Wahrnehmung - Funktion - Bedeutung

Altar und Altarbild in historischer Perspektive

von Andreas Mertin

[Originalbeitrag]

Was passiert, wenn wir heute in einer Kirche vor einem Kunstwerk stehen? Wie gehen wir mit ihm um? Wie entziffern wir es? Nehmen wir es als Kunstwerk wahr? Oder ist es für uns vielmehr eine Mitteilung über unseren Glauben? Führt uns ein Kunstwerk mit religiöser Thematik an die Inhalte des Glaubens heran? Oder können wir eine solche Vermutung an uns heute gar nicht mehr wahr-nehmen? Und wie hat ein historischer Betrachter ein solches Kunstwerk wahrgenommen? Wonach hat er es beurteilt? Nahm er ästhetische Kriterien zu Hilfe, fragte er nach der künstlerischen Qualität, der Form, der Perspektivkonstruktion oder der Lebensnähe der abgebildeten Gegenstände? Oder beurteilte er es nach religiösen Kriterien, etwa, ob es eine eigenständige Funktion im religiösen Diskurs übernahm, etwa biblische Geschichte versinnlichte oder zum Glauben führte? Oder war es so, dass historisch beide Diskurse miteinander vermischt waren? Und wenn, waren die Diskurse für den Rezipienten unterscheidbar oder war ihm ihre Eigenständigkeit nicht bewusst?

Ich möchte im folgenden anhand eines Ganges durch die Marburger Elisabeth-Kirche Distanz und Nähe zwischen unserer heutigen und der mittelalterlichen Betrachtungsweise von Kunstwerken mit religiöser Thematik verdeutlichen. Ich wähle die Elisabeth-Kirche zum einen, weil sie für mich ein vor Augen liegendes Beispiel ist, zum zweiten, weil sich an und in ihr der Veränderungsprozess der Rezeption besonders drastisch aufweisen lässt, zum dritten, weil trotz dieser Veränderung gewisse Gemeinsamkeiten der heutigen mit der mittelalterlichen Rezeption augenfällig sind.

Von meinem Arbeitszimmer aus habe ich einen Blick unmittelbar auf die beiden Türme der Elisabeth-Kirche und das Marburger Schloss. In der Dämmerung wird die Beleuchtung an- und - auf die Sekunde genau - um 23 Uhr abgeschaltet. Vom Einbruch der Dämmerung bis 23 Uhr hebt sich die Silhouette der Elisabeth-Kirche hell erleuchtet aus dem sie umgebenden Marburger Stadtgrau, allein schon dadurch als kunsthistorisch bedeutsames Dokument gekennzeichnet. Wer länger in Marburg verweilt, kann gar nicht anders, als die Elisabeth-Kirche und die in ihr enthaltenen Werke zunächst und vor allem als kunsthistorische Objekte zu betrachten. So mache ich mich denn auch wieder einmal auf, an einem Werktag die Elisabeth-Kirche zu besuchen, um meine Wahrnehmungen mit denen zu vergleichen, die ein mittelalterlicher Besucher der Kirche (vermutlich) gehabt hätte.

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[Die folgende Begehung lässt sich auf der schönen
Website der Marburger Elisabethkirche
Schritt für Schritt nachvollziehen]

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Ich nähere mich der Kirche von Nordwesten, der Verkehr braust ununterbrochen an mir vorbei durch die Elisabethstraße. Von der Straße aus blicke ich auf die Kirche, ihr Eingang liegt mir zu Füßen, eine für eine gotische Kirche eher ungewohnte Perspektive zugleich ragen über mir die beiden Westtürme fast 80 m hoch auf. Der Blick auf die Kirche ist frei, der Raum rechts und links von ihr mit Rasen gestaltet. Ich gehe die Treppe herunter und umkreise die Kirche einmal. Der Gang zeigt, dass die Kirche rundherum frei steht, lediglich im Nordosten reichen einige Gebäude nahe heran. Ich komme wieder zum Hauptportal, dessen Türen farbig grell hervorstechen. Später erfahre ich, dass die Türen aus der Bauzeit der Kirche stammen, die Beschläge mit den Deutschordenskreuzen ursprünglich vergoldet waren. An der Marienstatue über den Eingangstüren wird erkennbar, dass wir es hier mit einer Marienkirche zu tun haben.

