Thesen zum Spannungsfeld: Kunst und Kirche

von Andreas Mertin

vorgetragen im Lektürekurs "Theologie und Ästhetik", Bochum 29.06.1989

Die herausragende Eigenschaft von Kunst ist ihre Mehrdeutigkeit, genauer gesagt, die Verweigerung von Eindeutigkeit. Die ästhetische Erfahrung nimmt ein Objekt wahr und versucht mittels der Erkenntniskräfte, es auf einen Begriff von "Kunst" zu bringen, mithin ein Besonderes unter ein bekanntes Allgemeines zu subsumieren oder ein neues Allgemeines dafür zu finden. Das misslingt und treibt zum neuen Versuch, der wiederum scheitert. Genau in diesem wiederholten und doch immer wieder scheiternden Versuch der reflektierenden Urteilskraft, das Kunsthafte eines Objekts zu bestimmen, liegt der ästhetische Reiz.

Jeder Versuch, die ästhetische Erfahrung begrifflich zu fassen und festzuhalten, ist notwendig zum Scheitern verurteilt. Der Brückenschlag zwischen den Ursprung des Sehens und dem Aussprechen des Gesehenen (oder zwischen Anschauung und Begriff) hält niemals lange stand.

Jeder Versuch, die ästhetische Erfahrung zugunsten von Begriffen zu opfern, sie auf Begriffe festzulegen, ist Ikonoklasmus: Bildersturm.

Kunst entfaltet sich als "bestimmte Negation" aller nicht-ästhetischen Diskurse, da sie jeden Versuch des Verstehens als vorläufig unterläuft.

Die Geschichte des Umgangs von Kirche und Theologie mit Kunst(werken) ist die des fortgesetzten Ikonoklasmus' in unterschiedlichen Varianten:

Kunst entfaltet sich, insofern sie sich zunehmend auf einem mit der Religion identischen Feld agiert, als "bestimmte Negation von Religion" (Th. Lehnerer).

Die erste Variante ist die, der Kunst ihr Ausdrucksrecht im religiösen Bereich zu bestreiten. Diese Variante ist historisch verbunden mit den byzantinischen Ikonoklasten, den häretischen Armen-Bewegungen und der reformierten Theologie.

Schon die mittelalterliche Kunst ist selbst da, wo sie noch in die zeitgenössische religiöse Bildwelt eingebunden ist, Protest gegen deren zugrundeliegenden Ordnungsstrukturen, ein Zeugnis des Individualismus' gegenüber kollektiven Tendenzen.

Die zweite Variante beschränkt das Ausdrucksrecht der Kunst auf den religiösen Bereich. Diese Variante wird verkörpert durch den italienischen Ketzermönch Savonarola, aber auch durch große Teile der katholischen Kirche.

In der Neuzeit war die Entwicklung des Ästhetischen in den Werken der Kunst ein Prozess, der auf Kosten der religiösen Gehalte der Werke und der religiösen Erfahrung vor ihnen verläuft. "... und beugen unsere Knie nicht mehr" (Hegel)

Die auch gegenwärtig verbreitetste Variante des Umgangs mit Kunst im Kontext von Theologie und Kirche ist die, die von der Kunst eine Bestätigung theologischer Aussagen oder religiöser Empfindungen erwartet, das heißt ihr Ausdrucksrecht innerhalb des religiösen Bereichs begrenzt.

In der Gegenwart kann Ästhetik als ästhetische Negativität grundsätzlich als Katalysator von Problemkonstellationen und damit als Infragestellung jedes theologischen Anspruchs auf Allgemeingültigkeit angesehen werden. "Der Bilderstreit erweist sich als Krisenindikator der Theologie" (Dohmen)

Die noch produktivste Variante ist jene, die von der Kunst neue theologische Erkenntnisse erwartet, also die ästhetische Erfahrung unter theologischen Erkenntniszielen (Applikation) momentan still stellt.

Ästhetik ist, da sie jeden theologischen Satz als Kunstwerk betrachten und damit in seinem Geltungsanspruch relativieren kann, die kritische Intervention gegenüber allen automatischen Vollzügen der Theologie.

Die Analyse der Geschichte der Begegnungen von Kunst und Kirche verdeutlicht, dass ästhetische Erfahrung und theologische Lehre sich historisch als unvereinbar erwiesen haben. Sie bilden einen klassischen Widerstreit.

Die Theologie muss "sich der ästhetischen Praxis zunächst einmal als einem ihr Fremden - vollendetem Fremden! - stellen ... und (kann) nur in einem Akt kritischer Selbstreflexion in diesem Fremden auch ihr Eigenes erkennen." (Grözinger)

Ziel der Begegnung mit Kunst im Kontext Kirche wäre eine spezifische Form der Auseinandersetzung: deren Bestreitung. Nur so kann Kunst ihre Autonomie wahren und können Kunst und Kirche in ihrem Spannungsverhältnis zu ihrem je eigenen kommen.

© Andreas Mertin