Asche im Herzen - feuchtes Gehirn?

Eine kleine Apologie der biblischen Eva

von Andreas Mertin

aus: "Die andere Eva. Wandlungen eines biblischen Frauenbildes". Menden: Trapez-Verlag 1985

Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben.
Franz Kafka


Die Paradieserzählung in Genesis 2 schildert ein Leben unter idealen Bedingungen: eine Existenz ohne Hunger und Not, im geregelten Wechsel von Ruhe und Arbeit, sozusagen ein konfliktfreies Leben. Der Mensch lebt in Harmonie mit den Tieren, die ursprünglich geschaffen wurden, ihm Partner zu sein und ernährt sich von den pflanzlichen Produkten seiner Arbeit. Mit der Errichtung des Garten Edens hat Gott für das Auskommen des Menschen gesorgt: das erste Menschenpaar lebt unter seiner Aufsicht, er ist der Garant seines Wohlergehens, er entlastet es von den alltäglichen Entscheidungen. Wie eine Mutter hält er beschützend die Menschen in seinen Armen, vermittelt er ihnen das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Ordnung. Ideale Verhältnisse für die menschliche Existenz?

Aber es fällt auch ein Schatten auf die ungetrübte Lebensfreude. Nicht alles unterliegt dem uneingeschränkten 'Du darfst ...', es gibt auch Grenzen im Paradies. Vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen darf der Mensch nicht essen, dieses Wissen hat Gott sich allein vorbehalten. Als Strafe für das Übertreten dieses Gebotes droht der sofortige Tod. Ideale Verhältnisse für die menschliche Existenz?

Das Paradies erscheint in dieser Perspektive einerseits als der geeignete Ort für den, der unter nicht selbstgewählten, aber angenehmen Umständen leben möchte, befreit von all den Sorgen des Alltags, vom Zwang zur Entscheidung, von der Notwendigkeit zur Differenzierung von gut und böse, weil das Paradies in eine feste Ordnung gebunden ist. Dabei wird andererseits deutlich, dass der Mensch, der seine Geschichte selber machen, der für sich Autonomie beanspruchen will, der die Umstände, in denen er lebt, selbst wählen, der aber auch die Konsequenzen seines Handelns auf sich nehmen will, die Lebensordnung des Paradieses aufkündigen und das Paradies folgerichtig verlassen muß.

Ordnung und Freiheit, gesichertes Leben und Autonomie der Entscheidung bilden hier, so scheint die Paradieserzählung nahe zu legen, einen unaufhebbaren Antagonismus. Nur in der festen Ordnung des Garten Edens gilt der Satz von Alexander Pope: Whatever is, is right; hier allein ist der Mensch dem Zwang zur Unterscheidung von gut und böse enthoben. Außerhalb der Ordnung des Paradieses muß diese Unterscheidung immer wieder neu durchgeführt werden, jenseits von Eden gibt es keine Sicherheit.

Der Vergleich Gottes mit einer fürsorglichen Mutter, die die Arme schützend um die Kinder legt, hat aber auch eine Kehrseite, sozusagen eine Negativfolie der Interpretation. Die schützende Umarmung kann auch als einengende Umklammerung erfahren werden, als Verhinderung der Möglichkeit zu freier Entfaltung, als Behinderung menschlicher Emanzipation. Im Gegenzug könnte dann die Überwindung dieses Zustandes als Befreiungsakt angesehen werden, als Versuch, die eigene Geschichte unter selbstgewählten Umständen zu machen. So könnte, was wir traditionell zu Sündenfall konnotieren, auch als erster Schritt zur menschlichen Emanzipation aus der Vorherrschaft Gottes aufgefasst werden. Das lateinische Verb emancipare bedeutet 'aus dem Mancipium geben'. Das Mancipium galt bei den Römern als feierlicher Eigentumserwerb durch 'Handauflegen'. Man kann Emanzipation also auch übersetzen: (sich) aus der Hand befreien. Dieser Interpretation ist vor allem die philosophische der Aufklärung und des Idealismus' gefolgt. Was in der theologischen Tradition als Sündenfall erscheint, ist in der philosophischen die Menschwerdung: Der Griff zur Frucht gilt als Beginn der Emanzipation der Menschheit aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.(2)