Ich betrete nun die Kirche, ein großes Schild kündet durch die Forderung nach Entrichtung eines Eintrittspreises an, dass es sich nicht nur um eine Kirche mit seelsorgerlicher und verkündender Funktion handelt, sondern zugleich auch um ein Museum. Nachdem ich meinen Obolus entrichtet habe, betrete ich das eigentliche Kirchenschiff. Wie immer, wenn ich mich in gotischen Kirchen befinde, gleitet mein erster Blick zunächst hoch nach oben ins Gewölbe, eine Reaktion, die von den Erbauern der Kirche wohl beabsichtigt war. Ich schätze die Höhe des Kirchenschiffes (20,50 m). Beim Hinuntergleiten des Blickes nehme ich die Chorfenster im Hintergrund wahr, ebenfalls den hohen Lettner, der mir den Blick auf den (dahinter zu vermutenden) Hochaltar versperrt. Vor dem Lettner steht ein eher unscheinbarer Kreuzaltar.

Bevor ich beschließe, dem mir beim Kauf der Eintrittskarte in die Hand gedrückten Kurzführer zu folgen, huste ich einmal laut - zu pfeifen oder zu rufen, traue ich mich nicht - um die Akustik des Raumes zu prüfen. Das Geräusch hallt deutlich vernehmbar durch die Kirche, ein Hinweis, dass ein Prediger heute wohl Probleme mit der Akustik bekommen dürfte.

Ich gehe nun durch das Mittelschiff Richtung Kreuzaltar, wähle also dieselbe Richtung, die in früheren Zeiten die Pilgerprozessionen genommen haben. Auf halbem Wege werde ich angehalten, der "Madonna am Pfeiler" Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Marienfigur aus Holz reicht den "Heiland der Welt den Menschen zur Verehrung dar", wie der "Wegweiser zum Verstehen der Elisabeth-Kirche" bemerkt. Es ist die vierte Figur an dieser Stelle. 1339 wird eine Madonna aus Stein erwähnt, die 1619 beim Bildersturm zerstört wurde. Später stand hier die Elisabeth-Statue von Juppe, auf die ich später noch zu sprechen komme. 1861 wird sie durch eine neue aus Zement ersetzt, an deren Stelle wiederum seit 1931 die jetzige Figur steht, eine Leihgabe des Kaiser-Friedrich-Museums in Berlin.

Ich komme jetzt zur Kanzel, die unverkennbar neueren Datums ist. Ob sie, wie der Wegweiser durch die Elisabeth-Kirche meint, "gotische Formen mit Geschmack und Stilgefühl" wiederholt, scheint mir eher fraglich. Diese Kanzel ist die sechste im Langhaus. Im Mittelalter befand sich eine am mittleren Pfeiler der südlichen Reihe, also direkt gegenüber der eben betrachteten "Madonna am Pfeiler". Dann wurde eine gotische Steinkanzel an Stelle der jetzigen Kanzel errichtet, die später durch eine Holzkanzel im Renaissancestil ersetzt wurde. Bei der Restauration 1854-61 wurde sie entfernt und ein Lesepult auf der Mitte des Lettners angebracht. Später behalf man sich mit transportablen Notkanzeln.

Der Kreuzaltar, dem wir uns nun nähern, wird 1287 zum ersten Mal erwähnt. Er war für den Gottesdienst der Gemeinde bestimmt. Der zunächst umstrittene bronzene Kruzifix von Ernst Barlach kam 1932 und steht - nach einem wechselvollen Schicksal während des Dritten Reiches - seit Kriegsende fest an diesem Platz. Hoch über dem Kreuzaltar hing früher ein reich verziertes Triumphkreuz, wovon Fotografien noch Zeugnis geben.

Hinter dem Kreuzaltar trennt der Lettner Langhaus und Chor voneinander ab. Der Lettner wurde 1343 nachträglich in die Kirche eingebaut, um den für die Kleriker vorbehaltenen Chorraum mit dem Hochaltar vom sonstigen Kirchenschiff abzugrenzen, das der gesamten Gemeinde zugedacht war. Vorher standen an seiner Stelle niedrigere Chorschranken, zu denen wohl auch der hölzerne Triumphbogen mit den Laubmasken über der Mitte des Lettners gehört hat. Auf den Konsolen des Lettners standen Figuren aus Stein unter Baldachinen, die die Zinnen des himmlischen Jerusalems darstellen. Diese Figuren wurden im Rahmen des reformierten Bildersturms 1619 zerstört, dem auch die Bilder im Langhaus zum Opfer fielen.

Der Kurzführer führt mich jetzt nach links zur sog. "Französischen Elisabeth". Die zeitliche Ansetzung der Schnitzfigur schwankt zwischen 1470 und 1500. Bis 1931 stand sie im Elisabethmausoleum. Hält man sich die Geschichte der Elisabeth vor Augen, so fällt auf, dass diese Elisabeth weniger ein Sinnbild der Armenfürsorge abgibt, keine "Mutter der Armen" ist, sondern eher eine vornehme Dame vorstellt, gekleidet mit einem Seidenumhang, der mit Zobelpelz gefüttert ist, darunter ein Gewand aus Goldbrokat. Französisch ist an dieser Figur allerdings nur ihre Erscheinungsweise, keinesfalls ihre Herkunft.

