Was hat der Eine mit den Vielen gemeinsam? Welches der unzähligen Christusbilder ähnelt dem Mann aus Galiläa, der einst diese Erde bewohnte? Gibt es überhaupt ein Christusbild, das mit dem irdischen Nazarener zumindest in seinen wesentlichen Zügen verwandt ist?
Pinchas Lapide[1]
Sich auf die Suche nach dem Menschen zu machen, seinen Spuren zu folgen, seine Konturen zu erfassen, seine Abgründe auszumessen, will heute nicht mehr so leicht gelingen wie in vergangenen Zeiten. Jener Gestus: 'Ecce homo!' des Pilatus gegenüber Jesus droht heute ins Leere zu gehen. Obwohl der Mensch unzählbar geworden ist, ist er nur schwer auszumachen. Er ist einsam und das in der Masse, individualisiert und Teil des Kollektivs.
"Seht, der Mensch!" - Worauf blicken wir, wenn jemand heute das Pilatus-Wort "Ecce homo" verwendet? Lässt sich an diese Äußerung noch etwas allgemein Verbindliches anschließen, oder sind die Schlussfolgerungen, die an das "Ecce homo" geknüpft werden, so unvereinbar widerstreitend, dass man nur ihre Vielfalt bestaunen, bzw. an ihr verzweifeln kann? Pinchas Lapide, der jüdische Theologe und Religionswissenschaftler, konstatiert eine schier unerschöpfliche Zahl christlicher Jesusbilder: "Da ist der jugendliche Hirte der altkirchlichen Katakombenkunst neben dem zarten Christkind in den Weihnachtskrippen, der siegreiche Kaiser-Gott der byzantinischen Mosaiken, gefolgt vom Weltenrichter auf den Portalen der romanischen Kathedralen, und gleich danach: der sentimentale Menschenfischer des Spätbarocks, der realistische Schmerzenmann in Dürers Gemälden, der am Kreuz thronende Christ-König der spanischen Hofmaler, der aufklärerische Popular-Jesus der Salonportraits, aber auch der kraftlos sanfte Heiland auf Tausenden von Marterln an den Kreuzwegen in ganz Europa."^[2] Welches dieser Bilder ist das richtige, welches hat Pilatus gemeint, als er sein berühmtes "Ecce homo" sprach?
Schon mit der Übersetzung des "Ecce homo" beginnen die Schwierigkeiten. Zwischen "Da seht den Menschen!", "Sehet welch ein Mensch!", "Das ist der Mensch! Da steht die Jammergestalt!" und "Seht, den Menschen!" schwanken die Übersetzungen, wobei mit jeder schon eine Entscheidung für die Deutung gefällt scheint: "als heidnisches Spottwort oder als Wort tiefer Jesus-Erkenntnis, als Wort über verächtliche Kleinmenschlichkeit oder als Wort über edles Menschentum."[3] Es scheint, als ob die religiöse Praxis gegen den Wortsinn des Pilatusspruches das alttestamentliche Bilderverbot bestätigen wollte, als gelte noch für jeden Satz der religiösen Auslegungstradition: "Du hast Dir ein Bild gemacht, ich bin es nicht." Wie lassen sich unter dieser Voraussetzung Ecce-homo-Bilder malen, wie das Menschenbild Christus gewinnen, ohne der Gefahr einer Fixierung zu erliegen? Schauen wir deshalb zunächst unter dem ikonographischen Stichwort "Ecce homo" in die Kunstgeschichte.