So war Eva vor die Alternative gestellt, ein sicheres Leben in fester Ordnung zu wählen, oder sich zu befreien zum Versuch, Geschichte unter selbstgewählten Umständen eigenständig zu gestalten - mit all den daraus entstehenden Folgen. Theologische Rezeptionsgeschichte hat aus der Entscheidung der Eva den Sündenfall gemacht. Wir werden sehen, ob das näherer Betrachtung standhält, oder ob Eva nicht als die andere Eva unter den Verhüllungen der Rezeptionsgeschichte hervortritt.


Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde - alle dummen Männer. Marie von Ebner-Eschenbach


Der erste Schritt zur Verhüllung ist der der Ausgrenzung. Eva soll zunächst reduziert werden um das, was - würde es an ihr nur verdammt - noch zu übermächtig und daher gefährlich ist. Zur Erklärung der beiden einander widersprechenden Menschenschöpfungsakte in Genesis 1 und 2 entstand so in der auBerbiblischen Überlieferung die Erzählung von Lilith, der ersten Frau Adams: "Gott schuf anfangs das Weib aus der Erde und nannte sie Lilith -'Nachtgespenst'. Er gab sie dem ersten Menschen zur Frau. Lilith sah sich dem Adam gleichberechtigt und wollte ihm nicht hörig sein. Sie sprach: 'Du bist in nichts besser als ich. Beide wurden wir aus Erde geschaffen. Ich habe dieselben Rechte wie du und will dir nicht untertänig sein.' Nach einer heftigen Auseinandersetzung wurde sie ihm abtrünnig und lief davon."(2) Die langhaarige (!) Lilith wurde dann zur Dämonin, die "in der Nacht erscheint, um die Wöchnerinnen zu erschrecken, die Säuglinge zu quälen oder zu töten."

Lilith "lauere den Männern auf, hause wie die Eule in hohlen Bäumen, streiche in der Dämmerung mit lautlosem Flügelschlag durch den Wald. Sobald sie jedoch ein passendes Opfer erspähe, nahe sie sich ihm als reizende Dirne. Gehe er aber in ihre Netze, so wisse sie ihn festzuhalten, und da sie mit tierhaf ter Sexualkraft ausgestattet sei, sauge sie ihn aus, bis seine männliche Kraft restlos vernichtet sei. Dann werfe sie den Unglücklichen, den völlig Zerbrochenen, fort."(3)

Lilith wird im Blick auf die 'gefallene', aber in dieser Position gar nicht so unwillkommene biblische Eva zur Negativfolie weiblicher Emanzipationsbestrebungen. Alles was an Frauen unerwünscht erscheint, wird nun auf Lilith projiziert und damit tabuisiert. Gleichberechtigung und sexuelle Emanzipation werden mit der Dämonin Lilith verworfen. Diese Art der Ausgrenzung wird auch heute noch angewandt, etwa wenn in Stammtischdiskussionen das Wort 'Emanze' den Tabubereich unangreifbarer männlicher Domänen bezeichnen soll. 'Emanzen', so tönte es noch vor kurzem in der politischen Debatte, 'wollen wir doch nicht!' Emanzen indiziert dabei die Projektion inverser Geschlechtsverhältnisse. Skizziert wird so der Kern dessen, was 'Mann' nicht verlieren möchte und doch aufgrund rationaler Argumente verlieren müßte: Herrschaft. Lilith beschwört für den männlichen Blick das Schreckgespenst der emanzipierten Gesellschaft, in der die Frau, wie Lilith, ihre Rechte wahrnimmt.