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Bisher bewegten wir uns im allgemein zugänglichen Teil. Jetzt kommen wir zum Chor, jenem Bereich, der früher den Klerikern vom Deutschorden vorbehalten war und heute den Übergang zum musealen Teil der Kirche markiert, in dem der kulturell und touristisch Interessierte seinen Ambitionen nachgehen kann.

Linker Hand finden wir als erstes einen Marienaltar. Er ist das Ergebnis eines längeren kunsthistorischen Prozesses. An seinem Anfang stand eine Pieta aus der Zeit um 1390. Die deutsche Bezeichnung dafür, "Vesperbild" entstand nach der Gebetszeit der Vesper, da am Karfreitag zu dieser Tageszeit die Kreuzabnahme und die Beweinung Christi erfolgte. Dieser in der deutschen Kunst beliebte Bildtypus ist vermutlich am Ende des 13. Jahrhunderts aus dem mystischen Nacherleben der Passion Christi entstanden. Im Kontext der Pestwellen im 14. Jahrhundert lud er zur Identifikation ein, spiegelte er doch die Trauer um den Verlust eines nahestehenden Menschen. Die vorliegende Pieta gehört jedoch zum sog. weichen Stil, der um 1380 zum ersten Mal auftritt. Er zeigt eine liebliche Maria, die ihrem Schmerz in stiller Andacht nur verhalten Ausdruck gibt der Körper Christi liegt fast waagerecht ausgestreckt über ihren Knien.

Das Vesperbild gehört zur Typologie der sog. Andachtsbilder. Deren Motive sind meist aus erzählenden Bildfolgen oder Szenen herausgelöst und verselbständigt worden. Die kunstgeschichtliche Bedeutung des Andachtsbildes liegt in der Abkehr vom didaktischen Bildcharakter des 12. und 13. Jahrhunderts und der Hinwendung zur gefühlsbetonten Darstellung, die die religiösen Inhalte dem Bereich des Menschlichen näher bringt und damit ihre Einbeziehung in die profan-realistische Genrekunst des 15. Jahrhunderts vorbereitet. Das Andachtsbild ist Ausdruck einer neuen, individualistischen Frömmigkeit, die sich mit der Entwicklung der frühstädtischen Gesellschaft im 14. Jahrhundert herausgebildet hatte.

Der jetzige Standort der Pieta innerhalb des Marienaltars entspringt der Zeit um 1500, die die früheren Vesperbilder wieder in Schreine einfasste. Geschnitzt wurde der Altar zwischen 1512 und 1517 (also zeitgleich zum Isenheimer Altar) vom Marburger Bildschnitzer Ludwig Juppe. Er stand vor der Aufgabe, die Pieta so in ein Schnitzwerk einzufügen, dass sie hervorgehoben und nicht in den Schatten gestellt wurde. Diese Aufgabe ist durch die Farbgestaltung gut gelöst. Unerträglich war es für Juppe, dass Maria Jesus gar nicht festhalten kann. Die rechte Hand muß ihr heruntersinken. Für den mittelalterlichen Künstler lag die Wahrheit eines Bildes nicht in der anatomischen Richtigkeit der Figuren, sondern in der Deutlichkeit, mit der sie darstellen, was sie zu verkünden hatten. Alles andere wurde dieser Bedeutung untergeordnet. Juppe löst das Problem, indem er Johannes Maria zu Hilfe eilen lässt, um Jesu herabsinkenden Kopf aufzufangen und zu stützen. Ursprünglich stand der heutige Marienaltar, wie alle Altäre der Elisabeth-Kirche nach Osten gerichtet, an der Schmalseite des Elisabeth-Mausoleums. Während der Restauration 1854/61 wurde er an die jetzige Stelle versetzt. Die Altarflügel sind - wie auch bei den vier anderen Schnitzaltären - fest angeschraubt, um Beschädigungen zu vermeiden, der Blick auf die Werktagsseite der Altarbilder ist verwehrt.