Die Anfänge des Ecce-homo-Bildes reichen bis ins 11. Jahrhundert zurück. Zwar gibt es schon ... (in einigen) Werken der deutschen Buchmalerei um 1000 Zurschaustellungen Christi, doch der Text zu diesen Miniaturen bezieht sich auf die Dornenkrönung und auf die Verspottung Christi. Erst im späten Mittelalter setzt sich das Ecce-homo-Bild wirklich durch. In Passionszyklen tritt es oft an die Stelle der Dornenkrönung. Auf den frühen Darstellungen ist Christus als König gekleidet, doch trotz seines geschlossenen Mantels sind seine Wunden und sein erbarmungswürdiger Zustand deutlich sichtbar gemacht. Später tritt Christus meist nur mit dem Lendentuch bekleidet vor die Menge, der Mantel liegt über seinen Schultern. Die früheren Ecce-homo-Bilder zeigen häufig nur einen engen Raum zwischen der Terrasse vor dem Gerichtsgebäude, auf der Pilatus und Christus stehen, und der Volksmenge, die sich herandrängt (Abb. 1). In nachmittelalterlicher Zeit vergrößert sich der Abstand zwischen beiden Gruppen, und es entsteht oft tumultuarische Bewegung unter dem Volk. Christus wird nun der 'Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit' (Jes 53,3). Seine Hände sind gefesselt, Pilatus oder eine andere Person hebt seinen Mantel hoch, um der Menge den elenden Zustand seines Körpers zu zeigen. Seit dem 16. Jahrhundert wird Christus oft von einem Knecht und nicht von Pilatus, der sich mehr im Hintergrund hält, dem Volk gezeigt. Eine Herauslösung der zwei oder drei wichtigsten Personen - Christus, Pilatus und ein Soldat - ließ vom 16. bis 18. Jahrhundert sowohl in der Malerei wie auch in der Plastik ein Andachtsbild entstehen. Am häufigsten tritt die meist plastische Christus-Pilatus-Gruppe im 16. Jahrhundert auf. Daneben ist auch die ganzfigurige plastische des isolierten Ecce-homo-Christus zu finden.[4]
Nicht unterschlagen werden darf bei dieser Zusammenfassung, dass die Ecce-homo-Szene für die geistliche Malerei im Mittelalter eine gern genutzte Möglichkeit zu antijüdischer Agitation bot. Ein Beispiel dafür findet sich im Frankfurter Städel. Es ist ein Altar, den Hans Holbein d.Ä. mit seiner Werkstatt um 1500 für das Frankfurter Dominikanerkloster gemalt hat. Der Altar ist "bewusst auf Emotionalisierung angelegt, auf Propaganda gegen die 'Gottesfeinde', die Juden."[5] Das wird besonders deutlich, wenn man zum Vergleich die zeitgenössischen volkstümlichen Frankfurter Passionsspiele heranzieht. Sie verbalisieren, was auf den Gemälden ins Bild gesetzt wird.
Im Spiel bittet Pilatus 'die Juden' geradezu flehentlich, Christus freilassen zu dürfen: "nu last yn geen, das bitten ich!" Doch "Synagogus schreit mit andern Juden" das "Crucifige, cruzifige eum!" und fügt jenen Satz hinzu, der bei Matthäus 27,25 steht und den judenverfolgenden Christen über Jahrhunderte ein gutes Gewissen verschaffte: "Pylate, er muß gecruziget werden, und sullen wir nummerme uff erden keinen guden tag gehan!" Holbein macht aus der Szene, wie es im 15. Jahrhundert üblich geworden war, ein personenreiches Volkstribunal ... Das Bild ist genau in der Mitte durch die Lanze des Kriegers geteilt. Auf der 'guten', heraldisch rechten Seite stehen Christus und der mitleidige Pilatus nebst Personal, auf der 'bösen' Seite steht das 'Volk der Juden', aufgeregt gestikulierend. Der Volkswille, das "Kreuzige ihn!", fließt, die Linienführung Holbeins macht es überdeutlich, von der Kreuzigungsgeste und den Inschriften in ein pseudohebräisches Manuskript - ist es der Text des Gesetzes, auf das sich die Juden nach Johannes 19,7 berufen? - und in die obszöne Verspottungsgeste des Jungen ...: 'die Juden' wollten den Tod des Gottessohnes, den sie verachteten und schmähten, und - so war es die von antijüdischen Predigern und Schriftstellern weitverbreitete Meinung um 1500 - sie beschimpften und schmähen ihn noch immer, und mit ihm die Christen[6].