Aber nicht nur schwadronierenden Stammtischchauvinisten wird die sich emanzipierende und die emanzipierte Frau zum Alptraum; auch einem des Chauvinismus' scheinbar unverdächtigen Mann kann der Tagtraum einer feministischen Republik über Nacht zum Alptraum werden. Ein Beispiel dafür ist J. Ch. Gottscheds Beschreibung der Umkehrung der Geschlechterverhältnisse in einem Artikel seiner Frauenzeitschrift Die vernünftigen Tadlerinnen: "Meine Einbildungskraft stellte mir eine Republik vor, die etwa heute zu Tage aus lauter Frauenzimmer aufgerichtet werden könnte. Ich verbannte in meinen Gedanken alle Mannspersonen aus meiner Vaterstadt. Ich besetzte alle Ämter und Bedienungen mit lauter Weibsbildern. Der Rat wurde nicht mehr aus den ansehnlichsten Bürgern, sondern aus den vernünftigsten Bürgerinnen erwählt ... Am allerbesten gefiel mir die Betrachtung einer weiblichen hohen Schule. Dem meinen Bedünken nach waren alle Professorstellen mit Weibspersonen besetzt. Die Jungfern zogen haufenweise aus einer Stunde in die andere ... Und mich dünkt, dass es weit lebhafter und eifriger, als jetzo bey den Männern zugieng."

Soweit die auf Emanzipation zielende Utopie einer feministischen Welt. Gottsched proklamiert im Tagtraum, dass die Frauen zu dem werden, was die Männer schon sind. Doch wie feministisch sich der Tagtraum auch geriert, der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer: "Es war spät und ich ward genötigt mich mit diesen angenehmen Gedanken zu Bette zu legen. Da war es nun ganz natürlich, dass ich Träume haben mußte, die mit dem, was ich bisher beschrieben, einige Verwandtschaft hatten. Es kam mir nämlich eben diese Stadt voller Weibsbilder vor, allein unter einer ganz anderen Gestalt, als sie mir wachend vorgekommen waren ... Auf allen Straßen sah man unzählige Stücke von zerbrochenen Spiegeln liegen: denn man bediente sich derselben nicht mehr ... Ich konnte es mir fast nicht einbilden, dass diese unartigen Creaturen, die ich überall vor mir sah, Frauen seyn sollten. Wo sind, dachte ich bey mir selbst, alle Annehmlichkeiten unseres Geschlechts? Wo ist das holdselige Lächeln der Lippen? Wo sind die blitzenden Augen? Wo sind die verliebten Geberdeo und Mienen?"(4)

Der Mann Gottsched bekommt Angst vor den Gedanken des Aufklärers Gottsched. Im Schlaf der Vernunft führt die uneingestandene Furcht vor der feministischen Emanzipation zur Horrorvision. "Wird das Weibliche verselbständigt, zerspringen die Spiegel. Anders gesagt: im Zusammenhang mit der Programmatik der weiblichen Gelehrsamkeit ist die Inversion der radikalste Ausdruck der geschlechtsspezifischen Egalitätsvorstellungen. An diesem Punkt allerdings wird es bedrohlich: die Spiegel zerbrechen, das so projizierte Weibliche gibt kein Bild mehr zurück, es verliert seine attraktiven erotischen Ingredenzien, es wird zur 'unartigen Creatur' und chaotisiert die Bildwelten."(5)


Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Karl Marx


Jochem Poensgen hat für die Ausstellung Die andere Eva einen Paravent geschaffen, der beispielhaft die Probleme der Beschäftigung mit der biblischen Eva vor Augen führt. Er basiert, wie der Künstler notiert, auf dem ambivalenten Charakter des Paravents, zugleich Schirm und Schutz wie Hürde und Hindernis zu sein. Man blickt auf den Wandschirm, sieht abgelegte Kleider (Verkleidungen?) und fragt sich: welche Eva steht dahinter? Die biblische Eva? Eine andere Eva? Aber es besteht keine Möglichkeit, ein Bild von ihr zu erlangen: "Du hast dir ein Bild gemacht - ich bin es nicht." Der Betrachter sieht sich selbst gefangen, entweder in einem großen Spiegel oder 'hinter Gittern'. Sind wir immer Gefangene der Geschichte und kommen wir nicht über das hinaus, was wir selbst in einen Text hineingespiegelt/interpretiert haben?