Das Elisabeth-Mausoleum, das rechts vom heutigen Marienaltar steht, ist das funktionale Zentrum der Kirche. Das Mausoleum ist eigentlich ein Baldachin über dem Grab der Elisabeth. Er stellt den Himmel dar, in den, wie das Tumbarelief zeigt, die Heilige aufgenommen worden ist. Bis 1249 stand der Sarg mit den Gebeinen Elisabeths auf der Tumba. Das Relief an der Tumba zieht sofort die Aufmerksamkeit des Besuchers auf sich. Es zeigt Elisabeth aufgebahrt. An ihrem Totenbett sieht man vier kleine Klagefiguren, es sind Kranke, Bettler und Krüppel. Darüber stehen Personen der "offiziellen" Kirche: neben Christus und Maria, der Landgraf Konrad von Thüringen, der Evangelist Johannes, die hl. Katharina und Petrus, Johannes der Täufer, Maria Magdalena und ein Bischof. Zwischen den Geknechteten und der offiziellen Kirche liegt Elisabeth auf dem Totenbett. Ihre Seele, dargestellt als ihr verkleinertes Abbild und gekrönt mit der Krone der Vollendung, wird von einem Engel in die Höhe getragen zu Christus, während ein anderer Engel ein Weihrauchfass schwenkt. Das Relief wurde angebracht beim Besuch von Kaiser Karl IV. im Jahre 1357.

Rechts neben dem Mausoleum befindet sich ein Katharinen-Altar mit Darstellungen der Anna selbdritt, Szenen aus dem Leben der heiligen Katharina (über die nebenbei bemerkt die Legenda aurea geradezu Sensationelles berichtet), Maria und Johannes unter dem Kreuz und verschiedenen anderen Szenen (etwa eine ikonographische Verbindung der Maria Magdalena mit der Maria Aegyptica). Der danebenstehende Elisabeth-Altar war im Mittelalter besonders ausgezeichnet als Altar der Titelheiligen. Den besonderen Rang dieses Altars hebt auch die Kreuzigungsgruppe hervor, die sich hoch darüber an der Ostwand des Querhauses befindet. Auch der Elisabeth-Altar ist geschmückt mit Wandmalereien. Die ältesten stammen vom Ende des 13. Jh., die hagiographischen Szenen aus dem Leben der hl. Elisabeth wurden in der 2. Hälfte des 15. Jh. gemalt. Zur Betrachtung der Kreuzigungsgruppe über dem Altar trete ich ein paar Schritte zurück. Unterhalb des Holzkreuzes sind die trauernde Maria und der Jünger Johannes aufgemalt, rechts und links die Kreuze der mit Jesus Gekreuzigten. Kruzifixus wie Wandmalereien stammen aus der Zeit um 1480. Zur Kreuzszene schreibt der "Wegweiser zum Verstehen" folgendes: "Die Seele des gekreuzigten Verbrechers zu seiner Rechten, der Jesus um Erbarmen gebeten hat, wird als reine und betend aufgerichtete kleine Gestalt von einem Engel aufgenommen, während die Seele dessen, der Jesus noch vom Kreuz aus verhöhnt hatte, in Gestalt eines dunklen und verkrümmten Menschleins von einem koboldhaften Teufel gepackt wird." An dieser Stelle wird en detail noch in der Darstellung der Seelen der im Mittelalter unterstellte enge Zusammenhang von Krankheit und Sünde deutlich.

Ich verlasse den Elisabethchor und stehe nun im Ostchor, wo die Gebete und Gottesdienste der Deutschordenritter stattfanden. Hätte ich bei meinem Gang um die Elisabeth-Kirche besser aufgepasst, so wäre mir neben der Südpforte die Sonnenuhr aufgefallen, die die Gebetszeiten für die Ordensangehörigen anzeigte. Das Zentrum des Ostchores bildet der Hochaltar. Er ist aus bemaltem Sandstein und wirkt sehr filigran. Er ist sozusagen das betonte i-Tüpfelchen der Gotik dieser Kirche, löst er doch spontan beim heutigen Betrachter Assoziationen an Portale französischer Kathedralen aus. Der Altar öffnet sich in drei Nischen, die jeweils wiederum drei Figuren Raum geben. Es werden keine Geschichten erzählt, sondern lediglich Heiligenfiguren vorgestellt. Seitenwände und Rückseite sind wiederum narrativ mit biblischen Szenen bemalt. Die Wirkung des Altars ist nicht so, dass man in ihm sofort den Hauptaltar der Kirche erkennt. Gegenüber den anderen Altären wirkt er nur durch seinen Ort in der Kirche.