Mit der Behauptung der Schuld der Juden am Tode Jesu ist über Jahrhunderte christliche Judenverfolgung legitimiert worden. In dem Maße wie Pilatus im Ecce-homo-Geschehen in den Hintergrund trat[7], wurde die Verantwortung 'der Juden' hervorgehoben. Aber die Ecce-homo-Szene hat nicht nur Schattenseiten, sie ist auch ein Identifizierungsangebot für unterdrückte, unter willkürlicher Machtausübung leidende Menschen gewesen. Das Christusbild ist auch Spiegelbild der Schmerzen, Sehnsüchte und Wünsche aller Menschen. So kann beobachtet werden, dass mit dem Christentum eine veränderte Ästhetik in Literatur und Kunst einzieht[8]. "Dass der König der Könige wie ein gemeiner Verbrecher verhöhnt, bespien, gepeitscht und ans Kreuz geschlagen wurde - diese Erzählung vernichtet, sobald sie das Bewußtsein der Menschen beherrschte, die Ästhetik der Stiltrennung vollkommen sie erzeugt einen neuen hohen Stil, der das Alltägliche keineswegs verschmäht, und der das sinnlich Realistische, ja das Hässliche, Unwürdige, körperlich Niedrige in sich aufnimmt"[9].
Jede Zeit hat ihre Vorstellungen, Träume und Alpträume auch in den jeweiligen Ecce-homo-Bildern niedergelegt. So ist auf der Ecce-homo-Darstellung von Tizian (1489-1576) aus dem Jahre 1543 (Abb. 2) vieles aus der Zeitgeschichte gespiegelt. Pilatus ist als der wegen seiner Schmähschriften gefürchtete Renaissanceschriftsteller Pietro Aretino zu identifizieren, und zu der Volksmasse haben sich Kaiser Karl V. und - Ausdruck der Angst vor der vordringenden Macht der Türken - Sultan Suleiman der Prächtige gesellt, die sich 1529 vor Wien feindlich gegenübergestanden hatten. Die Türken und Anhänger des 'falschen' Propheten Mohammed, die die meisten heiligen Stätten der Christenheit in ihrer Gewalt hatten, waren für die Zeitgenossen Tizians der Inbegriff der Feinde Christi.
Auch auf einem anderen Werk dieser Zeit, dem Ecce-homo-Bild des Hieronymus Bosch, das heute im Frankfurter Städel hängt, ist etwas von den Sorgen und Ängsten der Menschen zu spüren. Neben der auch hier präsenten Türkenfurcht - erkennbar am Halbmondbanner im Hintergrund und dem pseudo-orientalischen Ambiente - sind es vor allem die Probleme des menschlichen Leidens und des Ausgeliefertseins, die hier thematisiert werden. Hier werden Christus und der entblößte, der leidende und dem öffentlichen Spott preisgegebene Mensch identifiziert.[10] Durch diese Beziehung wird aber auch ein Identifizierungsangebot für den Betrachter unterbreitet. Wie bei den mittelalterlichen Pestkreuzen, die Christus mit den konkreten Merkmalen der Pest zeigen, soll der Betrachter sein eigenes Leiden im Leiden Christi wiedererkennen.
Diese Tendenz, im Leiden Christi paradigmatisch das eigene Leiden zu erkennen, angelegt schon darin, dass Albrecht Dürer Christus mit den eigenen Gesichtszügen malte, hat sich seit dem 16. Jahrhundert verstärkt. Sie läuft parallel zu dem Prozeß der Loslösung der Kunst von allen kirchlichen und gesellschaftlichen Bevormundungen. Beispiele dafür sind die Bildern von James Ensor (1860-1949) und Lovis Corinth (1858-1925). Das Ecce-homo-Bild von Lovis Corinth ist in den Ostertagen seines letzten Lebensjahres entstanden. Der gefesselte Christus wird von Pontius Pilatus, der auf ihn weist, und von einem Kriegsknecht der Menge vor Augen gestellt. Als Modelle wählt Corinth einige Freunde. Entsprechend der Anlage des Bildes kommt es zu einer unausweichlichen Konfrontation zwischen den dargestellten Personen und dem Betrachter, der sich in der Rolle des verurteilenden und höhnenden Zuschauers wiederfindet. Ein Überschlag in der Darstellung der Ecce-homo-Szene ist dagegen bei James Ensor in einem Werk unter dem Titel 'Ecce homo oder Christus und die Kritiker' zu verzeichnen. Christus trägt hier die Züge des Künstlers. Auf dem Haupt trägt er die Dornenkrone, um seinen Hals ist eine Schlinge gelegt. Der rechte Kritiker ist Ensors Zeitgenosse Max Sulberger, der linke Kritiker ist Édouard Fétis. Die Verkennung und Missachtung, die Ensor durch seine Kritiker erfährt, veranlassen ihn, sich selbst in die Ecce-homo-Szene einzubringen. Aber dieser Christus ist nicht als Opfer, als ausgelieferter Mensch zu erkennen, im Christus-Ensor erkennen wir eher einen hochmütigen Blick: gegen seine Kritiker empfindet er nur Anklage und bissige Ironie.