Ein Blick in die Rezeptionsgeschichte der Paradieserzählung scheint das zu bestätigen. Die traditionelle christliche Deutung der Paradieserzählung trägt die bezeichnende Überschrift: Der Sündenfall. Nach ihr hat das erste Menschenpaar die Sünde in die Welt gebracht und vererbt sie immer weiter. So ist es in den Hauptlinien der Theologie nicht möglich gewesen, die Paradieserzählung anders als unter der verengten Sichtweise des Sündenfalls zu sehen. Lediglich häretische Bewegungen wie etwa die des Pelagius haben sich vehement gegen solche Interpretationen ausgesprochen. Dabei ist die traditionelle Deutung nicht einmal vom exegetischen Befund gedeckt: "Das entscheidende Ergebnis der Auslegungsgeschichte von Gen 2-3 liegt darin, dass die traditionell-dogmatische Deutung dieses Textes, die die gesamte abendländische Theologiegeschichte bestimmt hat, sich nicht mehr auf die Exegese von Gen 2-3 begründen lässt."(6)

Nicht allein die traditionelle Sündenlehre dürfte es schwer haben mit ihrer Berufung auf die Paradieserzählung, auch jede Charakterdeutung der Eva, die mit dem 'Sündenfall' ansetzt, verfehlt ihr Thema. Etwa wenn Gerhard von Rad die Entscheidung der Eva darin begründet sieht, "dass das Weib den dunklen Lockungen und Geheimnissen, die unser umschränktes Leben umlagern, unmittelbarer gegenübersteht, als der Mann."(7) Derlei haltlose Spekulationen sind freilich nur dann aufstellbar, wenn a priori die Sündhaftigkeit Evas feststeht, mithin ihre Schuld vorausgesetzt und allein noch nach Begründungen für ihr angeblich falsches Verhalten gesucht wird. Auf diese Weise fließt das scheinbare Ergebnis: die Verführbarkeit und die Verführungskraft der Frau, bereits in die Voraussetzungen der Untersuchung ein. Darum ist nicht nur eine "grundlegende Revision der kirchlichen Sündenlehre notwendig" (Claus Westermann), auch das Bild der biblischen Eva bedarf der Korrektur.

Welche Perspektiven werden freigesetzt, wenn Eva nicht mehr unter der Präjudiz der Schuld für den vermeintlichen Sündenfall begegnet? Welche versteinerten Verhältnisse geraten da in Bewegung, wo 'Mann' nicht mehr darüber spekulieren kann, welche 'Abgründe' im Weib zum Sündenfall führten oder welchen 'dunklen Lockungen' Eva als Frau gegenübersteht? Wäre es nicht interessant, sich z.B. mit den Motiven auseinanderzusetzen, die der biblische Text für die Handlung der Eva nennt?

Ziel ist dabei nicht, einen feministischen Gegenmythos zur patriarchalischen Exegese der Paradieserzählung aufzubauen - obwohl auch das reizvoll sein könnte -, vielmehr wäre ideologiekritisch zu zeigen, dass sich in der Erzählung auch andere, auf Emanzipation zielende Züge erhalten haben, mithin Chauvinisten, die sich zur Begründung ihrer Haltung auf die Paradieserzählung und den "Sündenfall" berufen, nur ideologisch, d.h. einseitig auswählend, vorgehen können. Insofern ist das Verdikt, das einige Feministinnen über die Erzählung von Eva und Adam aussprechen zu müssen meinten, zumindest vorschnell. So kann etwa gezeigt werden, dass der Spannungsbogen in Genesis 2 darin besteht, dass ein Werk zunächst nicht, dann aber doch gelingt. Nach der Erschaffung des Menschen stellt sich heraus: etwas stimmt nicht! Erst die zweite Ergänzung läßt das Werk gelingen. "So entsteht ein neues Verständnis des Menschseins: Gottes Geschöpf ist nicht schon der Mensch in seinem Vorhandensein, sondern erst der Mensch in der Gemeinschaft."(8) Darin hat das feministische Bonmot When god made man, she was only testing seinen realen Kern. Nicht dass der Mensch, den Gott zuerst erschuf, ein Produkt eines Irrtums war (wer wollte schließlich unterstellen, dass Gott bei ihrer ersten Menschenschöpfung irrte), vielmehr so, dass der Mensch ohne die Ergänzung durch den Partner nur Stückwerk geblieben wäre.