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Bevor ich weitergehe in den Landgrafenchor, ein kleiner Exkurs zum Thema Altar. Religionsgeschichtlich sind Altäre mit dem Opfer verbunden. Die griechische Bezeichnung betont die Funktion des Altars, das Opfer zu tragen, tibetisch bedeutet der Altar "Opfer-Unterlage" oder "Opfer-Thron". Die hebräische Bezeichnung wiederum charakterisiert den Altar als Ort der Opferschlachtung. Unser Wort "Altar" fußt auf dem Lateinischen "altaria" und charakterisiert ihn als Ort des Brandopfers. Der Altar ist heilig, er ist der Ort der Gegenwart Gottes, er ist das Symbol des Zusammenfalls von göttlicher und menschlicher Bewegung. Der Altar als Ort der Präsenz der Gottheit wird dadurch betont, dass der Altar mit einem Bild oder Symbol der Gottheit verbunden wird. Der Tempel ortet sich dabei nach dem Altar. Altäre ohne Tempel gibt es zahlreiche, Tempel ohne Altäre sind selten.

Für die Alte Kirche gilt zunächst, dass als Altar ein einfacher Tisch reicht, auf den Brot und Wein für die Abendmahlsfeier gestellt werden konnten: nicht der Tisch, sondern die eucharistischen Gaben sind wichtig. Für die frühen Christen gilt, was auch ihre Feinde ihnen vorwarfen, das sie keine Altäre (im eigentlichen Sinne) hatten. Bis zum 4. Jahrhundert bleiben die beweglichen Tische vorherrschend, danach haben Kirchen in der Regel einen einzigen festen Altar. Bei Erweiterungen von Kirchen durch eigenständige Kulträume konnten diese einen eigenen Altar erhalten. Erst seit dem 6. Jahrhundert gibt es Berichte darüber, dass in einer Kirche mehrere Altäre aufgestellt werden: Gregor I. erwähnt eine neue Kirche mit 13 Altären. Die Ausstattung der Altäre wird immer prunkvoller. In den Kirchen der Hauptstädte waren die Altäre mit Gold- und Silberplatten verziert und trugen reichen Schmuck von Edelsteinen.

Im Mittelalter treten zunächst keine weiteren Änderungen ein. Der Altar weist weiterhin Tischform auf, er steht vor der Apsis, der Liturg steht hinter ihm und zelebriert versus populum. Im 9. Jahrhundert wird es dann üblich, Reliquien nicht mehr unter, sondern im Altar zu bergen, was eine veränderte Altarform nötig machte. Der nunmehr massive Unterbau bietet die Möglichkeit, Schmuck anzubringen, berichtet wird auch von (wahrscheinlich ornamentaler) Malerei. Die Zahl der Altäre nimmt um 800 so stark zu, dass sich ein Kapitular Karls des Großen gegen die Errichtung überflüssiger und nicht ausreichend dotierter Altäre wendet. Dennoch ist die Zahl der bei Errichtung neuer Kirchen aufgestellten Altäre gegenüber dem Spätmittelalter noch gering. Es lässt sich dabei eine gewisse Ordnung erkennen: neben den Hauptaltar tritt der Kreuzaltar (im Kirchenschiff, westlich der Vierung), bei dem das die Kirche beherrschende Kreuz das Primäre zu sein scheint und der als Stätte der Kommunionspendung vor allem in Kloster- und Stiftskirchen und solchen mit Lettnern für die Gemeinde de facto die Bedeutung des Hauptaltars hatte.

Der Beginn des 2. Jt. markiert einschneidende Veränderungen in der Konzeption und Theologie des Altars. Der Regelfall ist jetzt der Altar in Blockform mit geschlossenem Unterbau. Die Deponierung von Reliquien wird zur Voraussetzung für die Altarweihe. Hinten auf den Altar werden z.T. Reliquienschreine gesetzt, die zugleich die Voraussetzung für das Aufkommen von Altarretabeln bilden. Der Liturg muß nun zwischen Altar und Gemeinde amtieren, seine Funktion als Mittler wird optisch betont. Das auffälligste Kennzeichen des Altars vom 13. Jh. bis zur Reformation ist das Retabel und sein bis zum 16. Jh. immer reicher werdender Aufbau und Schmuck. War das Retrotabulum in der Romanik eine bemalte Bildertafel mit einer betonten Hauptfigur in der Mitte, so fasst es nun mehrere Darstellungen in einem Rahmen zusammen. Später bildet sich die vorherrschende Form des Flügelretabels mit einem, oft zwei, manchmal drei beweglichen Flügelpaaren mit bildlichen Darstellungen, welche den Mittelteil, der oft Statuen enthält, verdecken können und die auf den Wechsel der Feste und des Kirchenjahres durch das Bildprogramm Bezug nehmen.