Die ikonographische Tradition des 'Ecce homo' ist spätestens mit dem 2. Weltkrieg zu Ende gegangen. Was seit dem sich mit der Ecce-homo-Szene beschäftigt, ist eher der Illustrationskunst zuzuordnen, als dass es Ausdruck autonomen Kunstverständnisses wäre. Wenn dennoch ernstzunehmende KünstlerInnen der Gegenwart sich mit dem Thema auseinandersetzen, so hat dies andere Gründe, als das positive Interesse, eine Geschichte aus der christlichen Glaubenswelt darzustellen. Aber wie kann religiöses Kunsthandwerk von seriöser existentieller Auslegung unterschieden werden?
Dorothee Sölle hat in ihrer Arbeit "Realisation" ein Modell der theologischen Kritik für die "weltliche Interpretation religiöser Sprache" vorgelegt, das auch für die Beurteilung der zeitgenössischen Bearbeitung der Ecce-homo-Szene gewinnbringend ist. Sie geht davon aus, dass die Weltlichkeit der Welt theologisch positiv zu verstehen ist. So ist die Kunst ein 'natürliches' Gegenüber der Theologie, denn in ihr artikuliert sich das Selbstverständnis, die Hoffnung und die Verzweiflung der Welt. Wo weltliche Kunst sich der religiösen Sprache 'bedient', realisiert sie etwas von dem im biblischen Text Gemeinten: "Realisation ist die weltliche Konkretion dessen, was in der Sprache der Religion 'gegeben' oder versprochen ist ... Der kritische Maßstab für gelungene Realisation ist daher nicht mit der Woher-Frage und mit bibelexegetischen Methoden zu gewinnen, entscheidend wird vielmehr die Frage: wozu? Wie weit gelingt Realisation eines theologischen Gehaltes in der nicht-religiösen weltlichen Konkretion? Was leisten die biblischen Sprachspuren im Kunstwerk, vermögen sie es, den Menschen in seiner Totalität auszusprechen, ihn auf sein ewiges, sein authentisches Leben zu beziehen?"[11]
Wenn Künstler sich heutzutage mit dem "Ecce homo" beschäftigen, so fragen sie nach der aktuellen Relevanz, die sich in der Ecce-homo-Szene verbirgt. Dabei knüpfen sie an Momente an, die sich schon in der Kunstgeschichte herauskristallisiert haben. Eine Gelegenheit, dies zu überprüfen, bietet die Ausstellung "Ecce homo. Vom Christusbild zum Menschenbild", die 1987 parallel zur documenta 8 vom Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart in der Kasseler Alten Brüderkirche präsentiert wurde. Beteiligt waren an dieser Ausstellung 27 Künstler und 6 Künstlerinnen, die vom Veranstalter um einen Beitrag gebeten worden waren. Wie gehen GegenwartskünstlerInnen - darunter so bekannte Namen wie Elvira Bach, Rainer Fetting, Gerhard Hoehme, Alfred Hrdlicka, Arnulf Rainer, Günther Uecker und Klaus Vogelgesang - mit der Pilatusszene um, was können sie ihr an relevanten Erkenntnissen entnehmen?
