrere Rechtschreib- oder Grammatikfehler, zudem sind manche Sätze so haarsträubend, dass sie kaum so im französischen Original gestanden haben können. Das Buch verdient eingestampft und in einer Neuübersetzung dem Leser präsentiert zu werden, angereichert vor allem von einer überzeugenden Perspektive auf die ethische Fragestellung im ästhetischen Zeitalter.

© Andreas Mertin