Bei der heutigen Betrachtung von Altarretabeln muß man sich bewusst machen, dass die Innenräume romanischer oder gotischer Kirchen in der Regel nicht sehr hell waren. Die oft sehr kräftigen Farben und die großformatigen Kompositionen der Gemälde sind auf diese Bedingungen berechnet. Die farbig deutlich voneinander differenzierten Gestalten sind auch auf größere Entfernung, wie sie für den normalen Kirchenbesucher üblich war, noch zu unterschieden und zu erkennen. Die Farben entwickeln im dämmrigen Licht eines Kirchenraums dann oft ein eigenes Leuchten, die Figuren scheinen sich vom Grund zu lösen und gewinnen an Körperlichkeit. Im huschenden Licht der Kerzen erscheinen Bilder und Gestalten oft eigentümlich bewegt und belebt.

Der Exkurs soll abgeschlossen werden durch einen kleinen Ausblick auf die Reformationszeit. Die Reformation übernahm fast überall Kirchen mit einer Vielzahl von Altären. Luther bezeichnet den Altar als zum rechten Gottesdienst nicht notwendig, benutzt ihn aber zu Abendmahl und Trauung. Der Ablehnung von Bildern auf dem Altar (1522) folgt die Anerkennung ihrer pädagogischen Wirksamkeit (1525). Der Pfarrer soll nach der "Deutschen Messe" "sich ymer zum Volk keren, wie on zweyffel Christus ym abendmal gethan hat." Nach der lutherischen Lehre ist der Altar der Tisch des Herrenmahls. Praktisch benutzten die Lutheraner die übernommenen Altäre, ließen in der Regel die zahlreichen Nebenaltäre ungenutzt, aber bestehen. Bei den im Gefolge der Reformation geschaffenen Altarretabeln herrscht ein strikt theologisches Programm vor. Die Predella wird von einem Abendmahlsbild eingenommen, das Hauptfeld zeigt die Kreuzigung, seitlich Gethsemane und Ostern, die Rückseite das Jüngste Gericht, der erste Öffnungszustand das Thema Gesetz und Evangelium.

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Und nun zurück zu unserem Rundgang. Im Landgrafenchor finden wir noch zwei weitere Altäre, den Johannes-Altar (1257 geweiht), für den Juppe 1512 einen Flügelaltar schnitzte und der Szenen aus dem Leben und Nachleben Johannes des Täufers zeigt, und einen Altar, der den Heiligen St. Georg und St. Martin. geweiht ist. Die Verehrung des hl. Martin in dieser Kirche ist nicht ohne glaubenspolitische Pikanterie, gab der hl. Martin nach der Legende doch nur seinen halben Mantel ab, während die hl. Elisabeth ihren Mantel ungeteilt den Armen gab. Eine weitere Szene dieses Altars verdient - ob ihre lebensweltlichen Kontextes - ausführlich erzählt zu werden. (Legenda aurea, S. 871)

Bevor ich den Landgrafenchor verlasse, werfe ich noch einen Blick auf das Grabmal Wilhelm II., das ebenfalls um 1500 entstanden ist und in seiner drastischen Inszenierung einigen Szenen des Isenheimer Altars nahe kommt. Das Grabmal stellt den verwesenden Leichnam Wilhelm II. dem wohlerhaltenen Leichnam in voller Rüstung gegenüber, ein Grabtypus, der in der Zeit des "Schwarzen Todes" in Frankreich aufkam.

Ich verlasse nun den musealen Teil der Kirche und stoße kurz vor dem Ausgang auf zwei museale Deposita: den Elisabeth-Altar und den sog. Sippenaltar. Beide stehen hier (etwas deplaziert), weil man die Wandmalereien der Altäre im Elisabethchor, wie sie eigentlich hingehören, nicht verdecken wollte. Beide Altäre stammen von Juppe, beide entspringen einem hagiographischen Bedürfnis: während der Elisabeth-Altar Szenen vom Leben und Sterben der Elisabeth zeigt, konstruiert der Sippen-Altar legendarisch Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den beiden Marien, die Jesu Kreuzigung von ferne zusahen.

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Wie hätte nun ein Betrachter im Mittelalter oder zur Zeit der Reformation die Elisabeth-Kirche wahrgenommen? Rufen wir uns dazu kurz die Funktion der Kirche in Erinnerung. Die Elisabeth-Kirche war keine Gemeindekirche, sie war eine Wallfahrtskirche zu der Grabstätte und den Reliquien der Hl. Elisabeth, sie war zweitens Grablege der hessischen Landgrafen und drittens Gottesdienststätte des Deutschritterordens. Als Predigtstätte war sie der Marburger Pfarrkirche untergeordnet. Erst im vergangenen Jahrhundert wurde die Kirche immer mehr zu einer Gemeindekirche.