Da sind zunächst jene Künstler, die ihre Arbeit mit einer Reminiszenz an das historische Geschehen verknüpfen. Die Künstlergruppe Die Vier Evangelisten spannte in das Gewölbe der Alten Brüderkirche ein riesiges bemaltes Segel, auf dem sich ein dramatisch verdunkelnder Himmel abzeichnet. Darunter hängten sie eine Dornenkrone aus Panzersperren. Die Künstler gaben dem Werk den Titel "Über Lithostrotos", eine Reminiszenz an das in Johannes 19, 13 erwähnte Steinpflaster. Auf diesem Lithostrotos findet sich ein eingeritztes Würfelspiel, mit dem sich die römischen Wachsoldaten die Zeit vertrieben und in dessen Verlauf einer mit einer Dornenkrone gekrönt wurde. Peter Gilles hat in einer Art Christusidentifikation jene Blutspur nachgezogen, die sich aus der Geißelung und Dornenkrönung Christi ergibt. Er hat mit dem eigenen Körper auf der Leinwand einen Kreis gezogen, wobei er für den Abdruck des Körpers z.T. das eigene Blut benutzt hat. Barbara Heinisch hat in einer Performance mit dem Künstler Egon Schrick ihre Verarbeitung des Themas umgesetzt. Das Zentrum des Bildes dominiert eine Figur, die zwei überkreuzte Stäbe mit dem Unterarm in den Vordergrund streckt (Zur Arbeitsweise von Barbara Heinisch vgl. forum religion 3/87, S. 17). Heinz Kleine-Klopries hat ein überraschendes und zugleich rätselhaftes Ensemble geschaffen. 10 angebrannte und eine knallgrüne Figur aus Legosteinen umstehen einige Einmachgläser, in denen Legosteine 'konserviert' sind. Ist damit Christus gemeint, geschlagen und von den Blicken der Leute zerstückelt? Ist die grüne Figur der Verräter Judas oder Pilatus, der das "Ecce homo" spricht? Und sind die verbrannten Figuren Jünger oder symbolisieren sie das Volk, das "Kreuzigt ihn!" ruft? Arnulf Rainer spannt einen Bogen vom 13. Jahrhundert in die Gegenwart. Er verwendet das Foto eines gotischen Christusbildes und übermalt es. Das Bild zeigt Jesus als Christ-König: trotz der Peinigung bleibt Christus über den Schmerz erhaben, noch im Moment größter Erniedrigung erweist er sich als Herrscher. Rainer ruiniert das Bild, indem er es übermalt, zugleich vermenschlicht er es.
Eine andere Gruppe von Arbeiten gehört zum Stichwort Eingedenken. Sie leisten persönliche oder historische Erinnerungsarbeit, wie z.B. Jürgen Brodwolf , der uns eine Situation der Trauer vor Augen ruft, ein Moment des Abschiednehmens von einem Sterbenden oder einem Toten. Gerhard Hoehme stellt in seiner Arbeit eine Beziehung zwischen der Passion Christi und der jüngsten Vergangenheit her. Zentraler Bestandteil seines Werkes ist das Gedicht "Tenebrae" von Paul Celan. Wie, so ist seine Frage, konnte Auschwitz in einem Land geschehen, das doch vom Christentum geprägt war? Hatte sich nicht die biblische Ecce-homo-Situation verkehrt: Hier die gegeißelten Juden, dort die Christen, die "Kreuzigt sie" schreien?