Hast du Verstand und ein Herz, so zeige nur eines von beiden.
Beides verdammen sie dir, zeigst du beides zugleich.
Friedrich Hölderlin


Welche Eva tritt uns in der Paradiesgeschichte entgegen? Ist Eva, wie eine bekannte Psychagogin meint, allgemein der weibliche Teil in uns: begehrlich, triebhaft, egoistisch, impulsiv, besitzergreifend, einfältig, verführbar? Ist sie als solche Ausdruck der Dominanz des Gefühls, der Naturnähe, der Schönheit, der Ansprechbarkeit, der Spontaneität?(9) Nicht zuletzt gegen solche schablonenhaften Zuweisungen schreibt Theodor W. Adorno: "Der weibliche Charakter und das Ideal der Weiblichkeit, nach dem er modelliert ist, sind Produkte der männlichen Gesellschaft. Das Bild der unentstellten Natur entspringt erst in der Entstellung als ihr Gegensatz. Dort, wo sie human zu sein vorgibt, züchtet die männliche Gesellschaft in den Frauen souverän ihr eigenes Korrektiv und zeigt sich durch die Beschränkung als unerbittlicher Meister. Der weibliche Charakter ist ein Abdruck des Positivs der Herrschaft. Damit aber so schlecht wie diese. Was überhaupt im bürgerlichen Verblendungszusammenhang Natur heißt, ist bloß das Wundmal gesellschaftlicher Verstümmelung ... Die sich als Wunde fühlt, wenn sie blutet, weiß mehr von sich als die, welche sich als Blume vorkommt, weil das ihrem Mann in den Kram paßt ... Die Glorifizierung des weiblichen Charakters schließt die Demütigung aller ein, die ihn tragen."(10)

Befreit von den Verhüllungen der nachparadiesischen Rezeptionsgeschichte erscheint die biblische Eva als kompetente "Gesprächspartnerin der Raupe der Göttin Vernunft", als weiblicher Prometheus, bestimmt von der Erkenntnis, "die wirkliche Ursünde war es gerade gewesen, nicht sein zu wollen wie Gott".(11) Was hat Eva zum ersten Schritt in der Freiheitsgeschichte der Menschheit bewegt? Werfen wir abschließend einen Blick auf die Motive der Eva, die uns in Genesis 3, 6 mitgeteilt werden. "Und das Weib sah, dass von dem Baume gut zu essen wäre und dass er lieblich anzuschauen sei und begehrenswert, um klug zu machen, und sie nahm von seiner Frucht und aß". Was zeichnet Eva vor Adam aus, dass nur sie als Ansprechpartnerin der Schlange in Frage kam?

Die Frucht am Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen war, so wird uns berichtet,

  • gut zu essen,
  • lieblich anzuschauen und
  • begehrenswert, um klug zu machen.

Hinter diesen drei Beschreibungen verbirgt sich ein Programm utopischer Lebensgestaltung: gut zu essen - das meint die Kulinarik, lieblich anzuschauen - das bezeichnet die Ästhetik und begehrenswert, um klug zu machen - das steht für die Intellektualität. Vorgestellt wird so ein Idealbild des Menschen, der seine Sinne für Essen, Schauen und Denken beisammen hat. Das ist nicht die übliche Trennung in niedere (sinnliche) und höhere (geistige) Qualitäten, sondern der Entwurf des ganzheitlichen Menschen.