Betrachten wir zunächst die vom heutigen Erscheinungsbild abweichenden Wahrnehmungen früherer Betrachter. Jede dieser Differenzen verändert auch den Blickwinkel, unter dem Kunstwerke wahrgenommen und rezipiert werden. Zunächst einmal wäre ihm der freie Blick auf die Elisabeth-Kirche versperrt geblieben. Es lässt sich nämlich zeigen, dass der jetzige Freiraum, der die Kirche umgibt, dass Ergebnis einer bewussten Ästhetisierung und Inszenierung ist. Jahrhundertelang war die Elisabeth-Kirche umbaut von Gebäuden des Deutschritterordens, war zugleich die freie Wahrnehmung der Kirche gar nicht gewährleistet. Wahrgenommen wurde die Kirche sofort im Kontext ihrer Funktion, Gottesdienststätte der Deutschordensritter zu sein. Das heutige Erscheinungsbild ist das Ergebnis einer romantischen Projektion des letzten Jahrhunderts.

Erinnern wir uns: zunächst war mir an der Kirche die grelle Farbigkeit der Türen des Hauptportals aufgefallen. Einem mittelalterlichen Betrachter wäre das nicht so gegangen. Schlichtweg deshalb, weil im Mittelalter die gesamte Kirche so farbig war. Zwar waren auch damals die Türen farblich akzentuiert, stachen aber nicht wie heute von ihrer Umgebung ab. Ein feiner rötlicher Putz überzog die gesamte Elisabeth-Kirche und setzte sie so von der Umgebung ab.

Wir betreten nun mit dem mittelalterlichen Betrachter die Kirche. Die gotische Kathedrale gilt gemeinhin als Wahrzeichen für Gottes Schöpferkraft und Licht, das die ganze Welt erleuchtet und durchdringt. Aber in einer gotischen Kirche war es nicht so hell, wie es uns heute erscheint. Eine Vorstellung von dem Eindruck zu der Zeit, als noch alle Fenster aus farbigem Glas bestanden, gibt der Ostchor, früher der hellste Teil dieser Kirche! Die Helligkeit wurde noch gedämpft durch den farbigen Innenanstrich: Die Flächen der Wände, Pfeiler und Gewölbe glühten in einem hellen Braunrot bis Rosa. An den Kapitellen leuchtete helles Blattwerk vor dunkelrotem Grund. Und die Schluss-Steine im Gewölbe strahlten in Gold, Rot, Blau und Grün. Ihre kräftigeren Farben glichen den größeren Abstand für das Auge aus. Halten wir also fest: eine durchgehende Farbigkeit zeichnete die mittelalterlichen Kirchen aus und beeinflusste die Wahrnehmung der Besucher.

Auch in einem anderen Detail wichen mittelalterliche Kirchen grundsätzlich von unseren Erwartungen ab. In ihnen herrschte keinesfalls jene weihevolle Stille und Gedämpftheit, die uns heute in Kirchen selbstverständlich erscheint. Im Mittelalter waren Kirchen in das Alltags- und Geschäftsleben miteinbezogen. In Augsburg ist die Chorhalle des Doms St. Maria direkt über die Fernstraße "Via Claudia" gebaut worden, so dass an normalen Werktagen Süd- und Nordportal geöffnet waren und die Menschen durch die Kirche gingen um auf die jeweils andere Seite zu gelangen. In Heidelberg ist die Heiliggeistkirche um die Kirche herum von Verkaufsbuden umgeben, in der Lübecker Marienkirche befand sich in einer Seitenkapelle die Schreibstube des öffentlichen Schreibers. Auch in der Elisabeth-Kirche herrschte Hektik und Betriebsamkeit, ging es doch an vielen Tagen so laut und lebhaft zu, dass der Lettner eingebaut wurde, um den Ordensbrüdern einen stillen Raum für ihre Gebetszeiten zu schaffen. Die Akustik des Raumes begünstigte stille Einkehr keinesfalls. Andererseits galt im Mittelalter die Halligkeit einer Kirche als Ausdruck der Erhabenheit des Raumes, die sich der menschlichen Stimme mitteilt und sie steigert.

So eingestimmt hätte ein mittelalterlicher Betrachter das Kirchschiff betreten, in der Regel im Rahmen ein Pilgerprozession vom Westportal zum Elisabethchor, wo er die Kirche durch ein Portal verlassen hätte, das sich heute zugemauert hinter dem Marienaltar befindet. Die beiden Seitenaltäre am Anfang hätte es natürlich nicht gegeben, sie wären einem Menschen des Mittelalters auch äußerst merkwürdig vorgekommen, sind sie doch nicht geostet und auch nicht geschlossen, das heißt in einem religiös völlig unakzeptablen Zustand. Die Kanzel hätte er mitten im Langhaus vorgefunden.