Die überwiegende Zahl der Arbeiten beschäftigte sich mit dem Thema Menschenbild. Dies liegt, wie wir gesehen haben, im Trend der kunstgeschichtlichen Entwicklung. Der Berliner Maler Rainer Fetting hat das Geschehen in die Peripherie einer Großstadt verlegt. Sein mit "West-Nacht" betiteltes Werk verortet die Ecce-homo-Szene bei den Randgruppen der Gesellschaft, bei den Homosexuellen, den Ausgestoßenen, den Gestrauchelten. Sie sind es, die heute dem diskriminierenden Zeigefingergestus des Ecce-homo ausgesetzt sind. Ingrid Hartlieb hat eine Plastik geschaffen, die auf den ersten Blick sehr hermetisch wirkt. Nur Schritt für Schritt kristallisieren sich bei ihrer Arbeit anthropomorphe Züge heraus. Der Titel "Der Verweigerer" gibt einen Hinweis darauf, wie die Arbeit verstanden werden kann: als Mensch, der sich dem Geschehen verweigert, der trotzig-klotzig nicht mit macht, der im Wege steht. Annalies Klophaus ist dem Problem nachgegangen, wie eine unkorrumpierte, nicht-zynische Menschendarstellung unter besonderer Beachtung des Bilderverbots möglich ist. "Annalies Klophaus reklamiert für den Menschen den gleichen geschützten Bereich, der in der religiösen Tradition allein der Gottheit vorbehalten blieb" (Heinz-Ulrich Schmidt). Herausgekommen ist ein Menschenbild im wortwörtlichen Sinn, das versinnlichte Wort Mensch. Helmut Lander hat die Situation erschreckend dramatisiert. Er sieht im Spruch "Ecce homo" das Ergebnis, die Hinrichtung Jesu, bereits präfiguriert. Zugleich transformiert er sie in einen neuzeitlichen Kontext. In der Tradition von Francisco Goya, Otto Dix und George Grosz beschreibt er sie als 'Exekution': der sprachlichen folgt die physische. Günter Maniewski hat eine sehr stille, fast monochrome Arbeit vorgelegt. Er hat, darin Annalies Klophaus sehr ähnlich, seine Arbeit aller Gegenständlichkeit entkleidet, auf seinem Bild sind nur noch die Spuren der Verletzung, eingeritzt in die Leinwand, zu erkennen. Der Künstler schreibt dazu: "Wann ist es möglich, 'den Menschen zu sehen'? Wenn er ganz schwach ist, wenn er am Ende ist. Wenn es nichts mehr zu überspielen gibt und nur noch die existentielle Nacktheit erkenntlich ist. Erst in der Krise, der Katastrophe, vor dem Sterben wird der Mensch wahrgenommen aber ob er dann erkannt wird?" (Katalog der Ausstellung 'Ecce homo', S. 90).
Auch einige auf den ersten Blick eher überraschende Ausdeutungen hat das Thema erfahren. So stellen zwei Künstler bei ihren Arbeiten Frauen in den Vordergrund. Das trägt dem Umstand Rechnung, dass zum Bild vom Menschen Jesus auch und insbesondere die Thematisierung der Frauenfrage gehört. Frauen werden genauso wie Männer in seine Nachfolge und Jüngerschaft gerufen und sind für das Leben Jesu ebenso wichtig wie diese. Von den Frauen im Gefolge Jesu sind sechs namentlich bekannt: Johanna, die Frau eines Ministerialbeamten am Hof des Herodes, Maria, die Frau des Jüngers Kleopas, Maria, Mutter von Jesus, Susanna, die wie Maria Magdalena von Jesus geheilt worden war. Im Gegensatz zu den männlichen Jüngern verlassen sie Jesus nicht während seiner Passion, und als die Sabbatruhe vorbei ist, erweisen sie dem Toten die letzte Ehre. Aber Elvira Bach malt nicht eine Szene aus der Passion Christi, sie greift auf die Geburt zurück. Konsequent ihrem Thema der Darstellung von Frauen in spezifischen Situationen treu bleibend (vgl. forum religion 3/87, S. 22f.), hält sie den Jubel der Maria über ihr Kind trotz der sie bedrohenden feindlichen Umwelt fest. Dabei nähert sie sich formal stark der Geburtsszene bei Emil Noldes neunteiligem Altar über das Leben Jesu. Jürgen Goertz folgt dieser Deutung und stellt in symbolistischer Verdichtung dasselbe Motiv dar: Bereits in der Verlassenheit der Geburtssituation Jesu ist sein späteres Schicksal angedeutet.