Kulinarik, Ästhetik, Intellektualität - drei respektable Motive, von denen jedes für sich schon ausreichend Anreiz geboten hätte, vom Baum der Erkenntnis zu essen. "Allenfalls könnte eine moderne Eva die vorplatonische Triade der drei Gründe provokativ durch den antiautoritären Grund überbieten, nach dem Verbotenen zu greifen, weil es verboten ist."(12) Beachtet man zudem, dass nach Genesis 2, 9 die anderen Früchte des Paradieses auch durch Geschmack und.Schönheit ausgezeichnet waren, so ist es wohl vor allem die Kombination mit der Intellektualität, der Möglichkeit zur freien Entscheidung gewesen, die Eva bewog, zur verbotenen Frucht zu greifen. Wir haben es also bei der Eva mit einer ästhetisch gebildeten Frau mit einem Sinn fürs gute Essen zu tun, die zudem noch wie die Schlange - die Gabe mitreißender Rhetorik besitzen rnuß; wie sonst hätte sie Adam, dem zumindest der letzte der drei genannten Sinne - Kulinarik, Ästhetik, Intellektualität abging, den Genuß der Frucht schmackhaft machen können, wußte er doch, daB dieser verboten war?

In der späteren Rezeptionsgeschichte taucht keines der genannten Motive wieder auf - wie sollte es auch, ist doch der weitere Text ein einziges Trümmerfeld patriarchalischer Überlagerungen. Eva wird fixiert auf ihr Mutter-Sein, eine Reduktion,die sich auch in der weiteren Geschichte des Patriarchats als eine der wirkungsvollsten WaIFen der geschlechtsspezifischen Herrschaftsausübung herausstellt.

Die andere Eva aber könnte anknüpfen an ihre paradiesische Vorfahrin - einer kulinarisch und ästhetisch gebildeten Intellektuellen, einer Repräsentantin gelungener Aufhebung der Trennung von Kopf und Bauch.


Anmerkungen

Wichtige Anregungen verdanke ich Jürgen Ebachs Aufsatz 'Liebe und Paradies oder Wider die Denunzierung des Sündenfalls als Sünde der Sexualität'; in: Anstöße 2/83, Hofgeismar 1983; s. auch: Jürgen Ebach, Ursprung und Ziel, Neukirchen/Vluyn 1985

  1. vgl. Ernst Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt 1980, S. 116-120; 231-237
  2. Jüdische Märchen, hg. von Israel Zwi Kammer, Frankfurt 1976, S. 25f
  3. Karl A. Brüning, Die Sache mit Eva - in der Sicht des Vorgeschichtlers; in: Die Sache mit dem Apfel. Eine moderne Wissenschaft vom Sündenfall, hg, v. Joachim Vlies, Freiburg 5/80, S. 25-41, hier S. 39
  4. Johann Christoph Gottsched, Die vernünftigen Tadlerinnen; zit. nach: Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt 1979, S. 101ff.
  5. Silvia Bovenschen, a.a.0., S. 104
  6. Claus Westermann, Genesis 1-11 (EdF7), Darmstadt 1976, S. 37
  7. Gerhard von Rad, Das erste Buch Mose, Kapitel 1-12/9, ATD Bd. 2, Göttingen 6/1961, S. 69-83
  8. Claus Westermann, a.a.0., S. 31
  9. vgl. Christa Meves, Austreibung als Anstoß zur Reife; in: Die Sache mit dem Apfel, a.a.0., S. 56-67
  10. Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt 1951, S.119-121 (Seit ich ihn gesehen)
  11. Ernst Bloch, a.a.0., S. 232
  12. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt 2/1984 (insbes.: Die Mythe vom Sündenfall (Gen 3), literarisch interpretiert, S. 437-451), hier S. 440

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