Wahrscheinlich wäre er sehr schnell zum Elisabethchor gegangen, um dort am Mausoleum sein Gebet zu verrichten. Das Mausoleum hätte er völlig anders wahrgenommen, als wir es heute sehen. Zumindest seit Anfang des 16. Jh. war das Mausoleum mit dem Marienaltar an der Schmalseite ausgestattet, das heißt in einen konkreten funktionalen Kontext einbezogen. Machen wir uns auch klar, mit welchen Erwartungen der Pilger diesem Grab gegenübertrat. Nicht nur um die lebende Elisabeth wob sich ein Kranz schillernder Legenden. Auch nach ihrem Tode brach der Erzählstoff nicht ab. Das Kapitel über die heilige Elisabeth in der Legenda aurea umfasst immerhin 22 Seiten (zum Vergleich: der heilige Antonius kommt auf ganze 5 Seiten) und dennoch bemerkt der Verfasser, es gäbe eine weitere Vielzahl von Wunderberichten: "doch müssen wir viele dahinten lassen um der Kürze willen." Die heilige Elisabeth konnte, glaubt man der Legenda aurea, Sieche heilen, Lahme gehend, Blinde sehend machen, Buckel und Kröpfe verschwinden lassen, Gerichtsurteile korrigieren, Gefangene befreien, Teufel austreiben, Tote auferwecken, Ertrunkene wiederbeleben, Menschen ertränken. Viele dieser Erwartungen waren konkret auch an ihr Grab geknüpft.

Wer die hl. Elisabeth an ihrer Grabstelle aufsuchte, kam also in der Regel mit konkreten Nöten und Bedürfnissen. Die Legenda aurea berichtet davon, dass die Pilger mit konkreten Heilungserwartungen zu dem Grab kamen und - im Falle mangelnden Erfolges - regelmäßig den Besuch wiederholten bzw. sich für längere Zeit am Grab einrichteten. Stellte sich keine Heilung ein, führte dies - wieder nach der Legenda aurea - zu konkreten Unmutsäußerungen, so sicher war die Heilungserwartung. Die Legenda aurea berichtet auch von konkreten Heilungserfolgen, die vom Grab ausgingen.

Die Pieta an der Schmalseite des Mausoleums und das Relief an der Tumba waren in diesen Erwartungskontext eingebunden, indem sie für die Bedürftigen und Notleidenden Identifikationsangebote machten. Die Klagefiguren symbolisierten die konkrete Hoffnung auf Erlösung von den Leiden, die Pieta spendete Trost, falls der Erfolg sich nicht einstellte.

Überlieferung, Inszenierung und die konkreten Nöte der Menschen schufen so im Zusammenspiel einen Mikrokosmos, der die Elisabeth-Kirche mit Leben füllte, vergleichbar mit einem orientalischen Basar, nur das hier die Nachfrage nach Erlösung und dem Ende des Leidens mit dem Angebot der Heilung und des Trostes zum Ausgleich gebracht wurden.

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Dieser Kontext ist dem heutigen Besucher verloren gegangen. Er erwartet in der Elisabeth-Kirche keine Erlösung von seinen Leiden, schon gar nicht vom Grab oder Altar der Elisabeth. Dazu hat nicht nur die puristische Reinigung der Elisabeth-Kirche im letzten Jahrhundert, sondern ebenso der Verlust der Autorität der Kirche und der Religion überhaupt beigetragen.

Aber der heutige Besucher kann ebenso wenig wie der mittelalterliche Pilger diese Kirche "unbefangen" besuchen. War der mittelalterliche Mikrokosmos religiös determiniert - durch die religiösen Bedürfnisse, die körperlichen und seelischen Nöte einerseits und das Heilsversprechen durch die hl. Elisabeth andererseits - so ist auch der moderne Mikrokosmos der Elisabeth-Kirche determiniert. Jeder Schritt, den der Besucher in der Kirche macht, ist das Ergebnis einer wohldurchdachten ästhetischen Inszenierung. Ihrer Funktion beraubte Altäre werden dem Besucher als Schmuckstücke einer Kunst-Sammlung präsentiert. Jedes der Werke soll den 100 000 Touristen, die jährlich zur Elisabeth-Kirche pilgern, klar machen, dass er es hier mit einem ästhetischen Gesamtkunstwerk zu tun hat: "Vor dem Verlassen der Kirche lasse man noch einmal die adlige Architektur des Ganzen auf sich wirken! Die höchsten Repräsentanten der damaligen Welt, Kaiser und Papst, vereinigten sich in dem Bemühen, das Zustandekommen dieses großen Kunstwerkes zu fördern als Denkmal der im Namen Christi gelebten fröhlichen Liebe Elisabeths."

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Zuletzt bearbeitet 20.08.2009
© Andreas Mertin