Die vorgestellten Kunstwerke haben nicht die Aufgabe, Ideen, Vorstellungen oder auch Programme des Religionsunterrichtes zu illustrieren. Ebenso wenig sollten sie dazu funktionalisiert werden, Gedanken zu verdeutlichen, die anderswo und auf andere Art gewonnen wurden. Vielmehr kommt es zunächst darauf an, sehen zu lernen, Form und Material zu beobachten, sich inspirieren oder auch infrage stellen zu lassen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass Werke der modernen Kunst letztlich nicht vereinnahmt werden können, weder für noch gegen ein bestimmtes Menschenbild, weil sie grundsätzlich mehrdeutig sind. Sie ermöglichen damit, dass jeder Betrachter für sich Deutungen entdecken kann und mit seinem Nachbarn darüber ins Gespräch zu kommen trachtet. Unter dieser Voraussetzung lohnt es sich, sich mit historischen und aktuellen Kunstwerken auseinander zusetzen, nach vergangenen und gegenwärtigen Realisationen des Bildes vom Menschen Jesus zu fragen.
Dabei wird man die vorgestellte Dia-Serie nicht vollständig innerhalb einer bestimmten Unterrichtseinheit einsetzen können. Das wäre eine Überforderung sowohl der SchülerInnen wie der Lehrenden. Je nach Unterrichtssituation werden sich bestimmte Kunstwerke zur Bearbeitung anbieten. Auf der anderen Seite lassen sich die vorgestellten Bilder aufgrund ihrer grundsätzlichen Mehrdeutigkeit in sehr unterschiedlichen Kontexten einsetzen, das heißt es können unter jeweils veränderten Fragestellungen diverse im Kunstwerk angelegte Möglichkeiten realisiert werden. Verschiedene Einsatzorte sollen hier kurz anhand der Hessischen Rahmenrichtlinien für die Sekundarstufe I angedeutet werden. Für den Unterricht in der Sekundarstufe II werden sich ähnliche Verwendungsmöglichkeiten finden lassen.
In der Jahrgangsstufe 5/6 wäre ein möglicher Einsatzort das Wahlthema "Gerecht - Ungerecht. Dem anderen gerecht werden": Kann in den auf den Kunstwerken dargestellten Situationen ein Mensch noch gerecht beurteilt werden? Das Bild von Gerhard Hoehme könnte seinen Platz finden im Kontext des Wahl-Themas "Verfolgte - Verfolger. Praxis Jesu und Praxis von Christen", da es den Umschlag vom Kreuzesgeschehen Christi in die Verfolgung von Juden thematisiert.
In der Jahrgangsstufe 9/10 gehören einige Werke als Frage nach dem christlichen Menschenbild in das Unterrichtsthema "Lohnt sich das Leben. Die Frage nach dem Sinn". Da es in der Ecce-homo-Szene zentral um die Frage nach der Menschlichkeit Jesu und ihren Folgen geht, können sämtliche Dias bei dem Thema "Jesus. Bruder - Mensch - Gottessohn?" verwendet werden. Schließlich gehört die Arbeit von Hans Holbein in das Wahlthema "Der gelbe Stern. Judenverfolgung im Dritten Reich", insofern dort die "christlichen Vorurteile gegenüber den Juden in der Geschichte als Beispiele für 'Mechanismen der Diskriminierung'" aufgearbeitet werden sollen.
Innerhalb der Informationseinheiten gehören einige Bilder in die Einheit "Religiöse Symbole. Symbol und Wirklichkeit" als Beispiele der Versinnlichung und Thematisierung biblischer und zugleich menschlicher Schlüsselgeschichten, etwa unter den Stichworten 'Ich bin jemandem ausgeliefert' oder 'Ich befinde mich in einer Situation äußerster Verletzbarkeit' . Und schließlich passen einige der vorgestellten Werke in die Einheit "Jesus begegnet Menschen. Umwelt Jesu", insbesondere unter den Aspekten "Jesus begegnet Mächtigen" und "Frauen um Jesus" .
Hinweise zur Literatur
- Ecce homo Vom Christusbild zum Menschenbild. Ausstellungskatalog. Hg. von Heinz-Ulrich Schmidt und Horst Schwebel. Menden: Trapez, 1987. (Dort Abbildungen aller Werke der Ausstellung mit Kurzmeditationen)
- Welch ein Mensch? Einwürfe 4. Hg. von Friedrich-Wilhelm Marquardt, Dieter Schellong und Michael Weinrich. München: Kaiser, 1987. (Mit einem lesenswerten Aufsatz von Friedrich-Wilhelm Marquardt zum Thema.)
- Seht, welch ein Mensch! Kirchentag '87. Hg. von Raul Niemann, Gütersloh, 1987. S. 60-70, hier S. 61. (U. a. mit Beiträgen von Luise Schottroff, Peter von der Osten-Sacken, Pinchas Lapide, Elisabeth Moltmann-Wendel, Antje Vollmer und Jürgen Döring.)
- Gertrud Schiller Lexikon der christlichen Ikonographie. 8 Bände. Freiburg: Herder 1968ff. (Unter dem Stichwort 'Ecce homo' ein Überblick über die ikonographische Tradition und die kunstgeschichtliche Typologie des Themas.)
- Rombold/Schwebel Christus in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Freiburg: Herder, 1983. (Versammelt wichtige Christusdarstellungen vor allem aus der klassischen Moderne.)
- Paulus Hinz Deus homo. Das Christusbild von seinen Ursprüngen bis zur Gegenwart. 2 Bände. Evangelische Verlagsanstalt Berlin.
- Winfried Frey Die Juden im Frankfurter Passionsspiel in: Gott in Frankfurt? Hg. von Matthias Benad. Frankfurt, 1987. S. 34-42.
- Leo Trepp Die Juden. Volk, Geschichte, Religion. Reinbek, 1987. (Wichtig für die Bearbeitung ist vor allem die Zusammenfassung zum Prozeß Jesu S. 116ff.: Jesus und die Juden.)
Anmerkungen
- Pinchas Lapide, "Rabbi, wo bist Du zuhause? (Joh. 1, 38)" in: Seht, welch ein Mensch! Kirchentag '87. Hg. Raul Niemann, Gütersloh, 1987. S. 60-70, hier S. 61.
- Pinchas Lapide, ebenda
- Friedrich-Wilhelm Marquardt, Ecce-homo-Variationen in: Welch ein Mensch? Einwürfe 4. Hg. von Marquardt, Schellong und Weinrich. München 1987. S. 5-53, hier S. 9.
- Sachs, Badstübner, Neumann. Wörterbuch zur Christlichen Kunst. Hanau: Dausien, o.J.
- Winfried Frey, Die Juden im Frankfurter Passionsspiel in: Gott in Frankfurt? Hg. von Matthias
- Benad. Frankfurt: athenäum, 1987. S. 34-42, hier S. 37.
- Winfried Frey, Die Juden im Frankfurter Passionsspiel a.a.O., S. 39f.
- "Pilatus ist bereits in den Augen des lateinischen Kirchenvaters Tertullian ein heimlicher Jesusanhänger, spätere Legenden wissen von seinem Martyrium zu berichten, in der koptischen Kirche wird er zum Heiligen". Jürgen Ebach, "Nein, Du hast doch gelacht" in: Welch ein Mensch, a.a.O., S. 54-78, hier S. 64.
- Vgl. Jacob Taubes, "Die Rechtfertigung des Hässlichen in urchristlicher Tradition" und Hans Robert Jauß, "Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Hässlichen in mittelalterlicher Literatur" beide in: Die nicht mehr schönen Künste (Poetik und Hermeneutik 3), Hg. H.R. Jauß, München: Fink, 1968. S. 169-185 und S. 143-168.
- Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 7. Auflage. Bern: Francke, 1982. S. 74.
- "Der Bildtypus ECCE HOMO meint den Christus als Einzelgestalt im Sinne des von Blicken ausgesetzten Menschen." Horst Schwebel, "Ecce homo" in: Ecce homo. Vom Christusbild zum Menschenbild. Ausstellungskatalog. Menden: Trapez, 1987. S. 7-14, hier S. 7.
- Dorothee Sölle, Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand, 1973. S. 29f.